Freitag, 16. September 2011

ÖFFENTLICHKEIT UND ERFAHRUNG IM ZEITALTER VON TWITTER, FACEBOOK & CO. (2)

2. Teil. (Erster Teil: hier)

„Über die Entfaltung der vollen Telekommunikation kann man heute nur im Kontext von Science fiction-Romanen plausibel diskutieren. Dabei würde diese Entfaltung eine Erweiterung der Sinnesapparate, das heißt der unmittelbaren Erfahrung von Menschen beinhalten, wie sie dem tatsächlichen Grad der gesellschaftlichen Kooperation entspricht. Eine solche Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit erscheint als eine Voraussetzung jeder wirklichen gesellschaftlichen Veränderung.“

Dass  Menschen zwar ihre eigenen Interessen benennen können, jedoch zu wenig über die sie umgebende Welt wissen, liegt unmittelbar im Interesse der Herrschaft. („Dir fehlt eben das Hintergrundwissen.“) Allein die Vielfalt der Kommunikationsmöglichkeiten moderner Medien, die nicht mehr nach dem Prinzip von wenigen Sendern und massenweisen Empfängern funktionieren, wirkt daher erschreckend anarchisch auf autoritär denkende Kräfte in allen gesellschaftlichen Gruppen. Was Ideologiekritik „Bewusstseinsindustrie“ genannt hat, wird dadurch ein undurchsichtiges und unkontrollierbares Business. Die Öffentlichkeit des Web 2.0 wird als hysterische Erkrankung des gesellschaftlich zu formierenden Körpers erlebt, dem seine Erfahrungen ebenso auszutreiben und zu entwerten sind, wie den Hysterie-Patientinnen die ihren durch die Ärzteschaft des frühen 20. Jahrhunderts.

„Der im Medienverbund vororganisierte Lebens- und Lernzusammenhang ist das eigentliche Angebot. Ohne die Gesamtware ´Medienverbund, die die einzelnen Waren Bildung, Unterhaltung, Information zu einem Gesamtkomplex zusammenschließt, fallen die einzelnen hier konzentrierten Waren zurück auf eine frühere Verwertungsstufe, sowohl, was ihren Warencharakter als auch, was ihre Gebrauchswertigkeitsstufe betrifft.“

Tatsächlich ist es nicht, wie von Pädagogen gern als Mantra vorgetragen, die vorgebliche Erfahrungslosigkeit („Die machen gar keine echten Erfahrungen mehr.“) der medialen Welt, die zu Erschlaffungserscheinungen führt, die dem emanzipatorischen Potential der neuen Medien im Weg stehen, sondern die fehlenden Verbindungen, d.h. der Mangel an ausgebildeten Synapsen zwischen libidinösem Lustempfinden  und integrierenden Lernprozessen, die nur eine humanistisch geprägte, traditionelle Bildung (und eben nicht eine technokratisch reformierte) als Sensibilität für gesellschaftliche Prozesse zu erzeugen vermag. Denn der Lebenszusammenhang, „der sich fast sinnlich als ein Gesamt von Verbrechen und Leistungsmoral“ darstellt, erzeugt nur aus solcher Bildung heraus ein Bedürfnis nach kritischer und radikaler Überprüfung. Erst so kann der eigene Warencharakter im sozialen Netzwerk nicht nur erkannt, sondern in den Verwertungsprozess störend eingriffen bzw. dieser partisanenhaft okkupiert werden. Den Ungebildeten (und das ist nicht selten ein technokratisch ausgebildeter Experte oder eine Expertin) wird auch das Netz (wie vordem das Buch und Fernsehen) zur Falle einer unablässig wirksamen Bewusstseinsdroge, die ihm noch die letzten Sinne vernebelt, statt ihm Welt zu erklären. Es ist so paradox, wie es immer war: Die Fähigkeit, sich dem Konsum und der Konsumierbarkeit in den neuen Medien zu entziehen, setzt jene idealistische Bildung voraus, deren Idealisierung der  Ideologiekritik verfallen muss.

 Es besteht dennoch Hoffnung – immer. Denn der Mensch wird unterschätzt.



„Welche Kraft liegt im Wunsche,
die Welt zu verwandeln, zu erlösen
aus Schwermut zu pfingstlichen Freuden,

heiter genießend, auch wenn sie stumm ist!
Welche Kraft, die ihren ärmlichen Abend,
ihren Morgen, im ländlichen Lichtkreis begrenzt,

als Bild einer Zukunft zeigt, künftigen Abend und Morgen,
erleuchtet vom Glauben, mehr als vom Gefühl!
Gedeihen ist es und Freude, dies Wünschen,

das so heftig sucht nach dem Ausdruck. Feuer schlägt es
aus einfachsten Dingen, schwellt ihren Raum
und stellt sie zur Schau.“

Pier Paolo Pasolini: Gramscis Asche


Alle anderen Zitate aus: Kluge/Negt: Der unterschätzte Mensch, Zweitausendeins 2001

2 Kommentare:

  1. Allerdings können jetzt auch "Gebildete" sprechen -ohne durch Ausgrenzung mundtot gemacht zu werden-, mit denen man kein Geschäft machen kann und -aus welchen Gründen auch immer-kein Geschäft machen will. Das ist nicht mehr aus der Welt zu bringen. Aber vielleicht schalten sie den Apparat ja auch kurzerhand einfach ab.

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  2. Aber wenn es den "Apparat" noch nicht gäbe, würden sich die Benachteiligten unter Umständen intensiver in die konventionellen Gegebenheiten einmischen. Wenn der "Apparat" nicht emanzipatorisch wird, wird es nur eine große Ablenkung sein, was dabei heraus kommt. Auch wahr.

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