Donnerstag, 26. Januar 2012

UNVERHOFFT KOMMT OFT (oder: Das nicht auch noch.)



Martin


Es war am 10. Dezember 2011 um 18:13 Uhr als Martins Mutter ihm auf den Anrufbeantworter sprach, dass sie auswandern werde. Sie mache, sagte Nele, nachdem sie ein wenig irritiert gefragt hatte, ob er tatsächlich nicht zu Hause sei, sich das nicht leicht, ganz bestimmt nicht, keiner wisse besser als er, wie sie sich zusammengerissen habe so lange, denn nur bei ihm habe sie sich manchmal beklagt, aber immer habe sie das schlechte Gewissen gehabt,  weil ihr die Familie nie genügt habe, nichts, was Joachim versuchte, habe sie glücklich machen können, obwohl sie sehr wohl anerkenne, dass er sich Mühe gegeben habe, natürlich, es wäre undankbar, das nicht zuzugeben, aber ohne ihn, ohne Martin, ihren Ältesten, hätte sie das nicht durchgehalten, Joachims Routinen, seine Leidenschaftslosigkeit und diese Mäßigkeit,  all dem habe sie sich nur ausgesetzt um seinetwillen, um Martins willen, weil sie sich ihm vom Moment seiner Geburt an so nah gefühlt habe, obwohl und weil er Joachims Sohn sei, der aber schon früh sich still duldend bloß verhalten habe, vor allem als sie sich in einen anderen verliebte, ja dafür schäme sie sich nicht, dass sie geliebt habe, auch wenn Joachim das sicher gegen sie wenden werde mit seiner im Grunde doch spießigen Moral, denn Joachim, Martin habe ihr das selbst einmal vorgehalten, habe natürlich nur so getan, als sei er einverstanden mit dem Arrangement, auf das sie sich gerade noch so habe einlassen können, in Wahrheit sei Joachims Trauermiene aber eine dauernde Anklage gegen sie gewesen und hätte sie nicht ihn, Martin, gehabt, um sich auszuheulen, dann wäre sie schon längst vor die Hunde gegangen,  - das sagte sie wirklich, Martin staunte, wie klischeehaft sie sich ausdrückte, aber davor hatte sie auch früher schon nicht zurückgeschreckt – jetzt also, fuhr sie fort, wolle sie ihre letzte Chance ergreifen, sie habe einen faszinierenden Mann kennengelernt, der sie gebeten habe, mit ihm zu kommen nach Sao Paulo und schließlich seien alle ihre Kinder erwachsen, was könne sie hier noch halten, heutzutage sei man ja auch overseas nicht aus der Welt, sie werde also den Flieger nehmen heute Nacht, sie brauche nichts weiter, als was in die beiden Koffer passe, die sie mitnehme, alles andere könne Joachim behalten, sie rufe Martin an, um sich zu verabschieden, aber auch, weil da noch eine Sache sei, die sie ihm sagen wolle, man müsse damit rechnen, dass Joachim sich rächen wolle, das sei leider nicht auszuschließen, denn im Grunde sei er eben ein Kleingeist, das Problem, um das es gehe, Martin könne es sich vielleicht schon denken, sei Olga, also nicht, dass Olga ein Problem wäre, doch sei Olga halt nicht Joachims leibliche Tochter, das sollte eigentlich keine Rolle spielen, doch müsse man fürchten, dass Joachim das Olga gerade jetzt offenbaren werde und da sie, Nele, doch weg sein werde, wie sie bereits gesagt habe, bitte sie ihn, Martin, sich  auf jeden Fall die Tage mal bei Olga zu melden, vielleicht irre sie sich ja auch und Joachim sei doch nicht so, auf jeden Fall wolle sie Martin sagen, dass sie ihn liebe und er solle Olga dasselbe von ihr sagen, sie melde sich dann demnächst aus Sao Paulo. Mein Junge, schloss sie. Sie hatte tatsächlich die Nerven und sagte „Mein Junge.“

Martin beugte sich vom Sofa zum Anrufbeantworter herab und drückte die Löschtaste. Er drehte sich zurück auf den Rücken und schloss die Augen. „Das hätte ich lieber nicht  auch noch gewusst.“, dachte er. 

2 Kommentare:

  1. Nele scheint ihren "kleingeistigen" Mann gut zu kennen, denn seine sogenannte "Rache" hat ja schon eine Stunde vorher stattgefunden. Gut, dass diese Eltern so souveräne Kinder haben, aber in Wirklichkeit sind diese wohl doch immer die Leidtragenden. Bleiben sie am Ball, aus unterschiedlicher Perspektive wird daraus ein Stich ins Wespennetz der Familie. Vielleicht hat das egomanische Verhalten darin aber auch seine Ursachen und Berechtigungen auf allen Seiten.

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  2. Ob die so souverän sind, die Kinder? Das weiß ich noch nicht. Die haben ja fast noch gar nichts gesagt. Vielleicht haben sie nur gelernt, sich "zusammenzureißen"? Ich werde sehen (hören!)

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