Mittwoch, 14. Juli 2010

Das Schweigen des Philosophen

Ein unerhörter Hilfeschrei nach Königsberg

Kant erhielt viele Briefe von Leserinnen und Lesern der "Metaphysik der Sitten". Einige missverstanden ihn so, dass sie vom Autor der praktischen Vernunft praktische Lebenshilfe erwarteten. Aus Klagenfurt schrieb ihm 1791 Fräulein Maria von Herbert, die dem Mann, den sie liebte, die Wahrheit gestanden hatte, weil man ja die Wahrheit sagen muss. Die Wahrheit war - was sie ihm verschwiegen hatte - , dass sie vor ihm auch einen anderen geliebt hatte:

Großer Kant.
Zu dir rufe ich wie ein gläubiger zu seinen Gott um Hilf, um Trost, oder um Bescheid zum Tod, hinlänglich waren mir deine Gründe in deinen Werken vor das künftige seyn, daher meine Zuflucht zu dir, nur vor dieses leben fand ich nichts, gar nichts, was mir mein verlohrenes Gut ersezen könnt, den ich liebte einen gegenstand der in meiner Anschauung alles in sich faste, so das ich nur vor ihn lebte er war mir ein gegensaz vor das übrüge, dan alles schien mir ein Tand und alle Menschen waren vor mich wie auch wirklich wie ein gwasch ohne inhalt, nun diesen gegenstand hab ich durch eine langwirige lug beleidigt, die ich ihn jezt entekte, doch war vür mein karakter nichts nachtheiliges darin enthalten, dan ich habe kein laster in meinen leben zu verschweigen gehabt, doch die lug allein war ihn genug, und seine liebe verschwand (...) o mein Herz springt in Tausend stük, wen ich  nicht schon so viel von ihnen gelesen hätte, so häte ich mein leben gewis schon mit gewalt geändet, so aber haltet mich der schlus zurük den ich aus ihrer Tehorie ziehen muste, das ich nicht sterben soll, wegen meinen quelenden leben, sonden ich solt leben wegen meinen daseyn, nun sezen sie sich in meine lag und geben sie mir trost oder verdamung, metaphysik der Sitten hab ich gelesen samt den Kategorischen imperatif, hilft mir nichts, meine Vernunft verlast mich wo ich sie am besten brauch eine antwort ich beschwöre dich, oder du kannst nach deinen aufgesezten imperatif selbst nicht handeln.

(Kant, Briefwechsel, hrsg. v. O. Schöndorrfer/R. Malter, Hamburg 1986)

Der große Mann hatte dazu nichts zu sagen. 

Im Alter von 23 Jahren ertränkte sich Maria von Herbert.


David Lynch: Distorted Nudes
(aus: David Lynch: The air is on fire, Fondation Cartier, Paris 2006)

6 Kommentare:

  1. Herrje, was soll der arme Mann machen, wenn ein hysterisches Weibsbild, das nicht mal richtig schreiben kann, ihm irre Brief schickt. Gab damals halt auch schon Stalker, Melusine!

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  2. Liebe Melusine,
    Kant hatte der Maria sehr wohl geantwortet. Das geht auch aus ihrem zweiten(!) (und dritten) Brief an ihn hervor. Von dieser Antwort ist allerdings nur ein Entwurf überliefert, nicht das Original.

    Ob Kants Brief mit dem Entwurf identisch war, weiß man aber nicht. Die folgenden Briefe Marias zeigen aber, daß ihr Inhalt bzw. seine Argumentation dem Entwurfstext entsprochen haben muß.

    Ihr Suizid dürfte auch auf tieferliegenden Bewegungen ihrer psychischen Disposition beruht haben. Sie ist keineswegs nur an dem Verlust des Geliebten zerbrochen und an den erheblichen moralischen Problemen, die diese hochsensible junge Frau mit Hilfe der ethischen Abhandlungen Kants zu bewältigen suchte. Und erst recht nicht auf der Antwort Kants, obwohl darin deutlich wird, daß er den konkreten Problemen sinnlichen Lebens äußerst hilflos, sogar verständnislos gegenüber war.

    Die Briefe sind auch online editiert im Bonner Kant-Korpus:
    M an K
    http://www.korpora.org/kant/briefe/478.html
    K an M
    http://www.korpora.org/kant/briefe/510.html
    M an K
    http://www.korpora.org/kant/briefe/554.html
    M an K
    http://www.korpora.org/kant/briefe/614.html

    Hier auch eine interessante Abhandlung darüber:
    http://homepages.ed.ac.uk/rhl/maria.html

    Dem Kommentator "Anonym" möchte ich entgegenhalten, daß man doch vorsichtig sein sollte mit "irre Brief" und "nicht mal richtig schreiben kann", wenn man offenbar mit dem österreichisch vom Ende des 17. Jhdts nicht vertraut ist.

    Das "hysterische Weibsbild" hatte immerhin Kants sämtliche Werke durchgeackert. Das war für eine 20-jährige Frau in dieser Epoche keineswegs selbstverständlich. Insbesondere eben die auch bis heute fundamentalen Schriften zur Ethik, die eine nicht unerhebliche intellektuelle Energie und Kapazität voraussetzen.

    Überragende intellektuelle Feinsinnigkeit, hier gepaart mit einer zweifellos vorhandenen emotionalen Instabilität sind noch lange keine "Hysterie".

    Es grüßt
    Metapher

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  3. Lieber Metapher, ich weiß, dass er auf die ersten Briefe geantwortet hat; jedoch, meine ich, hatte er d a z u nichts zu sagen, zu dem, worum es ihr ging. Ich wollte keineswegs durch diese Aussage Kant die "Schuld" an Maria von Herberts Selbstmord geben. Das wäre absurd.

    Die "Metaphysik der Sitten" hat aber zur LIEBE nichts zu sagen. Kants Ethik will sich auf diese ja gerade - mit guten Argumenten - nicht stützen. Dass aber die Liebe in einem menschlichen Leben eine der wesentlichen Motivationen ist und wie dies auszuhalten sei, wenn es kollidiert mit einem allgemeinen Moralgesetz (z.B. dem Verbot zu lügen), darauf hatte er - wie ich auch - keine Antwort. Ein ähnliches Problem ist ja vielfach diskutiert worden am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit dem Fall eines Freundes, der vor einem Mörder Hilfe sucht. Sie kennen das sicher.

    Ich denke, es ist kein Zufall, dass Kant sein Herz an keinen bestimmten anderen Menschen band und (soweit wir wissen) keine Kinder zeugte. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen, allein: Wer liebt, tut Unrecht, weil ihm/ihr, wie Maria schreibt, alle "Übrügen" gleichgültig(er) werden. Wer liebt, kann nicht "gerecht" sein.

    Herzlichen Gruß
    Melusine

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  4. So ist es, Melusine. Die Philosophie der Deutschen Klassik und Romantik tat sich sehr schwer im Umgang mit der Sinnlichkeit und der Emotionalität. Gerade deshalb, weil sie sich jeder Kategorisierung und jeder ethischen Norm zu entziehen vermag. Genau den Punkt sah ja Maria: Liebe - ob als Begierde, als Sehnsucht, als Leiden oder Verzweiflung bringt den kategorischen Imperativ zu Fall.

    Erst Fichte brachte mit seiner Ich-Philosophie einen Wandel. Aber er koppelte Liebe noch eng an die Ehe, wodurch sie eine Kategorie der Ethik wurde. Auch der junge Hegel tat das in seinem imponierenden Aufsatz über die Dialektik der Liebesbeziehung. Einen entscheidenden Schritt aber brachte in der Philosophie erst Schelling mit einem grundlegenden Wandel im Begriff der Subjektivität (Liebe als "Alles in Allem" usw).

    Man kann durchaus sagen, daß sich die philosophische Klassik dem Begriff der Liebe entzog. Und es läßt sich nicht übersehen, daß das auch daran lag, daß den "großen" Philosophen Sinnlichkeit und Leidenschaft als subjektives Erleben auch persönlich fremd war. Mit Schelling war das bekanntlich ganz anders.

    Thematisiert wurde dieser Konflikt zwischen Pflicht und Neigung (Schiller) - oder anders gesagt: zwischen ethischer Kategorie und Leidenschaft - allerdings explizit in der Dichtung. Liebe war eben ein Skandal. Und Schiller ("Kabale und Liebe"), Kleist, Büchner, Hölderlich, Novalis, Schlegel ("Lucinda") bereiteten diesem Skandal ein nicht mehr übersehbares literarisches Biotop.

    Aber das war ja auch schon die Zeit, in der die Frauen wortmächtig auf die literarische Bühne traten: Günderode, Charlotte v. Stein, George Sand ...

    Ach, was für ein spannendes Unterfangen, diese Linien nachzuziehen von Kant bis Ibsen, Strindberg ...

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  5. Ja, das ist spannend und wie sehr freue ich mich über diesen Beitrag, der auch mir diese Linien ins Gedächtnis ruft. (Allerdings muss ich gestehen, dass ich die romantische Philosophie, anders als die Literatur nur sehr auszugsweise kenne.)

    Kennen Sie das schöne Buch von Peter von Matt: "Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur" - Da wird beschrieben, wie die Liebe in Deutschland zur Gegenreligion in der Literatur wird: "...die Landschaft der deutschen Literatur ist übersät mit den Leichen schöner Menschen, begeisterter, gefühls- und denkfähiger Wesen, in denen die Liebe als der in die Welt ausgegossene Gott sich selbst erfuhr und anheben wollte, das geknechtete, verkropfte und verkrüppelte Land zum irdischen Paradies umzuschaffen. Eine Unternehmen, grandios und lächerlich, tragisch und grotesk. Lockert sich doch kein Nagel auf Hohenasperg. Was Hölderlin schon im Sommer (!) 1795 an Schiller schreibt, gilt weit über ihn:

    ´Ich friere und starre in den Winter, der mich umgibt.
    So eisern mein Himmel, so steinern bin ich.´"

    Liebes-Religion statt Revolution - das geht nicht. Das hat uns einen hohen Preis gekostet. Schlimmer noch, wir haben andere einen hohen Preis zahlen lassen.

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  6. @MelusineB:
    Ich hatte das Glück, bei von Matt studieren zu können. Bei ihm habe ich auch meine Abschlussarbeit geschrieben. Die mündliche Prüfung werde ich nie vergessen: Er legte mir einen Vierzeiler von Kleist vor und bat mich, anhand dieser Zeilen das Marionettentheater zu rekonstruieren und zu begründen. Es war die intensivste und beglückendste halbe Stunde, die ich an der Uni verbrachte.

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