Mittwoch, 14. Dezember 2011

Im Wirtshaus zur schönen Kränkung

Sie treffen sich regelmäßig zum Stammtisch. Es ist kein schöner Anblick, wie sie so beieinander sitzen mit herabgezogenen Mundwinkeln, abfallenden Schultern und gerundeten Rücken. Ein Sog geht von ihnen aus, eine schleppende Gravität, die anziehend wirkt auf die tief liegenden Organe,  gegen die sich aber die Poren der Haut, die schnuppernde Nase und die durchlässige Netzhaut in einem geradezu gewalttätigen Reflex verschließen. Jede Begegnung erzeugt im Unterleib ein abscheuliches Bedürfnis sich selbst herabzuwürdigen, während die Sinnesorgane zwischen einer Reaktion aus Fluchtreflex und zweckfreier Brutalität schwanken.

Sie trinken Kräutertee und Schonkaffee, manchmal vertiefen und illustrieren sie ihr Leid durch mäßigen oder übermäßigen Alkoholkonsum. Es ist ihnen aussprechliche Gemeinheit widerfahren, die danach drängt, gewendet und gepflegt, gebügelt und gefaltet zu werden; immer wieder. Was sie auch tun, es wird nicht hinreichend bedacht, anerkannt, gewürdigt. Die wollen das Gute und geben ihr Bestes, doch wird es niemals ausreichend geschätzt.

„Sie sagte, dieses Kleid stehe mir gut.“
„Typisch.“
„So gab sie zu verstehen, wie unmöglich ich sonst aussehe.“
„Und dann fragte sie noch, ob ich mit dem Antrag fertig bin.“
„Klar. Sie will dir zeigen, wie lahm du bist.“
„Gemein. Am Ende setzte sie noch einen drauf: Wie leid es ihr tue, dass mein Vertrag nicht verlängert werde.“
„Echt? Unglaublich! So eine herablassende Kuh.“

„Vielleicht hat sie es ehrlich gemeint.“
Sie schauen entgeistert auf. Wer ist da eingedrungen in ihr Refugium hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, wo man klein und geduckt ist,  bescheiden und leidend?
„Sie hat keinerlei Einfühlungsvermögen.“
„Sie glaubt, sie weiß, wie´s geht.“
„Es geht ihr gut.“
„So eine ist das.“

Die Gekränkten nicken einvernehmlich. Da draußen geht es böse zu: Leistung, Qualität, Fortschritt. Wer nicht mithält, wird abgehängt.  Anstrengung, Ehrgeiz, Wille. Wer nichts bringt, wird ausgegrenzt. Lebenslust, Übermut, Wirkungsmacht. Wer nicht aufpasst, wird überrollt. Sie halten sich an ihren Tassen fest und bleiben hinter den Butzenscheiben sitzen.

Draußen weht ein rauer Wind. Manchen fegt er in den Graben. Andere legen sich den Lagen-Look zu. Manche bauen windschnittige Maschinen. Helme werden aufgesetzt. Ein Lied, trotzig gegen den Wind gebrüllt, verklingt. Die Glieder schmerzen, die Augen sind gerötet. Wenn die Sonne untergeht, sucht der Müde einen Ort, um seine frierenden Hände am Feuer zu wärmen. Er öffnet die Tür des Wirtshauses. Alle Plätze sind belegt.

Sie schauen auf.

„Wieder so einer.“
„Der wird uns von seinen Kämpfen erzählen.“
„Ein mörderischer Gewinner.“
„Oder Verlierer.“
„Ein Veteran, der uns verachtet.“

Sie rücken nicht zusammen. Sie halten den nicht aus. Sie lassen den nicht rein. Es sei denn, er senkt demütig sein Haupt, lässt die Schultern fallen, zieht die Mundwinkel herab und hat eine Kränkung zu bieten. Besser zwei.

„Das wissen wir doch alle. Wie´s da zugeht.“
„Dir haben sie das auch angetan.“
„Das sieht man doch.“
„Ganz zerrupft.“
„Armer Kerl.“
„Ach...“

Lass dich schon nieder!

Die kosmologische Kränkung

4 Kommentare:

  1. Verstehe, Frau Barby. Immer schön draufhauen auf die Armen und Schwachen! Kein Mitleid!

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  2. @ Anonymous Es wird vielleicht nicht genügend deutlich, dass es im "Wirtshaus zur Schönen Kränkung" egalitär zugeht. Da sitzt die Vorstandsvorsitzende neben dem Hartz IV-Empfänger, der Beamte neben der Imbissbuden-Besitzerin - falsch, die mir bekannten Imbiss-Betreiber hocken da nie, das war eine unzulässige Kränkung! Die sind immer draußen. -, also, sagen wir, neben dem Hausmann, die Bankerin neben dem Arbeitslosen. Die sitzen da alle rum. Sehr gemütlich. Sehr gekränkt.

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  3. Ich find's wunderbar treffend beschrieben! Natürlich lassen sich nicht alle über einen Kamm scheren und neigt man vielleicht mal eher zum einen, mal eher zum anderen, aber ich muss zugeben, dass auch ich dazu tendiere, die Menschen in zwei Grundkategorien einzuteilen: Diejenigen, die sich über ihr Leiden/ Erdulden definieren und diejenigen, die sich über ihr Tun definieren. Ersteres finde ich anstrengend (vor allem, wenn ich mich selbst dabei ertappe), zweiteres befreiend und anspornend. Und es geht wirklich um eine Grundhaltung, bei der die Größe des Leidens oder der Taten eine geringe bis keine Rolle spielen.
    Ich habe Dich, liebe Melusine, auch nicht so verstanden, dass Schlimmes, das einem widerfährt keine Würdigung erfahren soll, sondern dass es darum geht, nicht in seinem Status als Opfer und Kläger haften zu bleiben, sondern selbst Verantwortung für sein (weiteres) Geschick zu übernehmen.

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  4. Liebe Iris, auch ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich herum sitze und jammere. Natürlich gibt es manchmal auch Grund zu klagen. Es geht aber genau um das, was du schreibst: Wie man sich selbst definiert.

    Unter anderem hat meine blinde Freundin mich das gelehrt. Sie will Hilfe, wo sie welche braucht. Aber sie verklärt ihre Behinderung nicht zu einer Auszeichnung oder identifiziert sich selbst als "Opfer". Von außen werden ihr aber beide "Rollen" immer wieder angetragen, was sie sehr nervt.

    Sie ist ein Mensch, der selbstbestimmter lebt, als viele Sehende, die ich kenne. Sie könnte sich in vielfacher Hinsicht in einer Opfer-Gruppen-Identität einrichten: als Blinde, als Ausländerin, als muslimische Frau. Aber sie verweigert sich. Das kostet sie auch was, nämlich das Einverständnis der anderen, die sich so einrichten. Trotzdem fühlt sie, dass sich das Verlassen dieser "Gemeinschaftsräume" lohnt. Von mir aus kann ich sagen: Nicht nur für sie, sondern für alle, die auf diese Weise die Chance erhalten, eine so interessante Person wie sie kennenzulernen. Ich bin froh, dass ich die hatte. Aber dazu musste sie nach "draußen" - (und ich auch - auf andere Weise).

    Nebenbei fällt mir noch auf: Vor meinem inneren Auge ist das Wirtshaus zwar im Hinblick auf den sozialen Status egalitär besetzt, doch halten sich auffällig wenig Migranten dort auf.

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