Montag, 29. November 2010

PUNK PYGMALION (4)

Fortsetzung des Briefromans Punk Pygmalion


Im Sommer 1983 trafen sich in Berlin die 17jährige Emmi und ein junger Mann namens Ansgar, der in Kopenhagen Wirtschaftswissenschaften studierte, aber eigentlich Bildhauer werden wollte.  Was genau zwischen ihnen geschah, erzählte mir Emmi nie. Ansgar schrieb ihr rohe Briefe, mit denen er sie in einen Punk verwandelte. Warum und wie die Leidenschaft erlosch, erfuhr ich damals nicht. Vor einem Monat  jedoch besuchte ich Emmi in Berlin (siehe Teil 1). Im Juni hatte sie sich von ihrem Lebensgefährten getrennt; die Kisten waren gepackt; sie zog zurück nach Hamburg, wo sie viele Jahre gelebt hatte. Sie erzählte mir, dass sie im Umzugschaos Ansgars Briefe aus den 80er Jahren gefunden habe und schlug vor, sie als "Punk Pygmalion"-Briefroman auf "Gleisbauarbeiten" zu veröffentlichen. Drei Briefe sind bisher erschienen:
Teil 1: Hier
Teil 2: Hier
Teil 3: Hier
Und für den 5. Dezember 2010 ist ein Wiedersehen zwischen Emmi und Ansgar angekündigt...
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Vergangene Woche kam Emmi nach Frankfurt. Sie hatte an einem Seminar in Kassel teilgenommen. Emmi ist - ganz im Gegensatz zu mir - eine passionierte Autofahrerin, die es liebt, richtig Gas zu geben. Dieser unpraktische Zweisitzer mit dem Schiebedach, den sie fährt, hat kaum Platz für Gepäck und wäre so ungefähr das Letzte, wofür ich Geld ausgäbe. Aber ich räume ein, dass ich mich gerne auf den Beifahrersitz des Sportwagens klemme, um eine Spritztour zu unternehmen. Das hat schon was, mit Emmi über die Landstraßen zu brausen. Im Sommer, wenn man das beige Schiebedach herunterlassen kann, und das Haar im Wind weht, macht es freilich noch viel mehr Spaß als jetzt im kaltfeuchttrüben November. Wir fuhren nach Sachsenhausen hinüber, um im Coq au vin französisch zu essen. Emmi hatte den Schuhkarton mit Ansgars Briefen mitgebracht: „Ich vertrau dir. Veröffentliche sie so, wie du es für richtig hältst. Ich sehe schon, in welche Richtung das geht.“ Sie lächelte. „Was ich ändere, meinst du?“ „Ja, du machst das ganz geschickt. So, dass es stimmt und doch völlig anders klingt, als es war.“ „Du weißt nicht, wie es für ihn war. Nur, was er darüber schreibt.“ „Das stimmt.“ „Und ich weiß nicht, wie es für dich war, Emmi. Nur, wie es für mich ist.“ Sie nickte. „Ich fürchte mich vor dem Wiedersehen nächste Woche.“ „Warum?“ „Weil er immer noch Macht über mich hat.“ „Aber nicht mehr so, oder?“ Ich hatte einen der Briefe herausgezogen und deutete auf einen Absatz. Emmi las nach. „Mein Vater hätte mich beinahe geschlagen, weißt du noch?“ „Wir waren alle schockiert.“ „Er schrieb das und ich tat es. Jahrelang lief ich so rum, fast ein Jahrzehnt.“ „Ja, sogar als ihr längst getrennt ward.“ „Ich habe immer an ihn gedacht, weißt du. Gehofft, dass es mich noch einmal so erwischt, wie mit ihm. Obwohl es schrecklich war.“



November 1983

Liebe Emmi,

ich hoffe, dass du niemals meinen Kopf abschneiden wirst, weißt du das? Manchmal träume von dir und dann habe ich die Vorstellung, dass es genau das ist, was du mit mir machen würdest, wenn du könntest. Ich weiß, das klingt furchtbar, aber ich schreibe es auf, damit du verstehst, was in mir vorgeht. Emmi, ich stelle mir vor, dass wir einander in unsere Alpträume begleiten, verstehst du, und du bist mein Alptraum und meine Erlöserin, du führst mich durch die Hölle und katapultierst mich in den Himmel. Ich werde dich verbrennen und deine Asche wird fliegen bis ins All. Wir können Götter sein, Emmi, glaub mir.

Ich versuche dauernd, dir zu schreiben, in meinen Gedanken sowieso immer, aber auch auf dem Papier. Es kommt nicht viel dabei heraus; ich verzweifele daran, dass ich dich nicht hier haben kann und mit meinen Armen umschließen, bis du keine Luft mehr bekommst und begreifst, was ich dir sagen will, nämlich: dass du zu mir gehörst. Ich weiß genau, dass Worte nicht können, was ich dir mit meinem Körper einfach zeigen kann, so dass kein Zweifel bleibt, Emmi. Die Liebe ist so: Sie hat nichts mit Worten und Überlegungen zu tun oder damit, ob eine zu einem passt oder nicht oder die Umstände.

In den vergangenen Wochen habe ich mich von meinen Freunden und meiner Familie fern gehalten; ich brauchte die Einsamkeit. Wenn ich durch die Straßen gegangen bin, habe ich beinahe erwartet, dass mich jemand niederschießt. Ich war das Ziel, der einzig mögliche Treffer, das schien mir so einleuchtend, verstehst du? Ich wollte es ihnen leichter machen und färbte mein Haar ganz schwarz. Es hat mir viel Ärger eingebracht, wie du dir vorstellen kannst, aber ich bedauere es nicht. Und deshalb, Emmi, bitte ich dich: Du musst das auch tun, färbe dein Haar schwarz, schneide es kurz, tu es für mich, damit wir auf diese Weise zusammen sind. Ich hatte überlegt, ob ich eine hellere Farbe wähle: pink oder grün oder purpurrot. Doch ich weiß ja, wie du leben musst. Ich möchte, dass du mir gleichst, aber ich will dir nicht zu viel zumuten. Wirst du es tun? Bitte, Emmi, lass mich nicht im Stich.

Du schreibst, es sei schwer erwachsen zu werden, und aus jeder Zeile sehe ich, wie viel Einfluss deine Eltern auf dich haben. Für mich fühlt sich das an, als seien deine Eltern meine Feinde, wenn sie dich zwingen wollen, ihr Leben zu leben. Ich glaube, ich habe dir schon damals in Berlin mein Verhältnis zu Hass und Angst erklärt. Ich möchte beide in mir töten, aber ich weiß, dass ich es nicht kann. Ich lerne, sie zu benutzen, um mich voranzutreiben.

Ein paar Zeilen von John Cale, bei denen du mich fühlen sollst:

Look at that young man
With the tired eyes
He believes in magic
He believes in lies.

(Ich höre es gerade, während ich dir schreibe.)

Tu es für mich, Emmi und schicke mir ein Polaroid. Ich liebe dich, Emmi. Du musst mich auch lieben.


Ansgar


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Ich erinnere mich genau. Es war schrecklich. Emmi schnitt sich die Haare streichholzkurz und färbte sie schwarz. Sie sah leichenblass aus, als sie das Schulgelände betrat. Ihre Eltern riefen mich an und baten um Hilfe. Sie waren verzweifelt. Niemand verstand, warum Emmi ihr naturblondes Haar verstümmelt und sich diesen harten Look zugelegt hatte. Nichts daran passte zu Emmi, die zart, süß und romantisch gewesen war und jetzt auf harte Punkerin machte. Aber wir gewöhnten uns daran, bis ich sogar vergessen hatte, dass Emmi eine Blondine war. In späteren Jahren verwandelte sich das Schwarz in Dunkelbraun, für einige Jahre nach dem Studium auch mal in eine rote Mähne. Erst nach ihrem 35. Geburtstag kehrte Emmi schließlich zu ihrer ursprünglichen Haarfarbe zurück. Die Haarfarben markierten Trennungen, Männerwechsel, begreife ich im Rückblick. Aber diesmal, nach der Trennung von Björn im Juni, hat Emmi nichts an ihren Haaren geändert, selbst die Frisur blieb, wie sie war. Und ich hoffe aufrichtig, das Wiedersehen mit Ansgar führt nicht zur Wiederkehr der schwarzen Haare, die ihr nie standen.

4 Kommentare:

  1. schoene geschichte. und interessant, wie sich die stimmung von damals anhand einer konkreten geschichte, plastisch visualisiert. den typen wuerde ich auch gern mal kennen lernen. ;)
    man muesste wenigstens ein foto von ihm sehen koennen.

    liebe gruesse
    Irisnebel

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  2. Liebe Iris,

    es kann - leider - kein Foto geben, denn sowohl Emmi als auch Ansgar sind ja fiktive Personen (vielleicht, vielleicht beleihen sie reale Personen, wer weiß...)

    Herzliche Grüße

    Melusine

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  3. Ich mag die Geschichte ebenfalls, schon gar, weil ich mich dem einseitigen Briefroman verbunden fühle ; )
    Nur Ansgar, so viel steht fest, möchte ich nicht kennen lernen. Emmi als Erwachsene hingegen gerne.
    (Der Ansgar übrigens, den ich im Kopf habe aus Ihren Bildern, würde das Wort "Standards" nicht verwenden, doch das nur am Rande)

    Herzliche Grüße
    Phyllis

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  4. Liebe Phyllis, vielen Dank für den Hinweis. Sie haben völlig recht. Das Wort würde er nie benutzen. Niemand verwendete es, glaube ich, in den 80ern. Ich werde das ändern. Heute nicht mehr; ich bin sooo müde.

    Den Ansgar, merke ich, muss ich jetzt mal ein wenig sympathischer werden lassen. Man wird noch merken, was Emmi i h m antut ;-).

    Herzliche Grüße
    Melusine

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