Mittwoch, 26. Oktober 2011

Lob der Scham

schame, triuwe, erbermde, zuht, die sult ir gerne tragen. 
 
Walther v. d. Vogelweide



Die schamhaft gesenkten Augen, die den Blickkontakt verweigern, dieser Verschluss, der jenen Druck erzeugt, der im Aufblicken, im Reinblicken in das andere Augenpaar sich dann – augenblicklich! – entladen kann, der meinereiner noch immer genügen kann, um alles aufzuladen mit GEFÜHL und GIER, die sich unter der Brust schmerzhaft anstauen, - anderen sind sie offenbar ein antiquiertes Klischee, ein durchschaubares Manöver, eine gewollte Koketterie. Sich zu schämen, ist „out“. Wofür denn auch? Fast scheint es jedoch, als müsste sich eine schämen, dass sie sich noch so arg schämen kann. Aber: „I don´t want to change a thing when there´s magic.“

Von der Scham, begriff ich gestern Nacht über das Thema nachsinnend, ist in diesem Blog immer wieder die Rede gewesen, nicht ohne Bitterkeit manchmal. Das fing schon mit einem der ersten Einträge an, nachdem eines Nachts im Zug ein Herr mir, kurz bevor ich ausstieg, seine Visiten-Karte überreicht hatte mit einer schmeichelhaften Botschaft auf der Rückseite. Ein zarter Annäherungsversuch, der mich freute, aber auch zur Entdeckung meiner „Flirt-Scham“ führte:

„...Oft hörte ich meine Eltern negativ über Frauen sprechen, die ihren Körper zur Erreichung von Zielen einsetzten. Der Körper einer Frau, lernte ich, kann eine Waffe sein. Doch die sie benutzt, sollte sich was schämen. (...) Diese Scham sitzt tief. Durch Überlegung oder Trotz lässt sie sich nicht auflösen. Bei mir nicht. Um kein Missverständnis zu erzeugen: Ich mag meinen Körper. Oft finde ich ihn sogar schön. Aber ich mag ihn nicht benutzen. Wenn ich wahrnehme, dass ein fremder Mann meinen Körper mit Interesse betrachtet, dann ziehe ich mich zurück. (...) Ich möchte immer noch kein Verhältnis zu meinem Körper haben, das ihn zur Waffe macht. Was ich nicht gelernt habe, ist ein spielerischer Umgang mit ihm: Grazie. “

Nackt zu sein, ist für mich kein Problem. Zum Beispiel in der Sauna. Mich nackt zu zeigen, - das ist noch immer eines. (Soll eine über so was öffentlich schreiben? - Das tut man nicht! Schäm dich! – Sowieso!) Allerdings steht meine Scham durchaus in einer langen abendländischen Tradition, die auf sie gleichsam angewiesen ist:  Die Geschichte des Voyeurismus.

„Diana und Acteon. Susanna im Bade (..) Immer sind es Männer , die sich anschleichen, um eine Frau unbekleidet zu sehen. (...) Interessanterweise wurde „Scham“ erst im 18. Jahrhundert (...) zum Begriff für die Verletzung des Ehrgefühls, zum „sich schämen“. Vorher bezeichnete das Wort einfach das Geschlechtsmerkmal selbst. Jetzt wird Scham zum Synonym für das Erröten der Frau unter den Blicken des Mannes, während der Mann beginnt sich zu schämen, wenn er beim Schauen „ertappt“ wird. Es geht ja auch nicht  gut aus für ihn in Mythos und Legende, das heimliche Schauen: Acteon, verwandelt in einen Hirschen, den die Hunde zerreißen; Susannas geifernde Greise werden hingerichtet. (...) So unschuldig, wie es scheint, sind die Verschämten aber auch nicht. Eine Frau schämt sich unter dem Blick eines Mannes. Errötet. Denken Sie nach: Sie kann ja nur erröten, wenn sie weiß, dass sie beobachtet wird. Wenn sie gewahr wird, dass er sie sieht. Und genau um diesen Moment geht es: In dem sie erkennt, dass er sie sieht. So sieht. Und wie sie reagiert. Ob sie reagiert. Die Bedeckung der Scham. Jetzt. Oder: Zurück schauen. Den Blick erwidern.

Darauf kommt es also an: dass die Möglichkeit besteht, hinzuschauen auf den: Wie sieht der denn aus? Wie guckt der denn? Die Scham ist es, so glaube ich immer noch, die diesen intensiven Blickwechsel vorgängig mit Bedeutung auflädt.

Unverschämt
Francisco Goya: Nackte Maja

Dass eine schamfreie Sexualität erotisch sein kann, wage ich (gegen den Zeitgeist?) zu bezweifeln. Denn wahrhaftig geht es doch beim Sex um einen Kontrollverlust, um eine Selbstaufgabe; darum, „dass die Verdinglichung im Geschlechtsakt als schön und notwendig erfahren wird und dass sie absolut ist (oder sein kann)“. Der Wille sich freiwillig zu entmenschlichen, der sich daher in solchen kannibalischen Blicken offenbaren kann, ist es, den die Scham zu verbergen sucht. Es begibt sich der seinem Begehren nachgebende Mensch seiner Würde, indem er sich außerhalb der Vernunft stellt und stellen will. Das ist ernst. Weil ich ein Mensch sein will und kein Tier und doch in Momenten dies Animalische ersehne und selber sein will. Das ist ein Erröten wert, dass eine sich das zugibt und sich so hergibt -  oder einer... 


Und daher gilt – für mich  - noch immer:

„Es ist ein zweischneidig Schwert mit der Scham: Geschamig verbirgt die eine züchtig mit niedergeschlagenem Blick den Trieb. Verschämt dagegen bedeckt die andere das Versäumnis der Scham entblößenden Intimrasur. Doch vermag wohl gerade erst die schüchternde Scham die Gelüste ins Maßlose zu  steigern. Denn wenn die Scham sich selbst überwindet und befreit, beginnt der Rausch.“



(Und: Die Schamlosigkeit führt ja auch zu gar nichts...)

18 Kommentare:

  1. Und: Google ist mal wieder ganz vorne. Kaum ist der Post eingestellt, zeigt mir Blogger Werbeanzeigen zur "Genitalästhetischen Chirurgie".

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  2. In diesem Falle (Google) handelt es sich um eine Unverschämtheit - für die allerdings keiner einstehen will.

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  3. Das bringt mich sehr zum Nachdenken. Und wirft allerdings auch die Frage in mir auf, ob es sich hier tatsächlich bereits um Scham - die ich als das (unangenehme) Gefühl einer nicht nur körperlichen Nacktheit, eines Zurschaugestelltseins verstehe - handelt, oder eher um Schüchternheit oder Verschämtheit, für die ich folgende schöne Definition gefunden habe: "Verschämtheit, die Hegung einer zarten Empfindung für das Gefühl der Scham, Pierer's Lexicon. 1857–1865."

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  4. Einverstanden, dass sich Begierde, die eine Schambarriere überwältigen muss, spektakulärer anfühlt. Unbedingt!
    Aber wie viel Lebenshunger, sexuellen Hunger, Hunger nach Wachstum die Scham bereits im Keim erstickt! Ich hab' ihr schon oft die Köpfe abgeschlagen, doch den letzten, unsterblichen, hab' ich nie gefunden.
    Was, wenn diese alte Frage "Schämst Du dich nicht?" niemals in mein kindliches Bewusstsein eingesickert wäre?
    Scham, meiner Erfahrung nach, macht passiv. Und solange die Hydra ihren letzten Kopf so gut versteckt, bleibt nur die Ahnung, wie es wäre, wirklich selbstauslösend zu sein.

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  5. Liebe Iris, das stimmt vielleicht - eine "zarte Empfindung für das Gefühl der Scham", wie dieser leise Schauder, wenn man beim Erröten ertappt wird... (tatsächlich ist dieses "Schamgefühl" streng zu unterscheiden, von der schuldbewussten Scham, das ist mir auch wichtig).

    Liebe Phyllis, so weit gehe ich tatsächlich, dass ich glaube eine "befreite Sexualität", also eine "schamfreie", müsse ohne Explosionen auskommen (rein körperliche vielleicht, aber nicht jene, die aus diesem heftigen Gefühl hervorgehen, das man "Verliebtsein" nennt; es geht ja gerade nicht darum, dass man sich einer "Schlechtigkeit" schämt, sondern dafür, dass man ertappt wird, so "ausgeliefert" zu sein). Das ist romantisch, tatsächlich. Und das bin ich auch. Ganz schamlos :). (Aber ich gebe auch zu: Die Passivität, gerade die ist es, die ich als lustvoll empfinde, nicht "selbstauslösend" sein zu müssen.)

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  6. Ich möchte gerne einen allgemeinen Gedanken beisteuern, liebe Melusine, zu Ihren Überlegungen hinsichtlich schamfreier Sexualität.

    Die Verbindung zwischen "Kontrollverlust" und "Selbstaufgabe" habe ich nach langem Nachsinnen aufgegeben. Denn im Ablegen von Kontrolle gibt sich nichts vom Selbst weg. Im Gegenteil, vielmehr haben wir es hierin mit einer Art Selbst"Werdung" zu tun. Triebhaftes, unvermittelt energisches Sein. Das bedeutet allerdings nicht notwendig: unkultiviert. Daraus nämlich, der Kultiviertheit, nährten sich das kreative, das explorative, das symbiotische Moment der Sexualität. Entmenschlichung will ich gerade darin nicht mehr erkennen. Die Über-Kultiviertheit hingegen kann zum empfindlich störenden Hindernis werden:

    Ziehen wir einmal als gedankliches Experiment dem Spiegel die Silberfolie vom Rücken und stellen uns in vollends erregter Nacktheit davor. Wer erschrickt nun? Wir, oder jemand auf der anderen Seite des (nun durchsichtigen) Glases? Einen Schritt weiter gehend, finden wir im hemmungs(scham-)losen Akt einen möglicherweise unheimlich (weil in dieser Ausprägung unbekannten) Partner vor. Die Scham soll uns im Grunde davor schützen, die anderen zu beschämen, soll uns davor schützen, selbst beschämt zu werden. Ein Sozialverträglichkeit herstellender Kleingartenzaun, den wir um uns zu errichten haben, nicht wahr? Um in diesem Bild zu bleiben: wie entfaltet sich Sexualität, wenn wir uns gegenseitig besuchten in unseren Kleingärten, und wie andernfalls, wenn wir gemeinsam in die "Wildnis" des ungezügelten Seins hinaus wanderten (oder einander gar jagten?)

    Das (weibliche) Schamgefühl im weiteren und engeren Umfeld von Sexualität halte ich für eine patriachale Errungenschaft, von der sich Frauen möglichst befreien sollten. (weil nämlich also und überhaupt: die männliche Libido ist - hmmm... - ein fragiles Ding ; ). Sonst wird das nix, auf Dauer, mit Partnerschaftlichkeit und Gleichberechtigung. Und wenn's denn sein soll, dürfen auch mal einfühlsame Gespräche mit jenen Männern geführt werden, die sich nicht recht wohl dabei fühlen, sich ihrer Herzensdame in entschlossen aufrechter Pracht darzustellen (war Ihnen bewusst, dass es diese besondere männliche Scham gibt?). Doch damit landeten wir unversehens in anderen Themenkreisen: Vertrauens- und Kommunikationsfähigkeit. Deshalb schließe ich nun besser und verlege mich wieder auf's "Zuhören" : )

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  7. bitte ergänzen Sie gedanklich das darin zu: deshalb darin.

    (schamesrot davonziehend)

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  8. Ich verstehe diese Einwände. Aber halte sie für falsch. Die Illusion, eine "Befreiung" aus dem "Kleingarten" führe zur Freiheit hat ja das Verhältnis zur Sexualität seit den späten 60er Jahren geprägt (spätestens), zumindest der "fortschrittlich" denkenden Menschen. Damit ist Sexualität konsumierbar geworden. Wir (oder einige) können jetzt alles machen und über (fast) alles reden. Gut so. Ich will nicht zurück in die 50er Jahre. Diese "Lockerheit" im Umgang mit dem eigenen Körper besitze ich durchaus. Nacktheit empfinde ich als völlig unstörend - bei mir und anderen. Aber sie ist auch völlig unerotisch.

    Gleichwohl weiß ich natürlich, dass es nicht allen (Männern und Frauen) so geht. Und dass es immer noch diese "falsche Scham" gibt, die sich eben f ü r den eigenen Körper schämt. Das kenne ich selbst nicht. Ich bin in dieser Hinsicht sehr freizügig erzogen worden. Dass man sich daraus befreien will und muss, verstehe ich aber gut.

    Trotzdem ist für mich das "Ich" jener Teil von mir, der ein Selbstbewusstsein hat und sich nicht als Ding wahrnimmt - und den anderen auch nicht (ich denke das einfach kantianisch). Beim Sex geht aber gerade Lust daraus hervor, "bewusstlos" zu werden und sich (und den anderen) zu verdinglichen. Also: "unkultiviert" sein und es wollen!!! Das halte ich für einen "ernsten" Vorgang - der gerade deshalb so lustvoll ist! (Ich habe das alles schon mal unter "Kannibalischer Sex" geschrieben.)

    Sie, lieber Kienspan, verbinden, denke ich, das Schamgefühl mit Hemmung. Mir geht es um was anderes: Diese Scham hemmt nicht. Aber sie ist das Bewusstsein davon, dass man bereit ist zur "Enthemmung". Dies an sich und anderen "zu erkennen" - in einem Blick - darum geht es. In der biblischen Übersetzung wird der Beischlaf so genannt: "sich erkennen". Wenn man es so versteht, ist das etwas, was tatsächlich Angst machen kann - und sollte! Denn die Angst und die Lust sind hier eng verknüpft und - unlösbar voneinander.

    Dagegen steht, dass man natürlich jederzeit Konsum-Sex haben kann. Spreche ich "den Befreiten" die Lust ab? Nein. Doch ich glaube, sie erleben etwas ganz anderes.

    Noch ein anderes Thema ist - und es treibt mich immer wieder um -, dass die Formen, in denen diese Lust sich erzeugen lässt eben aus einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft stammen. Das stimmt. Auch hier halte ich aber die Vorstellung, man könne sich einfach "befreien" für illusorisch. Man kann mit diesen Formen spielen. Und sie weiter formen. Dass ich mich hierbei besonders für die weibliche Seite interessiere, halte ich für legitim.

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  9. Zur weiblichen Seite, liebe Melusine, hier >>> http://taintedtalents.twoday.net/stories/mein-fleisch/ noch eine weiterer Gedankengang: angeregt von Ihren Überlegungen heute Nacht aus dem Fleisch gelöst.

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  10. Ich setze den Link zu Phyllis Text mal so, dass er auch "funzt"
    Adlesprech auf ´Tainted Talents´

    Dieser schöne Text erinnerte mich sofort an diese Fabelwesen (das Label, unter dem auch der Ausgangstext all dieser schamhaften Gedanken, abgelegt ist, die "Birnen oder Äpfel?-Erotik-Romanze")
    Adler und Maus: Der Traum zu Fliegen

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  11. Da also die Hemmung ausdrücklich nicht gemeint war, denke ich nun in Richtung "Rittertugenden" und ethischer Haltung weiter nach.

    Schamster, šamstr (Liebhaber, Geliebter, Verehrer, Bräutigam)

    G'schamster Diener

    Ihr
    K.

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  12. (Nun auch hier, als eine Art Antwort auf den Eros der Scham:)

    "Ala ist immer noch großartig. Damit beschäftigt, ihren Seidenhut festzuhalten und im Fahrtwind die beiden Schlaufen unter ihrem Kinn zusammenzubinden.
    Ihre Aura besitzt das Myteriös-Gefährliche einer Tropenkrankheit, ihr Körper zeigt die Fragilität eines Schmetterlingsflügels, alles an ihr wirkt, als müßte es beschützt werden – doch auch, wals wäre insgeheim etwas Grausames in ihr.
    Die Wahrnehmung der Männer in ihrer Umgebung mutiert zum Flatterhaften einer Handkamera, die zittrig um das Zentrum der Begierde schwankt, zum Atemlosen, das sich für jeden geordnet vorgetragenen Satz erst sammeln muß.
    Sie zaubert einen fruchtigen Hauch in die Luft. Reife, selbst überreife Männer erinnern sich längst abgelegter Strategien der Betörung, werden geckenhaft eitel in dem Versuch, auf sich hinzuweisen. Alas Sex-Appeal, diese Mischung aus Kindchenschema, verschatteter Absinth-Melancholie und dem beinahe, eben nur beinahe kranken Eindruck der überlangen Arme und Beine, wird von ihr sehr bewußt eingesetzt, verstärkt durch die neue, Niedlichkeit hervorkehrende Frisur, die, wenn sie den Kopf schüttelt, lose um ihre Ohren schwingt und die Zartheit ihres zarten Schädels freigibt – kontrastierend dazu ihre hohen Wangenknochen, ihr breiter Mund, dessen Lippen sich oft schürzen und spitzen, als müßten sie mimisch jede Silbe, die sie spricht, illustrieren, aufgeregt, ja gescheucht, ruhelos, ein Gesicht, das auf jede Nuance ihrer Umgebung reagiert, ohne eine bestimmte Haltung zu verraten. Man will an ihr knabbern, so süß ist sie, und hat dabei das Gefühl, von ihrem Blick vorsichtig gekostet und schnell ausgespien zu werden, sobald nur eine Winzigkeit ihr widerstrebt."
    Helmut Krausser, >>>> U C.

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  13. Und es gibt ihn doch: den Eros der Scham!?

    Ein sehr schöner Text. "...als wäre insgeheim etwas Grausames in ihr". Das rührt mich an. Es ist ein grausamer Zug, immer, dabei. Die Verletzlichkeit kann furchtbar verletzen, geradezu verheeren.

    Danke für den Hinweis. (Der Stapel ungelesener Bücher wächst und wächst...)

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  14. Eben hat sich mir aufgetan, dass die Spannung zwischen Scham- (und Anerkennungs-)kultur einerseits und Schuld- (und Befreiungs-)kultur andererseits eine Quelle für Lösungsmöglichkeiten unserer allgemein verklemmten gesellschaftlichen Lage sein könnte. Mehr Anerkennungskultur, welche sich übrigens auch in der Rechtskultur widerspiegeln müsste, führte in allen Bereichen des Miteinanders zu unterschiedlichen (gefühlten) Ergebnissen, nicht nur in Bezug auf Sexualität.

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  15. Lieber Kienspan, ganz verstehe ich den von Ihnen formulierten Zusammenhang von Scham und Anerkennung leider nicht. Für mich verbindet sich Scham mit dem Erkennen; also einem Moment der Wahrheit, der jenseits aller Formen der Anerkennung oder Verwerfung einfach i s t.

    Dass Anerkennung jedoch jenseits dieser - poetischen Momente, die aber nicht dazu taugen, irgendetwas "zu lösen" oder "zu befreien"- der Schlüssel zum gesellschaftlichen Fortschritt ist, unterschreibe ich sofort.

    Wenn ich hier jedoch von der "Scham" im Zusammenhang mit Sexualität schreibe, geht es mir nicht um gesellschaftliche oder historische Konflikte, sondern um eine existentielle Spannung, die sich nie auflösen lässt, auch in der besten aller Welten nicht, um eine, die - so pathetisch bin ich mal - das Menschsein ausmacht: dass Lust und Schmerz, die Fähigkeit zu lieben und zu leiden zusammengehören. Das kommt, weil wir das Tier sind, dass sich nicht nur fortpflanzen will.

    Tatsächlich bin ich überzeugt, dass die Fähigkeit sich zu verlieben (und damit die Lust aufzuladen mit Sinn, dadurch dass man "gefesselt" ist) die Kehrseite eben jenes Freiheitsdranges ist, für dessen Verwirklichung wir auch mit Schmerzen zahlen. Auch das, scheint mir, ließe sich selbst in der besten aller Welten nicht ändern. Denn frei zu sein, heißt notwendig auch: scheitern und versagen können.

    Zum Schluss: Ich w i l l das - die Freiheit und das Versagen, die Scham und die Schuld, die Angst und die Ektase. Weil es menschlich ist.

    So wird es am Ende doch politisch. Ich glaube nicht an eine Gesellschaft, die schmerzfrei, angstfrei, schuldfrei sein könnte u n d frei.

    Gleichwohl brauchen wir mehr Anerkennung - aber auch Mitgefühl.

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  16. "Der Mensch ist das Thier, das rote Wangen hat."
    F. Nietzsche
    Man kann dazu eigentlich nichts mehr sagen

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  17. Da muss ich rasch noch mein Verständnis davon nachschieben, liebe Melusine:

    Die Scham legt viel Aufmerksamkeit auf die Umwelt, auf das unmittelbare Gegenüber. Schamgefühl reagiert als (auch antizipierende) Antwort auf (mögliche) Ereignisse und Erscheinungen im Außen. Durch rücksichtsvolles und anerkennendes Verhalten wird Verletzungen vorgebeugt, weil es dabei auch um dauerhaft beschädigbare Würde und Ehre geht. Anders jedoch verhält sich das mit der Schuld, welche durch Buße aufgehoben werden kann - hier wird Würde des anderen als eine die eigene Integrität nicht berührende und recht einfach reparier- und/oder entschädigbare Angelegenheit verstanden.

    Als illustrierendes Beispiel führe ich den Leistungsaustausch an: Es gibt Kulturen, in denen wird mit dem Geldbetrag für eine erbrachte Leistung ausdrücklich Anerkennung ausgesprochen. Dies wird alltäglichen Leben meist durch beidhändige Übergabe mit bewusstem Blickkontakt gewissermaßen zelebriert. Anderswo wird dagegen ein Betrag (nach mehrfacher Mahnung gar erst) gezahlt/überwiesen, um sich von einer (klagbaren) Schuld zu befreien.

    Aus diesen verschiedenen Blickwinkeln versuchte ich, Ihnen nach-zudenken.
    Die "Handelsbeziehungen" kenn' ich. Das andere wär' vielleicht noch reizvoll, aber... naja
    Punkt ; )

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  18. Lieber Kienspan,

    was ich hier zu beschreiben versuchte (aber mir offenbar nicht ganz gelungen ist) bezieht sich nicht auf eine umfassende Bedeutung von "Scham" in allen Lebensbereichen, sondern auf die Herkunft und Verwandlung des Begriffs vom weiblichen Geschlecht zum Akt des "Sich-Schämens". Die Übertragung, die hier stattgefunden hat, und die etwas zu tun hat mit der Geschichte der Sexualität in unserer Kultur, die interessiert mich.

    Zugespitzt könnte die These sein: Ohne Scham kommt es nicht zur "Verliebtheit", denn diese ist die Bereitschaft, sich "fesseln" zu lassen, sich aufzugeben und eben eine Sexualität anzustreben, die etwas anderes ist als der gegenseitige Gebrauch der Geschlechtsorgane (was ich damit keineswegs abwerten will).

    Es scheint mir, Ihnen geht es um ganz etwas anderes. Begriffe wie Ehre und Verletzung zeigen mir das. Vor dem "Aufblicken", das auf diese von mir gemeinte Scham folgt, kann und darf es gar keinen Schutz geben; kein vorsichtiges "Es-einander-recht-machen". Das gilt davor und danach. Dann nicht. Da sieht man es: das Tier. Das kann man auch gar nicht anerkennen oder aberkennen, w e n n man es sieht.

    Vielleicht kann ich dem, was Sie offenbar meinen, näher kommen, wenn ich Begriffe wie Ehre aufgreife. Einen Ehrbegriff, der sich darum dreht, wie man "vor den Augen der Welt dasteht", kann und sollte man überwinden. Früher musste man sich wegen Schulden erschießen, heute kriegt man bessere Konditionen, wenn man ein guter Schuldner ist. Diese Art "Ehre" ist, finde ich, "scheißegal". Etwas ganz anderes ist es aber, wenn man selbst empfindet, dass die Differenz zwischen den eigenen Werten und dem eigenen Leben zu groß geworden ist. Diese Kränkung kann beschämen. Und sie sollte es auch! Es kann ein Ausgangspunkt sein, sich zu befragen: Ist das bisherige Selbstbild und die Wertorientierung falsch - oder das Leben? Dann gilt es, etwas zu ändern.

    Vielleicht können wir uns so einigen: Die Scham darf einem nicht in ein Opfer verwandeln. Sie kann ein Erkenntnismedium sein, durch das man auf sich und andere klarer sieht. Dann muss man - um im Bild zu bleiben - den Kopf heben und - möglicherweise errötend - "der Sache" ins Auge sehen (oder dem Tier.)

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