Samstag, 31. März 2012

DER MOGI ("Das ist pures Gold"), 1973


Die Mogis  tauchten Anfang der siebziger Jahre im Zuge der Schulreform auf. Sie kamen mit dem Halbacht-Uhr Bus an der alten Schule im Mittelweg an. Dieser Bus brachte, nachdem ihre Zwergschulen geschlossen worden waren, die Eingemeindeten aus Detmoll und Arlingen. Die Mogis aber waren gegen unseren „Bergbauern“-Spott immun. Die Dettmoller und Arlinger bezogen nämlich, obwohl ihre Äcker nur unwesentlich höher über dem Meeresspiegel lagen, auf der Basis einer unbegreiflichen, aber wirkungsvollen EG-Agrarregelung Bergbauernzuschüsse, die uns vorenthalten blieben. Wir hatten aber auch etwas davon, denn mit dem Wort „Bergbauer“ konnten wir unserer alteingesessenen Verachtung gegenüber den Dettmollern und Arlingern neuen Ausdruck verleihen. Über die Mogis dagegen sprach man nicht. Es war allerdings bekannt, dass sie aus keiner „richtigen“ Familie kamen.

Jeder Jahrgang hatte seinen Mogi. Zum Schuljahresanfang kletterte unvermeidlich ein neuer, kleiner Mogi aus dem Bus vor der alten Schule. Ihre Vornamen hatten wir entweder nie gehört oder stets vergessen. Sie sahen sich alle gleich: mit ihren roten Haaren und den breiten, gemeinen Gesichtern. Wir fürchteten sie, denn die Mogis schwiegen sich aus, aber es war ihnen alles zuzutrauen. Auf dem Schulgelände blieben sie unter sich, bevor sie den Halbzwei-Uhr-Bus zurück nahmen. Wir fürchteten sie mehr aus Prinzip, denn aus Erfahrung.

Deshalb war es so schockierend, dass eines Nachmittags in den Ferien, als Regine und ich unterhalb des Wehres saßen, über der Hügelkuppe das stumpfe, sommersprossige Gesicht eines Mogis auftauchte. Wir hatten zu Mittag gegessen, um uns dann gegen drei, wie immer in diesem Sommer, die Rollschuhe anzuschallen. Über die Ringstrasse und die Wilhelminengasse rollten wir zum Fluss hinunter. Wir liebten das Geräusch des rauen Asphalts unter unseren Rollen, besonders die Schotterstraßen, wo das Surren der Räder in rhythmisches Rattern überging. Wir hatten auf dem Sportplatz vorbeigeschaut und an der Springgrube, ob etwas los war, aber dazu war es zu heiß an diesem Sommertag. Es sind wohl alle ins Schwimmbad gegangen, dachten wir. Wir kletterten, noch mit den Rollschuhen an den Füßen, die Böschung zum Wehr hinauf. Auf der halbfertigen Betonrampe oberhalb davon zogen wir sie aus und stiegen über die großen Kieselsteine hinunter ans Wasser. Die Steine unter unseren Hintern waren heiß und wir rutschten hin und her, während wir mit den Füßen im Wasser plätscherten. Oberhalb der Rampe erschien jetzt die volle Gestalt des Mogis. Von unten wirkte sein verkürzter Körper noch plumper als sonst. In seinen Händen hielt er links und rechts unsere Rollschuhe.

Mit ausdruckslosem Gesicht registrierte er, dass wir ihm schockstarr dabei zusahen, wie  er sich langsam vornüber beugte, um die Rollschuhe auf die abschüssige Rampe zu setzen. Er fühlte seine Macht, aber sie schien ihn nicht sehr zu freuen. Wir würden ihm nicht zu nahe kommen, das war ihm klar. Ich glaube nicht, dass er uns quälen wollte, aber es musste ein gutes Gefühl für ihn sein, dass auch wir einmal stumm waren und nicht mit den Fingern schnippten wie in der Schule, wenn die Lehrerin eine Frage stellte. Da saßen wir und würden zuschauen müssen, wie unsere Rollschuhe über die holprige Rampe ins Wasser rollten und vielleicht gefiel ihm diese Vorstellung. Wir rührten uns nicht. Wenn der Mogi die Rollschuhe im Fluß versenkt hätte, wäre unser Sommer vorüber gewesen. Es war unvorstellbar, dass wir unser Reich zu Fuß halten konnten.

„Das ist pures Gold.“ Die Stimme war hoch und schrill, selbst am Ende senkte sie sich nicht. Alle drei zuckten wir zusammen. Wer hatte das gerufen? Ich war es gewesen und ich hatte keine Ahnung, worauf ich hinaus wollte. Ich wiederholte den Satz noch einmal, langsamer: „Das ist pures Gold.“, mit Nachdruck diesmal auf dem GOLD. Der Mogi hatte sich aufgerichtet. Die Entfernung der Rollschuhe von der Rampe war größer geworden. Nun machte ich keine Atempause mehr, sondern sprudelte los. Er, der Mogi, sagte ich, irre sich total, wenn er glaube, die Beschläge der Rollschuhe und die Räder seien aus Messing oder so was, was er sich vorstelle, das seien Spezialanfertigungen. „Alles Gold. Die Beschläge, die Kappen, die Räder.“

Er spürte seine  Niederlage sofort. Regine hatte geschwiegen, wie er geschwiegen hatte, und er hätte die Rollschuhe versenken können, wenn er nicht zu langsam gewesen wäre, wenn er nicht gewartet hätte, bis ich sprach. Die Zunge muss trocken gewesen sein in seinem Mund, so ungeübt war er darin, sie zu bewegen, um Worte zu bilden. Er räusperte sich. Ich denke, normalerweise schwieg er, ohne es zu merken. Jetzt aber steckte ihm sein Schweigen wie ein Kloß im Hals, er verschluckte sich beinahe daran, er wollte es brechen. Er sah hinunter zu uns, zu den Steinen, da war noch Platz, es war doch möglich, dass er sich neben uns setzte und mit uns aufs Wasser sah und vielleicht etwas sagte oder nur zuhörte, was wir redeten. Er machte zwei Schritte auf uns zu. Ich quatschte ununterbrochen weiter. Das sei freilich ein Geheimnis, er solle das für sich behalten, wir wollten ja nicht angeben. Das müsse ja niemand wissen, dass die aus Gold seien, unsere Rollschuhe.

Jetzt fiel ihm etwas ein und er presste es heraus: „Habt ihr auch einen Swimming Pool?“ Dann setzte er sich einige Meter von uns entfernt auf die Steine und stellte die Rollschuhe ab. Regine begann wieder mit den Füßen im Wasser zu plätschern. Na klar hätten wir einen Swimming Pool, sagte sie. Und fing an aufzählen, was wir noch alles hätten, weil wir doch Millionärstöchter seien. Der Mogi wiederholte das Wort: „Millionäre.“ Sonst sagte er nichts.  Er saß einfach da, stützte die Hände auf die Knie, hörte zu, wie wir unser Millionärsmärchen weiter und weiter spannen, und sah traurig aus.

Ich weiß nicht  mehr, wie der Nachmittag endete. Wahrscheinlich gingen wir einfach und ließen ihn sitzen.Als die Sommerferien vorüber waren, sahen wir den Mogi auf dem Schulhof. Wir fühlten uns schuldig. Deshalb schauten wir an ihm vorbei. Der Mogi dagegen beobachtete uns aus den Augenwinkeln und stellte sich manchmal weg von seinen Brüdern in unsere Nähe. Vielleicht bedauerte er, dass er die Rollschuhe nicht die Rampe hatte hinunter rollen lassen. Spätestens im Herbst verschwand er für uns wieder in der Horde ununterscheidbarer Mogis, die in den Pausen zusammen standen und sich anschwiegen. Zwei Jahre später war unsere Grundschulzeit zu Ende und keiner der Mogis tauchte auf der Gesamtschule auf, an die wir wechselten. Aber ich vergesse nie den rötlichgoldenen Glanz der Haare des Mogi an jenem Nachmittag am Fluß. 

2 Kommentare:

  1. Auch dieser Text ist pures Gold. Wenngleich Erinnerungen wohl eher Amalgame sind. Ach, und er ruft eine Erinnerung aus meiner Kindheit wach ... (vielleicht ganz bald in meinem Blog)
    LG, Iris

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  2. Liebe Iris, "Prinzessin vom andern Stern", tatsächlich sind alle Texte unter dem Label "Auto.Logik.Lüge.Libido" genauso wahr wie das Funkeln der Sternenprinzessin (und also absolut wahr!). Es sind "amalgamierte" Erinnerungen, ja. Die Scham und das Schuldgefühl, die kann ich heute noch fühlen, und die Erleichterung und den Triumph. Eine sonderbare, auch ein wenig böse Mischung...
    Herzliche Grüße
    Melusine

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