Donnerstag, 15. März 2012

"Ich bringe ihm Berlin, das in meinem Schoß liegt." - DAS KUNSTSEIDENE MÄDCHEN von Irmgard Keun

„Wann hatte denn wohl jemals bei mir ein Mann Hände, die genau gewusst haben, wenn es mir nicht passte, dass sie sich bewegten? Und da gibt es doch nun wirklich zwei Arten von Männern: nämlich welche mit tausend Händen, wo man nicht weiß um Gottes willen, welche denn nun zuerst festhalten. Und welche mit nur zwei Händen, mit denen man fertig wird einfach durch ein Nichtwollen ohne Festhalten.“

Doris schreibt das auf, über die zwei Sorten Männer, die es gibt und dann noch den einen andern, der Hände hat, mit denen er weiß, wie sie berührt werden will.„Wie Weihnachtskerzen aus Wachs“ sind die Hände des Blinden, der das weiß, und für seine Hände pudert sie sich und für ihn malt sie sich den Mund, obwohl er sie nicht sieht, wenn sie hübsch ausschaut. „Ich bringe ihm Berlin, das in meinem Schoß liegt.“, schreibt sie. Aber in Wirklichkeit ist es Irmgard Keun, die nicht Doris ist, die das schreibt. Doris ist achtzehn und Irmgard Keun ist da schon sechsundzwanzig Jahre alt, 1931, als sie Doris mit dem Blinden durch Berlin schickt einen Abend lang, bevor der in ein Heim abgeschoben wird, denn seine Frau – „mager und lang mit Raffzähnen“-  schafft es nicht mehr. Die verbitterte Frau des Kriegsblinden will ihn nicht mit Doris ziehen lassen, aber die ficht das durch: „Und er ist still. Da war ein Kampf über ihn weg. Männer sind alle feige.“

Doris, die aus der „mittleren Stadt“ nach Berlin gekommen ist, weil sie „ein Glanz“ werden will, aber auch weil sie einen Pelz gestohlen hat und fürchtet, dass die Polizei sie sucht; Doris, die Männer benutzt, um sich über Wasser zu halten und ein Stück Brot zwischen die Zähne zu kriegen; Doris, die einmal geliebt hat und sich geschworen, nicht wieder darauf hereinzufallen, diese Doris also hat sich vorgenommen, diesen Abend für Brenner, den Blinden, zu einem besonderen Abend zu machen, von dem er zehren kann, wenn er fort ist aus Berlin. Immer wieder fragt er an ihrem Arm: „Was hast du gesehen?“ und „Was siehst du noch?“ „Ich sehe – gequirlte Lichter, das sind Birnen, dicht nebeneinander – Frauen haben kleine Schleier und Haar absichtlich ins Gesicht geweht. Das ist die moderne Frisur – nämlich: Windstoß – und haben Mundwinkel wie Schauspielerinnen vor großen Rollen und schwarze Pelze und drunter Gewalle – und Schimmer in den Augen – und sind ein schwarzes Theater oder ein blondes Kino. Kinos sind ja doch hauptsächlich blond – ich rase da mit und in meinem Feh, der ist grau und weich – und ganz rasende Füße, meine Haut wird rosa, die Luft ist kalt und heiße Lichter – ich sehe, ich sehe – meine Augen erwarten ein Ungeheures – ich habe Hunger auf was Herrliches und auch auf ein Rumpsteak so braun mit weißem Meerettich und so Stäbchenkartoffeln -“

Das ist Doris, die Irmgard Keun saußen lässt durch Berlin, Doris, die ein Kaffeehausmädchen ist und eine Theaterstatistin und sicher gern als Model arbeiten täte, wie Irmgard Keun, die zur Schauspielschule ging und Männerbekanntschaften hatte, feine und weniger feine wie Doris, aber nicht Doris ist, denn ihr Vater war vielleicht kein Säufer und sie besuchte ein Lyzeum, was man auch merkt, denn sie kann Doris so reden lassen, wohingegen umgekehrt Doris nicht versteht, was die Leute reden im Romanischen Café und anderswo. Das ist ja auch wichtig, dass man als Leserin versteht: Die Autorin ist nicht die Ich-Erzählerin, das lernt man schon in der Mittelstufe: Das erzählende "Ich" nie verwechseln mit der Autorin, sagt der Lehrer. Es spricht immer eine Andere, sowieso, und am mächtigen Hebel sitzt autoritär die Autorin, also hier Irmgard Keun, die das Mädchen vorführen kann an ihren Strippen.
( Und deshalb finden naive Leute wie ich es nicht uninteressant zu wissen, wer die Fäden zieht, anmaßend wie ein Gott, und welchen Mächten und Kulten die oder der sich verschrieben hat, wie immer ohnmächtig und beschädigt jenseits der Fiktionen das menschliche Leben sein mag).

Auf diesem Buch hier steht "Irmgard Keun“ drauf und das ist kein Pseudonym, obwohl es natürlich eines sein könnte, und sie ist 1905 geboren und 1982 gestorben, weswegen man auch weiß, dass sie 1931 26 Jahre alt war, als Doris erst 18 ist. Hinten ist ein Foto drauf. Sie war eine schöne Frau, wie auch Doris ein ansehnliches Mädchen ist und also weiß, was eine Frau mit ihrem Knie machen kann, wenn ein Mann zugegen ist, wie das mit dem Knie ein Versuch sein kann oder eine Drohung oder auch eine Vermeidung, je nachdem wie die Situation ist und der Mann, und selbstverständlich macht sie sich ein Bild davon, wie das für die Männer ist, wenn da ein Frauenknie in den Weg geschoben wird oder weggezogen, je nachdem, was das für eine Frau ist, ob das sich wie ein Angebot anfühlt oder eine Bedrohung oder ein Verlust. Sie rechnet also mit Männerblicken und Männer rechnen mit Frauenknien und es gibt von allen Seiten jede Menge Berechnungen und viele davon gehen auch auf; einige dagegen nicht. Doris badet viel und macht sich schön, aber „wenn dem Runden seine Frau kommt von der Reise“, fliegt sie auf, dann muss sie das Negligé liegen lassen und wieder mit ihrem abgestoßenen Feh auf die Straße. So ist das halt. Doris weiß es: „Hübsche Mädchen sind ein Geschäft.“ (und sogar imaginäre hübsche Mädchen sind eine Geschäftsgrundlage, aber auch nur für eine Weile). Doris weiß es zwar, aber sie hätte es gern anders – und deshalb geht der Abend mit Brenner, dem Blinden, traurig aus.

„...und Liebe ist zufällig zusammen betrunken sein und aufeinander Lust haben und sonst Quatsch“, sagt Doris. Doch Brenner sagt: „Liebe ist mehr.“ und „Aber ich habe eine Sehnsucht.“ Da will sie ihn küssen, tut es aber nicht und seine Augen werden noch toter. Denn Brenner ist nicht in Doris verliebt und weil deswegen die Geschäftsgrundlage fehlt, kann sie nichts für ihn tun. Sie versucht es aber; sie lügt ihm die Sterne herbei: „Es sind gar keine Sterne - , aber sind dann wohl doch hinterm Himmel und scheinen mal eben nach innen, indem man sie umdrehte. Ich habe Sterne sehr gern, aber ich merke sie fast nie. Wenn man blind wird, weiß man ja wohl erst, dass man furchtbar viel vergessen hat zu sehen.“ Und Doris versucht noch mehr, sie versucht die Worte vom Brenner zu denken, aber es ist kein Wald in Berlin und kein Garten, er bedankt sich bei ihr, das soll er nicht, sie fühlt, dass sie ihm nicht helfen kann und sich auch nicht: „Wir gehen – eigentlich lügt die Gedächtniskirche, dass sie eine Kirche ist – denn wenn sie es wäre, müsste man jetzt noch rein und mal dableiben. Wo ist denn nur Liebe und etwas, was nicht immer gleich entzwei geht?“

Als Brenner fort ist aus Berlin, geht es mit Doris noch schneller bergab. Einmal findet sie sogar einen Mann, den sie auch gern hat, und geht mit dem nach Hause und bleibt eine Weile. Sie muss bei dem noch nicht einmal die Beine breit machen, obwohl sie es nicht ungern täte. Der heißt Ernst und liebt immer noch die Frau, die ihn verlassen hat. Und deshalb gibt Doris ihn auf und sich auch. Am Ende weiß sie, dass nichts auf sie wartet, aber: „arbeiten tu ich nicht, dann geh ich lieber auf die Tauentzien und werde ein Glanz.“

Quelle: http://inside.org.au/
i-feared-i-would-never-in-my-life-be-able-to-write-a-book-again/
Arnold Strauss Collection
Irmgard Keun hat einen Roman geschrieben, den die Nazis unsittlich fanden und die Literaturkritik mal ein „typisches Abbild unserer Zeit“ und mal „eine unerträgliche Mischung von Sentimentalität und gemeiner Sinnlichkeit.“ Die Epoche der „Neuen Sachlichkeit“ hat Walter Benjamin für alle Zeiten, so scheint es, bei den Intellektuellen desavouiert. Angestelltenmilieu, Bindestriche, krumme Bilder, Lebensnähe, Zähigkeit, Traurigkeit, die jede kennt – das ist alles zu billig und zu schlicht, zu gierig und zu desolat, zu kindisch und zu abgeklärt. Das ist alles wie Doris. Dass Irmgard Keun über eine wie Doris geschrieben hat und schreiben konnte, ganz ohne sie zu verklären oder zu versüßen, ohne sie mit Hoffnungen zu versehen, die unerfüllt bleiben müssen und ohne sie ernst zu nehmen, wo sie nur kokett sein will, macht für mich noch immer den Reiz und die Qualität dieses dünnen Romans aus.
(Eine Literaturagentin sagte mir neulich: Der Markt akzeptiert nichts unter 180 Seiten. "Der Markt" ist auch im Literaturbetrieb das Subjekt. Und manche Autor:innen machen sich zu Medienhuren, die sich nach diesen Gesetzen anbieten, mögen sie sich auch noch so geziert und gekünstelt winden.)

Obwohl Doris eine Witzfigur ist und sich zu einer macht, obwohl sie so hübsch und so ungebildet ist, so verhunzt und durchtrieben und gerade deshalb wird Doris der Leserin zu einer liebenswerten und tragischen Figur – und Irmgard Keun mit dem Roman „Das kunstseidene Mädchen“ zu einer guten, damals noch sehr jungen Autorin. 
(Von der man, so viel ich weiß, aber nie gesagt hat, ihr Werk sei "erstaunlich reif", was es auch nicht ist). 

Sie erzählt von dem, was sie wusste und kannte, wohl auch als Autorin und aus Erfahrung wusste, dass es nämlich nicht gut gehen kann, wenn eine auf ihre wohlgeformten Proportionen vertraut und glaubt, den Preis dafür selbst bestimmen zu können. Wo eine sich prostituiert, taucht bestimmt ein Zuhälter auf, darauf kann frau wetten. Wer eine Frau ist, wird deshalb auch davon erzählen, was es Frauen kostet, sich und den eigenen Körper auf einem Markt feilzubieten, wo immer das Angebot die Nachfrage übersteigt, statt seinerseits künstlich den Preis hochtreiben zu wollen. 


Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, € 7,95

6 Kommentare:

  1. Das ist schön - die Keun wieder aus dem Vergessen zu heben. Danke dafür.
    Auch "Gilgi - eine von uns" steht in meinem Bücherregal, neben weiteren Werken der Keun, und ist absolut empfehlenswerte Lektüre für gesellschaftskritische Menschen.

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  2. Eine wunderbare Interpretation von Identität, von Autorschaft und wie frei ein Autor sein kann, was er erfindet und in welchen Grenzen der Autobiografie die Erfindung dennoch bleibt. Ich habe das mit viel Gewinn gelesen [und über die kleinen bösen Seitenhiebe gelächelt].

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  3. So böse klingt das? Aber es stimmt: Es ärgert mich, wie in den Diskussionen zum Thema unterstellt wird, die Kritiker:innen des Fakes hätten ein simpel gestricktes Identitätskonzept aus dem 18. Jahrhundert. Meiner Meinung nach ist das Gegenteil der Fall: Es ist tiefstes 19. Jahrhundert (und damit eben auch zutiefst restaurativ, politisch und ästhetisch), Identität vorzutäuschen. Wir sind alle Nicht-Ich und großes ICH und kleines ich (und eine Andere dazu ;-) ). Gerade weil und wenn wir das verstehen, dass wir nicht-identisch sind, wird jedes Projekt, das auf dem Modell der Vortäuschung einer Identität beruht, geradezu albern. Wer spielen kann, braucht nichts mehr vorzuspielen.

    Außerdem ist immer zu bedenken, wie Herrschaft funktioniert. Sie funktioniert auch durch Ausschluss von Wissen. Genau darum geht es auch hier. "Ich weiß etwas, was ihr nicht wisst." - Das haben schon immer die weniger netten Kinder gerufen. Momentan geht es für den Autor darum, den Vorsprung zu behalten, damit seine nächster Marketingstrategie noch aufgeht. Ich habe nicht dagegen. Mich stört nur, mit welchem Mumpitz das theoretisch aufgeblasen wird, als ginge es um "Identität und Fiktionalität" und sonst was.

    Aber eigentlich ist mir der schöne Text von Irmgard Keun viel wichtiger, der hoffentlich weitere Leser:innen findet, obgleich und weil auch sie immer wieder abgetan wurde als "Frauenliteratur". Diese Mechanismen greifen. Weiterhin. Wir leben und schreiben aus unseren Körpern; für diejenigen, die es verleugnen, ist das vielleicht am schmerzhaftesten wahr

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  4. Dank für den Lesetipp, liebe Melusine. Freue mich auf das Knie!

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  5. Es kommt sogar mehrmals vor. So und so!

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