Samstag, 5. Februar 2011

1994*

Dieses Jahr änderte alles. Keine schleichende Metamorphose, sondern eine  abrupte Verwandlung. Der Körper, dem ich vertraute hatte, versagte. Der Riss hinterließ eine Narbe, deren Pulsieren ich heute noch fühle. Den Beginn dieses Jahres erlebte ich im Krankenhaus. Als ich ihn schließlich in meinen Armen hielt, meinen ersten Sohn, verliebte ich mich heftiger als je zuvor. Seit damals habe ich nie mehr fest geschlafen. Der Bundestag entschied, die Regierung solle nach Berlin ziehen und Christo dürfe den Reichstag verhüllen. Mit knapper Mehrheit. Davon bekam ich nichts mit. Auch „Schindlers Liste“, der Film, der den Oscar erhielt, sah ich erst viele Jahre später. Den Namen Silvio Berlusconi  habe ich in jenem Jahr wahrscheinlich zum ersten Mal gehört. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber ich weiß, dass ich erschrak, als ich hörte, Kurt Cobain habe sich erschossen. Ich freute mich, als der ANC die ersten freien Wahlen in Südafrika gewann und Nelson Mandela Präsident wurde. Die Nachricht dagegen, dass Honecker in Chile gestorben sei, wirkte irgendwie grotesk. 1989 hatte ich mich entschlossen, erwachsen zu werden. 1994 entglitt mir mein Körper und mein Leben. Aber ich liebte auch auf eine Weise, die vorher undenkbar gewesen war. Alle Selbstbefragungen hatten sich erledigt. Wer bin ich? Ich bin die Mutter des schönsten Knaben der Welt. Am Ende des Jahres 1994 war ich erneut schwanger. 

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* Auf Tainted Talents hat Phyllis Kiehl vorgestern ein Foto eingestellt, das sie im Jahr 1994 zeigt. Im Kommentarstrang zu diesem Foto wird darüber diskutiert, wie sich zu jener Zeit "Weibspersonen" und andere zueinander verhielten und "künstlerische Positionen"  entwickelten. Das Jahr 1994 stellte mir ganz andere Aufgaben. Daran erinnerte mich dieses Foto und die Diskussion. Auch daran, dass ich seit jenem Jahr keine Positionen, keine Standpunkte mehr suche, sondern darum ringe, beweglich zu  bleiben. 

6 Kommentare:

  1. Mir erscheinen Standpunkte oft in 3-D: wie Murmeln unter den Schuhsohlen, auf denen man ausrutscht, kaum, dass man sich bewegen will.

    Herzliche Grüße!

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  2. Ach schön! Und mir liegt dabei irgendwie auf der Zunge ein herzlicher Glückwunsch! Ich bilde mir ein, das oben formulierte ein wenig verstehen (und nicht allein 'nachvollziehen') zu können, vor allem das mit den Standpunkten und Künstlerischen-Positionen angesichts ganz anderen Erlebens, wobei ich 1994 noch kaum etwas darüber ahnte. /Also, und nicht nur 'insofern', herzlich, Schneck

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  3. @Phyllis Ich neigte (und neige) dazu, mich festzulegen. Stur und stolz konnte (und kann) ich nur schwer nachgeben oder aufgeben. Die Geburt der Kinder und das Leben mit ihnen, hat mich aber gelehrt, dass ich nicht selbst bestimme, dass mein Körper (und nichts) mir vollkommen "gehört". Etwas besetzen, sich positionieren - das sind gegenüber dem Leben (dem eigenen und dem anderen) illusionäre und auch gefährliche Haltungen, wenn sie erstarren. Es kommt darauf an, lernte ich, sich richtig einzufügen und annehmen zu können. Ich lerne das noch immer. Denn es widerspricht meinem Charakter.

    @Schneck08 (Ich grübele immer, wofür die 08 steht???) Danke! Es war (ist) ein Geschenk, aber man nimmt nicht in Besitz. Alles ändert sich, Grenzen werden durchlässig. Und später (also für mich: jetzt) kommt wieder eine Verwandlung: Sie lösen sich. Ein Freund, der auch Künstler und Vater ist, sagte kürzlich: Es kommt eben nicht mehr so auf die "Werke" an, sondern vielmehr auf die Art, wie man lebt, insgesamt. Es geht sicher nicht allen so, die Eltern sind. Aber für mich gilt auch: Ich will nicht "Jemand" sein oder "Bedeutendes" herstellen, sondern leben und etwas tun, was mir gegenwärtig "richtig" erscheint.

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  4. Nicht nur dieser Eintrag von Ihnen lässt mich an einen meiner Lieblingssätze von Gertrude Stein denken: "Der traurigste Satz ist dieser: Sie hätte gewesen sein können."
    Diese Gefahr scheint bei Ihnen nicht im geringsten zu bestehen. Es tut wohl so etwas zu lesen.

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  5. Die traurigsten Worte sind diese, muss es heißen. Verzeihung.

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  6. Danke, Elke. Doch habe ich auf "diese Gefahr" in den vergangenen zwanzig Jahren öfter mit Schrecken geschaut.

    Gertrude Stein - auch dafür Danke, wenn ich Janet Frames Roman zu Ende gelesen habe, werde ich einmal wieder Gertrude Stein lesen.

    "Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt." - Das ist mein Lieblingssatz von ihr.

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