Donnerstag, 15. Dezember 2011

ZWEITER ADVENT (9. Kapitel zu FRAUENSACHEN)



Elke stellte den Adventskranz, den sie auf dem Weihnachtsmarkt gekauft hatte, auf dem Tisch ab. Der Tannenduft breitete sich in dem geheizten Raum aus. Judith schlief noch. Oder wieder. Sie schlief viel jetzt. Elke ordnete ein wenig die Medikamente, die auf dem Tischchen neben dem Bett lagen. Es war gut, dass Judith und sie sich Hilfe leisten konnten. Judith hatte nicht darum gebeten, bei Elke gepflegt zu werden. Aber als klar geworden war, dass sie nicht allein in ihrer Wohnung bleiben konnte, hatte Elke das Angebot gemacht und Judith hatte nicht gezögert, es anzunehmen. Ich habe etwas Richtiges getan, ohne darüber nachzudenken, dachte Elke. Ohne dass ich geahnt habe, was auf mich zukommt. Es ist  vor allem gut für mich. Ich habe mich noch nie so sicher gefühlt. Sie sah hinunter auf den ausgemergelten Körper ihrer besten Freundin. Wir haben das nicht gewusst, all die Jahre. Wie sehr wir zueinander gehören. Ihr Mobile klingelte. Sie hatte vergessen, es auf stumm zu schalten, als sie die Wohnung betrat. Judith zuckte, schlief aber weiter.

Elke sah auf den Display. Der tätowierte Prinz. Sie lächelte, trat auf den Flur hinaus und schloss sacht die Tür hinter sich. „Du?“ Er war beleidigt. Weil sie ihm nicht mehr so begeistert zu Willen war wie zu Anfang. Stellte die albernste Frage: „Liebst du mich noch?“ Sie hatte nie zu ihm gesagt, dass sie ihn liebe. „Ach komm.“ Dann wurde er wehleidig, flehte. Heute Abend, unbedingt, er brauche sie, es gehe ihm nicht gut,  er sei in einer Krise, beruflich und auch sonst, eine Sinnkrise, er wolle vor allem mit ihr..., etwas klären, auf eine andere Ebene heben das alles,.. Sie hörte ihm zu und fühlte eine Woge der Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Er war ein Kind, ein verängstigtes, trauriges Kind, das gehalten und getröstet werden wollte. „Ja, ich komme zu dir.“, sagte sie. „Bis dann“.  Sie schaltete das Mobile ganz aus, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. „Ich liebe dich.“, flüsterte sie probeweise. Sie musste kichern. Sie wusste in diesem Augenblick, dass sie den rosigen Schwanz des Prinzen nie wieder in ihren Mund nehmen würde. Aber ich liebe dich wirklich, dachte sie. Nur nicht so. So liebe ich dich nicht, dass ich dich schön finde, wenn ich dir den Speichel vom Mund wische. Weil du dich so nach mir sehnst, begehre ich dich auch nicht mehr. Weil du so zitternd die Hand nach mir ausstreckst, kannst du mich nicht mehr erregen. Weil deine Rose keine Dornen mehr hat, ziehst du mich nicht mehr an. Aber ich liebe dich wirklich – wie....einen Sohn, dachte sie kurz. Aber dann schüttelte sie den Kopf. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt, ein eigenes Kind zu haben. So heftig ist das nicht, was ich für dich fühle. ...Wie einen Neffen. Wenn ich ihm das sage, ist es vorbei.

Als sie später Judith davon erzählte, sagte die: „Deshalb musst du es ihm sagen.“ Elke nickte. Sie hatte Tee gekocht, die gekauften Plätzchen auf den Tisch gestellt, obwohl sie wusste, das Judith kaum mehr Appetit hatte, und zwei Kerzen angezündet. „Weißt du, was mich gewundert hat? Dass du sofort zugestimmt hast, zu mir zu ziehen. Früher hättest du Hilfe immer abgelehnt.“  „Ich kann mir das nicht mehr leisten, mich zu zieren.“ Elke strich ihr über den Arm. „Ich bin froh, dass du da bist.“ „Solange ich da bin.“, Judith lachte. „Ich will nicht sterben.“ „Auch darüber bin ich froh.“ „Ich vermisse ihn gar nicht, weißt du?“ „Deinen Mann?“ „Ja. Ich wusste, dass ich ihn nicht dabei haben wollte. Ist das sehr grausam?“ „Hat Gabi das gesagt?“ „Nein. Was meinst du?“ „Ja. Es ist schlimm für ihn. Nehme ich an.“ „Danke.“ „Wofür?“ „Dass du ehrlich bist. Und mir trotzdem hilfst.“ „Nicht trotzdem. Deswegen. Weil du jetzt ehrlich zu dir selbst bist. Du nimmst, was du brauchst.“ „Was noch geht.“ Judith lachte. „Ich hätte mich gern noch einmal Hals über Kopf verliebt. Mich am Strand wild geliebt mit einem. Oder heiße Tränen vergossen vor Herzeleid.“ „Soll ich dir den Ganzkörpertätowierten abtreten? Er ist gut: Geil und romantisch.“ „Mit Rose.“ Judith schaute an ihrem Körper hinab. „Aber dazu wird er sich nicht überwinden können. Und ich auch nicht.“ Sie schwiegen eine Weile. Judith dämmerte vor sich hin.

Sie blinzelte in die Kerzen. „Du hattest nie einen Adventskranz.“ „Stimmt. Keine Kinder. Kein Weihnachtsfest. Ich bin immer in den Süden geflogen.“ „Wir waren meistens an der See in den letzten Jahren.“ Judith schluckte. „Die Ostsee werde ich nicht mehr sehen.“ „Willst du...?“ „Nein, das schaffe ich nicht mehr. Danke.“ „Dir auch.“ „Wofür?“ „Ich war noch nie so daheim, seit ich von meinen Eltern weg bin.“ Judith versuchte zu lachen, konnte die Schmerzen im Unterleib aber dann nicht ertragen und beließ es bei einem Lächeln. „Krieg´ ich auch einen Baum?“ Sie schlief ein.

Elke packte ihre Sachen zusammen und klopfte kurz bei der Pflegerin, um Bescheid zu sagen, dass sie für einige Stunden weg sein würde. Ein letztes Treffen mit dem Prinzen.  Vielleicht half er ihr noch, den Baum hoch zu schleppen. Wahrscheinlicher war, dass er sich zu gekränkt fühlte. Sie freute sich schon darauf, wieder heimzukommen. 

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