Montag, 14. Mai 2012

DER GERUCH DER ANGST (Entwurf)


Und wieder poppt eine unbenannte Datei aus einem verborgenen Winkel der Festplatte auf. O.T., ohne Verfasser:


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Es erreichte ihn dieser Brief am siebten Tag nach der Operation. Schon schränkten keine Verbände mehr seine Bewegungsfreiheit ein. Man bat ihn, an jedem Tage ein bis zwei Stunden im weitläufigen Park spazieren zu gehen, um wieder zu Kräften zu kommen.


Lieber G.,

es drängt mich Ihnen zu schreiben, seit ich von dem Eingriff hörte. Wer hätte Ihnen, ausgerechnet Ihnen (Verzeihen Sie, dass ich so offen bin.) das zugetraut? Ich bin gerührt, lieber G., ja, ich will Ihnen ohne Scham gestehen, dass eine Träne sich meine Wange hinunter stahl, noch ehe ich gewahr wurde, dass sich in meinen Augen die Flüssigkeit gesammelt hatte.

Sie haben es freilich immer vermocht (das wissen Sie auch, nicht wahr?) etwas tief in mir  anzusprechen, eine unerfreuliche Mischung aus Sentimentalität und Grausamkeit. Wäre es nicht so gewesen, hätte nie zwischen uns geschehen können, was doch geschah und mich noch immer quält.

Erst weil Sie sich so entschieden, wage ich es, kann ich es wagen, mich Ihnen gegenüber rückhaltlos zu bekennen. Ja, G., Sie haben mich geekelt in Ihrer Angst, wie Sie es vermieden haben zu kämpfen, wie Sie jeder Konfrontation mit Ihrem Widersacher aus dem Weg gegangen sind. Vor Mitscham bin ich errötet, wenn Sie die Demütigungen, die Ihnen zugefügt wurden, mit einem verhetzten Lächeln ertrugen, wie Sie verkniffen höflich blieben und sich der Schweiß unter ihren Achseln sammelte, derweil Sie sich immer weiter erniedrigten. Der Ekel steigerte sich noch, wenn Sie mir hinterher wortreich bekundeten, Sie verhielten sich nur aus Liebe zu mir so und er wurde zur körperlichen Abwehr, wenn Ihre feige Angst sich zeigte in der Art, wie Sie Ihre Hände nach mir ausstreckten, so vorsichtig und behutsam, so schreckhaft und jederzeit zum Rückzug bereit. Da habe ich neben Ihnen gelegen manche Nacht, nachdem ich aus Mitleid doch noch einmal geduldet hatte, dass Sie sich über mich wälzten und den sauren Saft, der sich in meiner Kehle sammelte, wieder hinunter geschluckt, um nicht auf Sie zu kotzen. Der Geruch, der sich unter den Laken von Ihrem Körper her über mich ausbreitete, war ein Parfüm, das mich tagelang tränkte, wie heftig ich mir auch im Bade die Schuppen von der Haut schrubbte.

Sie sehen, wie ich mich  bemühe, zum allerersten Male Ihnen gegenüber ehrlich zu sein. So, nur so, können, nein müssen Sie schließlich verstehen, dass ich keine andere Wahl hatte, keine andere, als zu gehen, ohne mich von Ihnen zu verabschieden. Ich hätte, wäre ich geblieben, Ihnen auf mehr Weisen wehgetan, als Sie sich ausmalen können. Das ist die Wahrheit, G. und es wird kein Zurück für mich geben, zumal ich in D., wie Sie wohl gehört haben mögen, mehr als einen fand, der mir Ihre Zaghaftigkeit ersetzte.

Doch wünsche, hoffe und – wahrhaftig! – glaube ich, dass sich nun auch Ihnen der Weg eröffnet, sich einem anderen Wesen ganz zu erschließen.

Leben Sie wohl!

Ihre
B.



Vom Fenster aus beobachteten designierte Chefarzt Dr. H. und seine junge Kollegin B. angespannt die Reaktion ihres Patienten auf das Schreiben, das sie ihm nach langer Diskussion hatten überreichen lassen. Es war der erste ernsthafte Versuch, den Erfolg des Eingriffs zu überprüfen. Sie waren zufrieden mit dem Ergebnis.

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10 Kommentare:

  1. all right

    http://www.youtube.com/watch?v=hZOFPy1FJY4

    ;-)

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    1. Rightey! "Komplett hergestellt" - ob G. das wird? Und was war er dann vorher???

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  2. schwierige frage. aber sicher nicht das lämmchen für das er sich immer gern ausgegeben hat. dann doch eher der wolf im schafspelz...

    wie ist das eigentlich, sind gewalt fantasien nicht auch ausdruck einer aggressiven persönlichkeit? was unterscheidet eigentlich den offnen brutalo vom verkappten? ist ein immer glimmendes gewaltätiges licht nicht mindestens ebenso gefährlich wie ein offenes feuer? ehrlich gesagt, gegen ein offenes feuer kann man was unternehmen, aber ein schwelbrand ist eine echte gefahr und sehr heimtückisch....

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  3. oh je, jetzt klingt es wieder so neagtiv, aber vll sollte es da auch, es sollte endlich mal schluß sein mit diesen befindlichkeitstäntzchen( das nur so am rand)

    nein offen ist in jeder hinsicht angenehmer aushaltbar, nicht nur weil ein offenes feuer besser wärmt als so ein restgluthäufchen. nein, wenn schon denn schon, es verbrennt auch besser, ihn, sie , leidenschaften, emotionen, liebesbriefe (elektronische gehen nicht, oder?) neeee die sind wieder so eine halbherzige,schwerentflammbare verkapptversion von feuer.

    ja, ja der geruch der angst, der entsteht wenn unausgegorenes, halbhertziges, unrundes grillgut aufgelegt wird. aber tröstlich vielleicht, die meisten modernen menschen wissen doch gar nicht mehr wie es anders seien könnte...

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  4. Ich kann jetzt nicht ganz folgen, sorry! Welches "Befindlichkeitstänzchen"? Und wessen?

    Ich halte Gewaltfantasien für ziemlich ungefährlich, genauso wie Ego-Shooter, Splatter-Filme oder sakrale Kreuzigungs- und Folterdarstellungen. Da ich sie seit Jahren habe, aber zu keinerlei realen Gewaltausbrüchen (außer gegen Sachen) neige, ist das sogar empirisch belegt ;-).

    (Allerdings: Was immer ich fantasiere - es hat nicht unmittelbar mit Figuren zu tun, die hier erscheinen. Was man über G. wissen kann, ist bloß, dass er Angst hat und sich nicht wehrt. Dass er der Geliebte einer Frau war, die das ekelt. Dass diese Frau ihn verließ und sich andere Geliebte nahm. Dass G. sich einer Operation unterzogen hat. Wie diese Dinge miteinander verbunden sind, bleibt der Phantasie von Leser:innen überlassen. Ob sie überhaupt verbunden sind. Ob S. dieselbe S. ist, die in einem ganz anderen Ton an einen anderen Mann schrieb: Übertragungshäute - all das ist offen.)

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  5. nein, ich halte gewaltfantasien nicht für ungefährlich, schon gar nicht von menschen die sich nicht ganz sicher darüber sind ob sie ihr tagwerk träumen oder ihren nachtschlaf leben.
    ich bin jetzt etwas irritiert darüber, das auf einem so fantastomanen blog, wie dem deinen , einfache gedankenspiele eine solche irritation auslösen. ich dachte immer menschen mit einer neigung fürs fantastische könnten gut umgehen mit gedankenausbreitungen und fatsiemodellen, übertragungshäuten etc...

    ja all das bleibt offen.

    weist du was ich mich gerade frage? warum immer alles offen bleiben muss? was ist eigentlich gegen eine klare aussage und ein klares statement einzuwenden? was soll diese biegsamkeit in jeden richtung, dieses ja, welches nein immer schon mit einschließt? dieses zugeständins, welches sich, nach nicht mal einem satz wieder zurück nimmt? was soll ein mensch mit solcherlei abilvalenzen anfangen? gibt es ein leben im widerspruch, im immerwährenden widerstreit? und wenn ja wie würde man sich dabei fühlen?

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  6. Gibt es ein anderes Leben? Als das im Widerspruch?

    (Die Irritation galt dem Wort "Befindlichkeittänzchen", weil ich nicht zuordnen konnte/kann, um wessen Tanz es dabei geht.)

    Es bleibt alles offen. Und selbstverständlich nicht. Man weiß nichts. Man tut etwas und etwas anderes nicht.

    Alles ist fiktiv. Oder nicht? ;-)

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  7. Gibt es ein anderes Leben? Als das im Widerspruch?

    das kommt darauf an wie ich die schlaglichter setze, welchen teil meines lebens möchte ich denn ausleuchten? das kann phasen weise durchaus die ambivalenz sein, manchmal die harmonie, die gleichgültigkeit, die hoffnung oder hoffnungslosigkeit, die trauer, den schmerz, das leide. die mischung machts für mich und eine rege beleuchtungsdramaturgie, die möglichst viele facetten meiner person in licht und schattenmomente taucht, denn für mich hat ein jegliches seine zeit (Prediger Salomo 3, 1-8 )...wohlgemerkt für mich. aber es soll ja auch andere stücke geben, mit einer eigenen dramartugie...

    und nein, natürlich ist nicht alles fiktiv, selbst wenn meine kommentare unter fremden texten durchaus auch auf mich manchmal den eindruck erwecken, als führte ich selbstgespräche und wäre dadurch gefangen in meiner eigenen fantasiewelt. auch wenn das medium internet die selbstbezogenheit zu fördern scheint, auch wenn das kommentieren fremder texte noch keine unterhaltung ist, so ist es doch alles austausch und der ist ganz real.

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  8. Die verschiedenen Seiten, aus denen ergeben sich ja die Widersprüche.

    "Alles ist fiktiv." - das war und ist ja mit einem Augenzwinkern versehen. Dennoch ist die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion vielleicht nicht so einfach, wie man meistens glaubt.

    Wenn ich schreibe, versuche ich in der Regel nicht, mein eigenes Leben "auszuleuchten" (außer unter "Tagebuch" oder ein wenig auch "Auto. Logik.Lüge.Libido"). Alles andere hat nur sehr bedingt mit mir zu tun - vieles überhaupt nur unbewusst. Selbstanalyse ist nicht so meins ;-). Ich bin Widder und kotze mich eher einfach aus und mach weiter.

    Die Texte unter "Fabelwesen" z.B. sind Remix ganz alter Texte (auch noch analog, z.T. 20 Jahre und älter), die ich in einen anderen Kontext stelle. Der Ausgangspunkt ist meistens das Foto oder die Erinnerung an eine Fabelgestalt, die ich an oder in irgendeinem Mauerwerk vor Jahren sah. Davon merkt man den Texten nichts mehr an, denke ich. Ich will das auch nicht erforschen. Das ist ein wenig Aberglaube: Ich denke, wenn ich mich damit befasse, was "gemeint" ist, werde ich nichts mehr schreiben.

    Tatsächlich will ich keine "Aussagen" machen, weder klare noch unklare. Wenn ich das will und kann (wie über die DFB-Führungsriege), dann tue ich´s. Beim literarischen Schreiben geht´s mir gerade drum, mich vom Aussagen-müssen, also dem (Selbst-)Verhörzwang, unter dem alles etwas "bedeuten" muss, zu befreien.

    Das heißt nicht, dass ich nicht an den Texten "arbeite". Aber es sind die Worte, die Sätze, der Klang, die Gestimmtheit der Figuren, nicht die Aussage, mit denen ich mich beschäftige. Deshalb kann ich auch fast nie einen ernsthaften Beitrag dazu leisten, wenn es darum geht, sie zu "deuten". ---Vielleicht werde ich deshalb dann immer gleich kryptisch und albern. ;-)
    Herzliche Grüße
    M.

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  9. ich versteh deine intention, die form folgt nicht der funktion. es wirkt schon spielerisch auf mich, deine texte, deine auswürfe, hat etwas experimentelles. das netz der blog als spielwiese für schreiberfahrungen, ein kreativitätslabor, oder schule im allerbesten sinne.

    deutungen, gut wer will die immer haben. ich stelle allerdings fest, als ich mir das bloggen zu nutze machte, wählte ich die form als mittel zum zweck. es gab immer eine aussage und der blog war der rahmen, welcher mit text, bild und tondokumeten ausgestaltet wurde. seit mir allerdings der Grund, der verdammt gute grund abhanden kam hat sich das mit den gedanken in szene setzen auch erledigt....

    das ist nur konsequent, denk ich, denn ich bin kein schreiber, in weiten bereichen weniger aktiv, eher passiv, ich LASS mich lieber ins hirn oder anderweitig ficken....

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