Samstag, 13. November 2010

KANNIBALISCHER SEX: Verdinglichung und Lust

Über Kants Thesen zur Sexualität in der "Metaphysik der Sitten"

Das fleischliche Begehren, das Menschen zueinander hinzieht und sie dazu bringt, sich gegenseitig Lust zu bereiten, war dem Königsberger Philosophen Kant eine „viehische Beiwohnung“, die „im Grundsatz“ kannibalisch sei, schrieb er in der „Metaphysik der Sitten“. Man ist versucht, Kants Überlegungen zur Sexualität einfach als Abwehr von einem abzutun, dem der Gebrauch der Geschlechtsorgane deshalb unheimlich war, weil er Probleme beim Gebrauch der seinen hatte oder hätte haben können. Seine Wortwahl, in der Tat, drückt geradezu Ekel gegenüber sexueller Praxis aus. Das wirkt auf jede, die Sexualität genießen und Lust empfinden kann, abschreckend. Dennoch lohnt es sich – wie eigentlich immer, so auch hier – die Kantsche Argumentation nachzuvollziehen.

Aus Kants Sicht kann der nicht messbare Wert des Menschen (der eben deshalb kein reiner Gebrauchs- und Nutzwert ist) nur geachtet werden, wenn der Mensch vom anderen Menschen nicht unmittelbar als Person Gebrauch macht. Daher dürfe kein Gebrauch, den eines vom anderen mache, „einen Abbruch an der Persönlichkeit“ bewirken. Das heißt: Ich darf beim Bäcker Brötchen kaufen und mir vom Fliesenleger Fliesen legen lassen, weil ich sie – halte ich  Bäcker und Fliesenleger nicht als Sklaven und bezahle sie so ordentlich, dass ihnen neben Brötchen backen und Fliesenlegen auch noch Zeit und Gelegenheit für selbstbestimmtes Denken und Handeln bleibt -  nicht in ihrer Persönlichkeit beschädige, indem ich ihre Zeit oder ihre Talente nutze. Kants ganze Argumentation gegen den wechselseitigen Gebrauch  beim Sex hängt daran, dass er für die sexuelle Praxis annimmt, die Nutzung der Geschlechtsorgane des anderen lasse diese oder diesen in seiner Persönlichkeit nicht unbeeinträchtigt. Den anderen, die andere zu nutzen, meint Kant, muss „moralisch notwendig“ sein. Diese Notwendigkeit könne nun allenfalls für die Zeugung zur Erhaltung der Art behauptet werden. Die sexuelle Vereinigung zur bloßen Erzeugung von Lust dagegen könne dieser Bedingung niemals genügen: „Der Mann kann weder das Weib begehren, um es gleich als Sache zu genießen, d.i. unmittelbares Vergnügen an der bloß tierischen Gemeinschaft mit demselben empfinden, noch das Weib sich ihm dazu hingeben, ohne dass beide Teile ihre Persönlichkeit aufgeben (fleischliche oder viehische Beiwohnung)“. Der körperliche Gebrauch, den beim Sex eines vom anderen mache, "entmensche" beide: „Ob mit Maul und Zähnen, der weibliche Teil durch Schwängerung, und daraus vielleicht erfolgende, für ihn tödliche, Niederkunft, der männliche aber durch, von öfteren  Ansprüchen des Weibes an das Geschlechtsvermögen des Mannes herrührenden Erschöpfungen aufgezehrt wird, ist bloß in der Manier zu genießen unterschieden“. Daraus schließt Kant, dass Sex zur Lustbefriedigung unzulässig sei. Diese Amoral könne nur geheilt werden durch den bürgerlichen Ehevertrag, in dem sich die Partner an den je anderen dauerhaft zum Gebrauch der Geschlechtsorgane „verkauften“,  jedoch durch die auf Dauer angelegte Wechselseitigkeit und Exklusivität gleichsam wieder in den Besitz der eigenen Sexualität gelangten.

Muss man das als eine geradezu groteske ideologisch motivierte Rechtfertigung des bürgerlichen Ehemodells lesen? Will also Kant bloß in vorauseilendem Gehorsam die bürgerliche Moralvorstellung (nicht die faktische Praxis) durch eine gedankliche Verrenkung legitimieren? Oder ist was dran, am Kantschen Gedankengang, das auch heute noch bedenkenswert wäre?

Drei Thesen stecken m.E. in Kants krudem Text:

1. Die Sexualität ist untrennbar Teil der Person; sexuelle Handlungen sind daher nicht mit beliebigen anderen Handlungen (Arbeiten) gleichzusetzen. Wie ein Mensch seine Sexualität mit anderen Menschen lebt, bestimmt sie/ihn als Person wesentlich (d.i. „in seinem Wesen“). Daher ist im sexuellen Bereich in besonderer Weise die unbedingte Willens- und Handlungsfreiheit zu gewährleisten.

2. Im sexuellen Akt entäußert sich der Mensch, indem er sich gänzlich aufgibt, dessen, was für Kant seine Menschlichkeit ausmacht: seiner Vernunft. Er begibt sich freiwillig seines freien Willens. Kant würde sagen: Beim Sex wird der Mensch zum Tier. Andere fassen, was da geschieht oder geschehen kann, als „den kleinen Tod“. In jedem Fall gerät oder kann der Mensch „außer sich“ geraten. In diesem Zustand ist er/ist sie zugleich außerstande das Menschsein des Anderen (im Sinne Kants) wahrzunehmen.

3. Weil und wenn beide im geglückten, das heißt befriedigenden sexuellen Akt einander und sich selbst „entmenschlichen“, in anderen Worten: „verdinglichen“, bedarf es besonderer Schutzmaßnahmen, um diese Entmenschlichung nicht zu manifestieren und die Gleichberechtigung beider Partner sicherzustellen, so dass nicht eines das andere dauerhaft hierbei sich zum Gebrauch unterwerfe. Kant schlägt als solchen Schutz die bürgerliche Vertragsehe vor.

Die erste These ist zweifellos strittig. Sie bestreitet, wenn man sie ernst nimmt, dass sexuelle Handlungen Dienstleistungen wie alle anderen sein können. Dies beträfe alle Formen der „käuflichen Sexualität“, also der Prostitution. Und zwar wären beide, Käufer und Verkäufer der sexuellen Handlung hiervon gleichmäßig betroffen. Indem sie der eigenen oder der Sexualität des anderen (oder Teilen von ihr) einen Preis geben, verletzen sie nach dieser Lesart sich selbst und einander in ihrer Würde. Was Kant nicht gesehen hat (oder nicht sehen wollte), ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die bürgerliche Ehe, die hiervor retten soll, in der Praxis selbst eine Form der Prostitution war (und teilweise noch ist). Der Preis wird zwar nicht immer klar genannt, doch ist unterschwellig einseitiger oder wechselseitiger Gebrauch zu sexuellen Handlungen im Austausch gegen materielle Sicherung  Teil des Vertragssystems.

Die zweite These ist meines Erachtens die interessanteste. Denn Kant erkennt hier, was auch nach meiner Überzeugung das Wesentliche der Sexualität ausmacht: dass im sexuellen Akt der Mensch sich seiner Vernunft begibt. Dafür findet die Sprache Bilder: sich vergessen, sich ergeben, sich hingeben, außer sich sein, sich verlieren. In keinem Bild kann der Höhepunkt als „Sieg der Vernunft“ begriffen werden, sondern immer geht es um eine Erfahrung, die diesem geradezu entgegen steht. Das musste Kant, der enthusiastisch „den gestirnten Himmel über sich und das moralisch Gefühl in sich“ feierte, zutiefst beunruhigen. Denn mit dieser Selbstentäußerung, er spürte es wohl, ist ein ungeheures Glücksmoment verbunden. Sich zu entgrenzen oder in Kants Sinne: sich zu verdinglichen und dem anderen nur noch Objekt zu sein oder diesen als Objekt zu erfahren, ist ganz offenbar ein überaus kostbarer Bestandteil des Sexuallebens. Es ist gerade der Kontrollverzicht der den unbezahlbaren Wert dieser Erfahrung ausmacht. Das führt zu einem Paradox: Der freie Wille wählt den Verlust der Willensfreiheit. Wäre das so, dann – in der Tat – hätte der Philosoph der Vernunft die Sexualität zu fürchten, als etwas, was die Vernunft ganz grundsätzlich in Frage stellt. Ein unaufhebbarer Widerspruch täte sich auf, der zugleich Ursprung wäre, behaupte ich, allen Strebens nach Schönheit (die dann eben nicht zugleich auch „wahr“ und „gut“ im Kantschen Sinne sein könnte.)

Die dritte These Kants halte ich für richtig, nicht jedoch die Schlussfolgerung, die er zieht. Wenn Sexualität uns die Möglichkeit eröffnet, aus unserem „Menschsein“ herauszutreten, uns also, indem wir uns aufgeben, völlig (einem anderen) zu öffnen, dann braucht, wer  sich so unbedingt einem anderen ausliefert, in der Tat Schutz. Dass dieser Schutz nicht durch die bürgerliche Ehe gewährt wird, die im Gegenteil diesen (die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen) historisch sogar verhindert hat, ist – denke ich – offensichtlich. Dennoch ginge es darum, Menschen so zu bilden, dass sie mit Sexualpartnern in besonderer Weise achtsam umgehen, gerade um die Erfahrung unbedingter Hingabe in der Sexualität zu ermöglichen. Das hieße auch, alle Formen von Tauschgeschäft im Zusammenhang mit Sexualität zu vermeiden (u.a. die emotionale Erpressung). Dies muss nicht zwingend in einem Plädoyer für die Monogamie münden. Es setzte aber voraus, dass Sexualität in Beziehungen stattfindet, die vertrauensvoll sind und nicht den Marktgesetzen unterliegen.   


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9 Kommentare:

  1. Immer der gleiche moralinsauere Ton, Frau Barby. Keine One-Night-Stands, natürlich, usw. usw.

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  2. Der scheint dich zu mögen, liebe Melusine, dieser Blödel-Dödel-Ich-bin-eine-feige-Sau-Anonym, immerhin kann er von dir nicht lassen, was für die Stärke deiner Texte spricht.

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  3. Ja, man weiß nicht, was ihn umtreibt. Man könnte allenfalls spekulieren...

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  4. Ich habe, obgleich ich in der Bibliothek bin, den Kant nicht zur Hand. Zum einen fällt mir aber ein, daß es zeitgleich auch andere Ansichten gab, man denke etwa an Friedrich Schlegels "Erotische Sonette", zum anderen, daß Kant bei der Anwendung seiner Systemphilosophie auf die Sexualität das Danach und damit die Scham unberücksichtigt läßt, also das Wiederaufflammen der Vernunft (was habe ich nur getan, wie konnte ich nur, war doch sehr schön, aber was wird nun daraus etc.pp.). Erst so definiert sich doch der Mensch als vom Tier unterschiedenes Wesen, obgleich das Triebhafte und Leibliche beiden zugehörig ist. Hat Kant das bedacht?

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  5. Hat Kant das bedacht? Ich denke, er bedachte es wohl, andernfalls wäre ja seine Aufforderung sich unter das Dach der Ehe zu begeben ohne Sinn. Er erwartete (oder gab vor zu erwarten), dass die Erfahrung der Verdinglichung (besser noch allerdings: die Vermeidung der Erfahrung durch logisches Denken) einen jeden vernünftigen Menschen zu der Einsicht zwänge, dass die Scham über den Kontrollverlust im Akt hernach zwar unvermeidlich, jedoch im Schutz der Ehe erträglich sei. Das ist natürlich Quatsch.

    Was mich interessierte (und weiter beschäftigt) ist, was Kant - widerwillig und geradezu entsetzt - feststellt: dass die Verdinglichung im Geschlechtsakt als schön und notwendig erfahren wird und dass sie absolut ist (oder sein kann) - Dies unterscheidet den "Gebrauch der Geschlechtsorgane" vom - beispielsweise - Gebrauch der Hände beim Brötchen backen: dass man sich außerhalb der Vernunft stellt und stellen will und dies uneingeschränkt.

    In einer zurückliegenden Epoche hätte man mit Kant gegen Kant vor allem die Prostitution, die sich Ehe nennt, bekämpfen müssen, denke ich. Kritisches Denken heute kann (und sollte sich m.E. mit Kant gegen Kant) gegen eine Kommerzialisierung der Sexualität wenden, die sich als Befreiung allenfalls noch tarnt.

    Die Überschreitung des reinen Triebes, also die Erotisierung, für die Sie Schlegel als Gewährsmann nennen, ich glaube, sie ist nur möglich in einem dialektischen Verhältnis von "unter Druck setzen" (d.h. Kontrolle) und "Entladung" (d.h. Kontrollverlust). Ein "romantischer" Eros also braucht die moralische Begrenzung (der "Aufklärers"), um sich an ihr zu entzünden bzw. zu entgrenzen. Darüber habe ich in anderem Zusammenhang mal geschrieben, falls es Sie interessiert. Da die Links in den Kommentaren nicht funzen, setze ich den Link unter den Artikel "I don´t want to change a thing when it´s magic".

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  6. Nur ganz kurz (weil hungrig und müde): Ich stecke meine Nase öfter in die Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts, sowohl wissenschaftlich (ich hab dazu mal ein Seminar gegeben: "Tugendhafft, Lasterhafft, Indifferent? Zur Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts") als auch literarisch (aktuelles Romanprojekt, aus dem aber trotzdem kein historischer Roman wird). Im Grunde ist ja die ganze Epoche erotisch aufgeladen, was eben auch heißt, daß dagegen geschrieben und vor allem auch gepredigt wurde. Ich werde mir die Tage Ihren Text mal durchlesen!

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  7. "Sie verpassen mit Ihren Vermutungen die Stringenz des kantischen Gedankenganges.
    Selbst als Inhaltsangabe ist Ihre Äusserung unbrauchbar. Einem Studenten würde ich vom Studium abraten."
    Diesen Kommentar fand ich heute morgen unter diesem Post - und ich habe ihn gelöscht. Zur Erklärung: Ich lösche anonyme Kommentare immer, wenn die Beiträger ohne Argument und ohne Absender nur mal ihre Meinung zum Besten geben wollen. Wer sich die Mühe nicht machen mag, seine Ansichten zu begründen, soll twittern oder bei Facebook schreiben.

    Mich hätte schon interessiert, wie dieser Beiträger den Kantschen Text versteht. Dazu will er sich aber offenbar nicht äußern.

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  8. Nur eben zweierlei nachgetragen, kurz, weil ein hiermit zusammenhängender Komplex gerade >>>> dort diskutiert wird:
    1) Das ekstatische Moment, das selbstverständlich die vernünftige Moral eines autonomen Ichs quasi durchstreicht, teilt das Sexuelle mit dem Religiösen. So gesehen ist jeder berauschende Sexualakt eine Gotteserfahrung. Wenn diese unter einem Normsystem steht, wie etwa der Markt es bereitstellt, kann man von einer Kirche und von Ritus sprechen. Genau das entspricht bestimmten Abläufen in der pornografischen Filmindustrie, bzw. Erwartungen seiner Konsumenten.
    2) Es ist höchst fraglich, ob überhaupt irgend ein Lebensbereich nicht von den Bedingungen des Marktes als der Schöpfung des Menschen denkbar ist (bestehend aus vorsorgender Produktion bis hin zur überhaupt erst schaffenden Bedürfniserzeugung, kurz der Veränderung von Welt).

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    1. Darauf habe ich in Die Dschungel

      eine - zugegeben - rasch formulierte Antwort zu geben versucht.

      Es gibt zu dem Thema einen wunderbaren Aufsatz von Martha Nussbaum in "Konstruktionen des Begehrens, der Liebe und der Fürsorge", in dem sie beschreibt unterschiedliche Texte analysiert, die sexuelle Verdinglichung thematisieren. Interessant daran ist, dass aus ihrer Perspektive nicht der pornographische Text ("Geschichte der O.) die gefährlichste und totalitärste Form der Verdinglichung beschreibt, sondern Henry James in "Die goldene Schale".

      Mir scheint das zutreffend. Erinnern Sie sich, dass Sie mir einmal erzählten, nichts habe sie so wütend machen können, wie der Satz Ihrer Mutter: "Jeder hat seinen Preis." ( ! )

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