Mittwoch, 16. März 2011

DIE VER(W)IRRTEN KINDER GAIAS

Blut tropfte zu Boden, als Kronos Uranos entmannte. Aus dem getränkten Boden wuchsen, tief verwurzelt im Mythos, die Giganten. Sie kamen mit der Zeit, die das zeitlose Dasein ablöste und sollten ihr verfallen. Die spitzohrigen Söhne der Gaia verzehrten sich schließlich in einem schrecklichen Kampf gegen die neuen Götter des Olymps. Das Alte muss fallen: So schon waren sie gewachsen aus der Mutter Boden, als die Zeit reif war. So auch mussten sie vergehen, als die Geschichte der Götter mit dem Menschen begann, der seine fruchtbare Mutter verleugnet. Sie aber hielten ihr die Treue und büßten schwer.

1808/12 Prado Madrid*

Als ich das Bild zum ersten Mal im Original im Prado sah, überraschte mich seine geringe Größe. Wohl standen die Maße 116 x 105 cm in den Katalogen,  die ich kannte, doch hatte ich es mir dennoch größer vorgestellt: gigantischer. In dem düsteren Bild überwiegt der schlammfarbene, breitpinselige Farbauftrag, der Schicht um Schicht die Grundierung immer mehr verdunkelt.  Das Gemälde ist dreigeteilt: der dunkle obere Himmel, in den allein Kopf und Faust des muskulösen Riesen ragen, die aufgehellte Zwischenzone um seinen Rumpf und die Landschaft darunter, die nur  im Vordergrund beleuchtet wird.

Was ist zu sehen? Eine Menge aus Menschen, Tieren und Wagen stürzt in wilder Panik nach vorne links aus dem Bild. Eine Kuhherde treibt es nach rechts. Über dieser Szene erhebt sich riesig in halber Rückenansicht ein männlicher Körper. Er hebt die Faust, als drohe er jemandem, der weiter rechts hinter der Landschaft stehen müsste. Seine Augenlider sind niedergeschlagen. Er lässt uns nicht erkennen, wohin er zielt und was seine Absichten sind.

Nichts in diesem Gemälde ergibt Sinn. Die Menge scheint auf den ersten Blick vor dem Riesen zu fliehen. Doch zielt seine drohende Geste nicht auf sie, sondern auf einen unsichtbaren Gegner. Auch die Folgerung, der Riese verteidige die Fliehenden, ist nicht schlüssig, müsste dieser Gegner doch hinter der Menge her, also links hinter ihr sich befinden. Selbst die Proportionen sind unstimmig. Die Beine des Riesen, verdeckt durch die Hügel, hätten in der angedeuteten Landschaft gar keinen Platz. Ein so tiefes Tal, dass er in ihm zu stehen käme, ist in ihr nicht vorstellbar. Doch auch Wurzeln hat dieser nur scheinbar dem Mythos entsprungene Gigant keine mehr in der Erde. Gerade dem Lendenbereich hat der Maler durch eine freie Pinselführung die Gegenständlichkeit fast genommen.

Es sind viele Interpretamente an dieses Werk herangeführt worden. Als Gigant verkörpere der Riese die stumpfe und dumpfe Gewalt unaufgeklärter Zeiten, vor deren  Wiedererstehen mit Recht die Menge in Panik fliehe.  Als Koloss wurde er manchen zur Allegorie auf Spaniens heldenhaften Kampf gegen die napoleonische Invasion oder – umgekehrt: ganz allgemein zur Allegorie auf die Schrecken des Krieges. Doch scheitern diese Deutungen, die die Komposition in einem ersten Schritt ermutigt, jeweils am zweiten Blick. Es passt alles nicht. Weder geht diese gigantische Figur symbolisierend im Mythos auf, noch steht sie allegorisch für ein historisches Geschehen.  Vielmehr reißt - wie der Himmel die Düsternis - der deutende Blick die Lücke zwischen Bild und Sinn auf. Der Maler führt uns die Entwurzelung des Mythos vor Augen und sein Ringen um allegorischen Sinn, das enttäuscht wird. Der Schritt aus dem natürlichen Zusammenhang des Mythos, der nicht dargestellt ist, sondern als unmöglicher gesetzt scheint, führt nicht in die Freiheit, sondern in die Sinn-Leere.

Das helle Zentrum des Bildes bleibt leer. Es ist jener Ort, wo der der mythische Gigant seine Wurzeln hatte und der allegorische Koloss seine Anbindung an Geschichte. Der „fruchtbare Moment“, an den das Bild bloß noch erinnert, lässt sich nicht mehr fassen. Es geschieht viel, alle sind in Bewegung: der Riese spannt seine Muskeln, hebt seine Faust, stellt sein unsichtbares Bein aus; die Menge rast, die Kühe rennen fort. Doch sie kennen kein Ziel und ihre Bestimmung nicht mehr. Allein ein Esel im unteren Teil des Bildes steht still. Das dumme Tier verharrt so sinnlos, wie alle anderen eilen. Es gibt keine sinnvolle Handlung in diesem Bild und keine sinnstiftende Deutung des Bildes durch Geschichte oder Mythologie.

Wovon das Bild hingegen in einer Ydioma universal, wie sie auch Goya vorschwebte, spricht, ist die Ortlosigkeit und Entwurzelung des modernen Menschen, an der der moderne Künstler in besonderer Weise Anteil hat, der ohne Auftrag schafft und gestaltet, was die eigene Heillosigkeit und die aller anderen bezeugt. Es ist eine Kunst, die in jenem Dazwischen entsteht, in dem sich unser Bedürfnis nach Sinnerzeugung niederschlägt, ohne je zur Erlösung zu gelangen: „...mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig.“ (Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung).


* Ob das Gemälde, in den Verzeichnissen meist als "El Colosso" geführt, von Goya ist, war in neuester Zeit umstritten. Ich habe die Debatte hierzu in den letzten Jahren nicht mehr verfolgt.

2 Kommentare:

  1. Interessant deine Deutung dieses ältesten der griechischen Mythen. Zeigst dann, daß auch dieser ebensowenig den Hintergrund des Bildes zu erhellen vermag wie alle anderen Giganten-Mythen anderer Völker, wie die israelitischen, die germanischen ...

    "Der Schritt aus dem natürlichen Zusammenhang des Mythos, der nicht dargestellt ist [] führt [] in die Sinn-Leere."

    So war auch mein erster Gedanke, als ich diesem Gemälde, einem der meistbesuchten des Prado, gegenüberstand: Es weist auf nichts Bekanntes, nichts Assoziierbares, weder hin noch zurück. Und daher drängte sich - gerade auch durch die Komposition des Ganzen, die du illuster beschreibst - der Eindruck auf: Die beiden Welten, die der Menschen und die des Giganten, haben gar nichts miteinander zu tun. Die Menschen und die Tiere fliehen, ja, aber gar nicht vor der riesigen Gestalt, sondern vor etwas, das gar nicht gezeigt ist. Und "El Coloso" ballt die Faust, aber zum Kampf? Oder vor Wut? Zumindest schert er sich nicht, wie auch du sagst, um das Geschehen in diesem Mikrokosmos hinter und unter ihm.

    Da geschieht etwas Dämonisches, Gigantisches, Kosmologisches in einer Welt jenseits des Historischen. Der unsichtbare Boden, auf dem der Riese erdbebend geht, befindet sich jenseits des Horizontes, jenseits der Geistes- und Weltgeschichte. Und dennoch erschüttert sein Beben sie.

    Die vorüberwandernde Gigantomachie erschüttert die Welt des "Menschen, der seine fruchtbare Mutter verleugnet", nicht in der Ferne, jenseits des Horizontes, sondern in der Tiefe, jenseits des Bewußtseins.

    Übrigens schien auch mir damals die Farbpalette des Bildes anders als "Goya". Aktuelles (2008) zum Urheberstreit von "El Coloso" gibt es hier:
    http://ow.ly/7VoSS
    http://ow.ly/7VoV3

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  2. Das ist sehr schön ausgedrückt: Die Erschütterung in der Tiefe. Ja, dies Empfinden hatte ich auch.

    (Im Prado, erinnere ich - aber das ist fast 20 Jahre her - faszinierte das Bild mich sehr, aber es fiel auch komplett "aus der Reihe". Jedoch gilt das eben für einige Bilder Goyas, namentlich auch die aus der Quinta del Sordo.")

    Danke für die Links.

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