Montag, 30. April 2012

NICHTS GEHT VERLOREN - Diedrich Diederichsen über die Sopranos



Ein Beitrag von Morel

Es braucht ein ganzes Leben verlorener Zeit, um etwas zu schaffen, das der Mühe wert ist. David Chase wuchs in New Jersey auf, bei einem jähzornigen Vater und einer hysterischen Mutter. Er ging in die Matinee-Vorstellungen des örtlichen Kinos, wo Filme liefen wie The Public Enemy mit James Cagney. In einer berühmten Szene presst Cagney eine Frühstücks-Grapefruit im Gesicht seiner von Jean Harlow gespielten Freundin aus. Chase litt sein ganzes Leben unter Panik-Attacken und Depressionen. In den 60ern versuchte er sich als Rock’n-Roll-Drummer und begann schließlich gegen den Willen seiner Eltern ein Filmstudium an der New York University. In den 70ern und 80er Jahren arbeitete er an Fernsehserien wie Detektiv Rockford mit. Es gab ein paar Fernsehpreise, die Emmys, aber Chase war der typische Angestellte einer Unterhaltungsindustrie, die Einschaltquoten nicht durch Überraschungen riskieren möchte. Chase war ein Profi, der wusste, was die Zuschauer wollten. Sein Name jedoch war nur Brancheninsidern bekannt. Aber nichts geht verloren, selbst die Zeit nicht. Mitte der 90er, Chase ist nun 50, konzipiert er einen Fernsehfilm über einen Mafiaboss, der wegen Problemen mit seiner Mutter eine Psychotherapie beginnt. Es gab genau einen Fernsehsender, den Bezahlsender HBO, der das Potential dieser Geschichte erkannte und weitere Folgen beauftragte. Und nun beginnt der Erfolg der Sopranos, Chase trat ins Rampenlicht der Kulturindustrie und alle tauchen sie wieder auf: die aggressiven Väter, die ihre Kinder überfordernden Mütter, die Vorort-Clubs und altmodischen Restaurants New Jerseys, die kleinen Gangster von der Straßenecke gegenüber, die Träume vom großen Durchbruch als Rockmusiker, die Jagd nach Liebe und der Hass auf die Geliebten, die niemals wettmachen können, was schon immer fehlte (James Cagneys Grapefruit wird durch härtere Geschosse ersetzt). Auch Panikattacken und Depressionen werden nicht vergessen: nicht nur Tony Soprano leidet unter ihnen, viele Protagonisten der Sopranos benötigen ihre Auszeiten, um nicht alles kurz und klein zu schlagen. Und allzu oft bekommen sie diese Auszeit nicht, mit den zu erwartenden Konsequenzen für die Gesundheit ihrer Nächsten. Gewalt, Drogen, und dazu immer Popmusik, meistens Independent-Bands aus der Drehzeit, in bedeutenden Situationen aber die großen Songs der Rockgeschichte von Otis Redding, Van Morrison, den Kinks und Bob Dylan, die Songs, die nicht nur David Chase durch Tage brachten, an denen er eigentlich nur schlafen wollte. Die Sopranos waren mehr noch als Filme und Romane das kulturelle Ereignis der Nullerjahre in Amerika (was war es in Deutschland: sicher nicht der Tatort, die Manns, eine gut gespielte und ordentlich ausgestattete Feier des Kulturbürgertums, die Einfühlung in Hitlers Untergang). Die Schlussszene der im Juni 2007 ausgestrahlten letzten Folge der Sopranos wurde und wird dagegen bis heute so vehement diskutiert wie der Beginn und Ende von Kubricks rätselhaften Weltraum-Epos 2001.  Ein Jahr vor Obamas Wahlsieg, der viele wieder an Change glauben ließ, lief die letzte Staffel. In der jeder Versuch, etwas zu verändern, aus der Mafiaorganisation auszusteigen,  tödlich endete. Jetzt, vier Jahre später, ist Change nur noch ein Slogan und die Sopranos immer noch aktuell.

Einen kleinen Abglanz der umfassenden kulturtheoretischen Literatur um diese (und andere Fernsehserien) bringt jetzt der auf Philosophie und Kulturwissenschaften spezialisierte Diaphanes-Verlag aus Zürich in den deutschsprachigen Raum. Mit dem Niedergang der Kinoleidenschaft, vor allem aber auch der zunehmenden Vertrottelung des deutschen Fernsehens wurde das Reden über die Kunst bewegter Bilder (wo auch immer sie abgespielt werden) an die Randbereiche der Öffentlichkeit gedrängt. Mit Bänden über The Wire, West Wing und The Sopranos startet Diaphanes eine Reihe von "booklets" die sich als Begleitlektüre für den Serienjunkie eignen. Mit dem Text zu den Sopranos wurde Diedrich Diederichsen betraut, eine glückliche Wahl, denn als Popgelehrter kann er die Mafiaserie in ihr kulturelles Umfeld einbetten. Das sind aber die Quellen, aus denen Chase für sein Epos geschöpft hat und mit denen sich auch Diederichsen ein Leben lang beschäftigt hat: die Filme von Scorcese und Coppola, Pop- und Rockmusik als warenhafter Ausdruck einer dissidenten, aber imaginierten Individualität, die Konsumkultur als Kampf um die feinen Unterschiede. Dabei leistet er für das Verständnis der Sopranos zweierlei. Er erklärt den Erfolgsfaktor der US-Fernsehserien ziemlich einleuchtend so, dass "ein relevantes zeitgenössisches Kunstwerk, dessen Resonanz nicht auf die Welt der Trottel oder Gebildete beschränkt bleiben wird, nicht dadurch entsteht, dass man den großen Individualismus der Qualität anruft, sondern indem man patchworkartig verschiedene gesellschaftliche Perspektiven vernäht." In der Folge beschreibt Diederichsen diese Perspektiven vom Abenteuertum Christopher Moltisantis über die Doppelmoral von Carmela (Tonys Ehefrau, die in der Kirche um die Vergebung ihrer Sünden und ihren Mann am Abendessenstisch um ein neues Auto oder Druck auf die Baubehörde bittet) bis zur Psychiaterin Dr. Jennifer Melfi, die in der Serie die Distanz des reflektierenden Zuschauers, aber auch die Gefahr der Faszination durch Autorität und Gewalt vertritt. Diederichsen Deutung der Sopranos am Ende seines Essays als Ausdruck eines "alltäglichen Lebens, das sich eh schon die ganze Zeit anfühle wie ein Kampf gegen das Gesetz" ist dann wieder banaler als auch seine eigene Faszination mit der Serie. Die lässt sich besser erklären, wenn man sich erinnert, dass es in 86 Folgen, geschrieben und gedreht von unterschiedlichen Autoren und Regisseuren einen Ausgangspunkt gab, der individuell war: die Biographie David Chases, der auf den Individualismus der Qualität (großer Roman, Pulitzerpreis, Autorenfilm usw.) verzichtet hat und sich mit seiner erfolgreichsten Serie auf eine Reise begeben hat, deren Ende am Anfang nicht absehbar war.

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