Samstag, 3. Dezember 2011

GRATWANDERUNG (Amazing interpretiert Kafka)

Amazing, mein geschätzter Sohn und Kulturverächter, muss sich mit Kafka rumschlagen. "Das Urteil" ist Abiturprüfungs"stoff". Freitag stand die Klausur an. "Willste wissen, worum´s ging?", fragt er, als er heimkommt. "Schon...", antworte ich vorsichtig. (Interesse zeigen, aber nicht aufdringlich sein...) "Erstmal hatten wir so einen Auszug aus ´Brief an den Vater´, da sollten wir..." "Siehste", rufe ich triumphierend, "hab´ ich dir nicht gesagt, dass du da mal reingucken sollst. Haste?" Er zieht die Augenbrauen hoch. (Ein Fehler. Diese nervige Besserwisserei.) "Ja, schon, ein bisschen... Jedenfalls sollten wir darstellen, wie der Vater in dem Auszug charakterisiert wird. Und dann vergleichen mit dem Vater in ´Das Urteil´. Ging so. Ein Unterschied ist, hab´ ich geschrieben, dass von dem Vater im Brief angenommen wird, dass er es gut meint, während der Vater im Urteil seinen Sohn fertig machen will." Dazu sage ich nichts. Ich kann mich auch nicht mehr so genau an die Texte erinnern. "Und zum Schluss sollten wir zu dem Selbstmord von Georg Bendemann Stellung nehmen. Das war heikel. Kannste ja nicht hinschreiben, dass dir das einleuchtet. Wir haben jetzt einen Schulpsychologen. Da sitze ich am nächsten Tag bei dem, wenn ich das schreibe. Aber wenn du es komplett ablehnst, haste dich nicht richtig in die Geschichte eingefühlt." "Und?", frage ich, neugierig, wie Amazing sich aus der Affäre gezogen hat. "Na ja, ich habe geschrieben, dass für den Bendemann halt der Vater das Maß aller Dinge ist. Wenn man das voraussetzt, dann kann man sein Handeln nachvollziehen. Allerdings ist das ja heutzutage eine eher ungewöhnliche Vater-Sohn-Beziehung.", sagt er und will schon die Treppe hinauf. "Und du", rufe ich ihm hinterher, "wie würdest du die Beziehung zu deinem Vater charakterisieren?" "Entspannt. Ganz entspannt.", antwortet er. "Und zu mir?" Er überlegt einen Augenblick. "Gespannt, hohe Erwartungen" - er zeigt auf mich - "Passiver Widerstand" - er deutet auf sich. Ehrlich ist er ja, mein Sohn. 

3 Kommentare:

  1. Ob sich Amazing bewusst auf Charles Dickens berufen hat? Ich jedenfalls erinnere mich an "Great expectations" besser als an Kafka. Vor allem entspannter ; )
    Glückwunsch übrigens zu einem Sohn, der seiner Mutter sagt, was Sache ist.

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  2. möglicherweise das beste, was einem sohn passieren kann, so zwischen spannung und entspannung aufzuwachsen.

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  3. @phyllis Nö, glaub ich nicht, dass er Dickens kennt. aber ich kann ihn mal fragen. Und ja, ich gratuliere mir auch ;-).
    @weberin Vielleicht wird ihm das auch mal klar....später. ;-).

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