Montag, 23. Januar 2012

Englische Notizen. Zweite Lieferung: DAPHNE ORAM

Ein Beitrag von Morel

Desperate Housewives sind ein amerikanisches, kein englisches Phänomen. Jedenfalls gab es genügend englische Künstlerinnen in den letzten 50 Jahren, die sich mit Virginia Woolfs Zimmer nicht begnügten, sondern gleich das ganze Haus als Arbeitsplatz in Beschlag nahmen. Als Kate Bush, die in ihrem Heimstudio schon einmal den Sound einer Waschmaschine besang, kürzlich zusammen mit dem Vorzeigeexzentriker Stephen Fry ihre 50 Wörter für Schnee einspielte, hätte auch eine andere hauptsächlich von zu Hause aus arbeitende Frau in den Sinn kommen können. Daphne Orams Snow, ein auf Youtube zu hörender Soundtrack für einen Dokumentarfilm, klingt nur zu Beginn wie ein zu lange liegen gelassener Track der Instrumentalband Shadows, um sich mit zunehmender Dauer zu einem afro-futuristischen Technotrack zu entwickeln. Töne aus einer anderen Welt, einige Jahrzehnte zu früh. Andere Stücke heißen: Doktor Faustus Suite, Pulse Persephone oder Purple Dust. Lange nur im Internet zu hören, aber in diesen Tagen auch auf Platte oder CD verfügbar, wird Daphne Oram, eine unerschrockene Pionierin der elektronischen Musik ins englische Kulturerbe eingegliedert. Ausstellungen, Konzerte und Kongresse inklusive. Gelebt hat sie arm wie eine Kirchenmaus, wie nach ihrem Tod bemerkt wurde. Denn alles Geld ging in die Rechenmaschinen und Instrumente, mit deren Hilfe sie nach unerhörten Tönen suchte: ihre Oramics-Maschine steht jetzt im Science-Museum. Doch auch der Nachruhm muss hart erarbeitet werden. Mit ihrem Interesse an Sounds und elektronischer Tonerzeugung stieß Oram in ihrem Umfeld, der Informations- und Unterhaltungsbürokratie der BBC, nicht auf Begeisterung. Da war der Pragmatismus des englischen Gemüts ein unüberwindbares Hindernis. Abstrakte Musik mag öffentlichen Institutionen in Köln oder Paris ein Anliegen sein, in London hat jede Kunst eine Funktion. Also gründete Oram, die seit Ende der 40er Jahre für die BBC arbeitete, den BBC Radiophonics-Workshop, ein Tonstudio, in dem vor allem Soundeffekte und Musik für Radio- und TV-Produktionen entstanden. Nach Erledigung der Auftragsarbeiten nutze sie die Maschinerie nachts für ihre eigenen Kompositionen. Sie galt als Nachteule. Aber auf Dauer langweilte sie das Angestelltenleben. Sie kündigte schon nach einem Jahr und entwickelte ihr eigenes Musikstudio Oramics in einem Landhaus in Kent. Hin und wieder kam ein wenig Geld über Werbejingles herein, für die sich ein subventionierter Großkünstler wie Stockhausen wahrscheinlich zu fein gewesen wäre. Der sich aber auch als Genie verstand. Die Hauptarbeit Orams dagegen galt ihrer Forschung, die Töne als den Ursprung der Welt untersuchte. Betrieben nicht von einer New-Age-Phantastin, sondern einer mit Phantasie und Hartnäckigkeit ausgestatteten Ingenieurin. Auf Fotos zeigt sie sich gern vor ihren Aufnahmegeräten, mit Dauerwelle und unauffälligen Kleidern. Vielleicht fand sie in den elektronischen Schwingungen die Töne wieder, die bei den spiritistischen Séancen in ihrem Elternhaus zu hören waren. Aber es ging ihr um kein Jenseits, sondern um Musik für eine neue Gesellschaft. Ein Ausschnitt aus Bacons Nova Atlantis hing in ihrem Arbeitszimmer. In ihrer 1972 erschienen Musikphilosphie An Individual Note Of Music, Sound And Electronics vergleicht sie die Situation des Künstlers in der Gesellschaft mit einem Signal, das auf elektrischen Widerstand trifft. "Wenn Ambition und Inspiration auf einer höheren Wellenlänge senden, als es die Umstände zulassen, kommt es zu Verzerrungen." Sie hat nie geheiratet. Aber wie verzerrt auch immer, in der Geschichte kommt jedes Signal einmal an. 



Mehr zu Daphne Oram auch in der August-Nummer 2011 der englischen Musikzeitschrift The Wire. 

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