Samstag, 5. Mai 2012

LANDPARTIE. Ein Präsident wird gewählt


Ein Beitrag von Morel

Paris ist vielleicht eine Messe wert, aber nur ein kleiner Teil von Frankreich. Und sollte Paris das vergessen, dann wird es alle fünf Jahre einmal daran erinnert, wenn ein    Präsident gewählt werden soll. Denn die Entscheidung fällt nicht in Paris, im Millionärs-Ghetto Neuilly oder den Vororten (mit den niedrigen Wahlbeteiligungen), sondern zwischen den Wiesen, Feldern und Wäldern des wahren Frankreichs, das eben eine Agrarnation ist und bleiben möchte. Dann bricht der politische Tross, die Beamten und Sicherheitsleute, die PR-Berater und Journalisten, die Kameraleute und Claqueure, und natürlich auch der Präsident selbst, auf. Denn nur auf der Landpartie erweist sich die reale Präsenz des französischen Politikers als Gott in Frankreich. Bevor der für den Economist "ziemlich" (rather) gefährliche Monsieur Hollande die Anleihenmärkte in Turbulenzen stürzen wird, begeben wir uns mit drei französischen Politikern auf Landpartie.

Monsieur Lheureux
Der erste ist nur Regierungsrat, aber er wird vom Bürgermeister voller Ehrfurcht wie ein absoluter Monarch begrüßt. Und dann folgt - in Gustave Flauberts Madame Bovary - eine der komischsten Reden der Weltliteratur (während sie den Phrasen über das mit "sicherer und kluger Hand" geführte Staatsschiff nur beiläufig zuhört ist Emma Bovary einem ganz anderen Phrasendrescher ausgesetzt). Aber lauschen wir eine Weile Monsieur Lheureux, der wie alle französischen Politiker das Landleben mehr als die Arbeit im Büro liebt: "Hat nicht jeder von uns schon manchmal über die Bedeutung jenes bescheidenen Tierchens nachgedacht, das die  Zierde unserer Bauernhöfe ist und uns gleichzeitig ein weiches Kopfkissen, einen saftigen Braten für unseren Tisch und die Eier schenkt?" Ein Geschenk, das zu versagen, schon der Majestätsbeleidigung gleichkäme. "Ich käme nicht zu Ende, wenn ich alle die verschiedenen Erzeugnisse lückenlos aufzählen müßte, mit denen die wohlbebaute Erde wie eine großmütige Mutter ihre Kinder überschüttet. Ich nenne nur den Weinstock, den Baum, der uns den Apfelwein spendet, und den Raps. Dann haben wir den Käse und den Flachs. Meine Herren, vergessen wir den Flachs nicht!" Ja, vergessen wir den Flachs nicht. Böser und komischer als Flaubert waren wenige französische Schriftsteller. Aber auch diese Rede ist dann einmal vorbei. "Der feierliche Akt war zu Ende. Die Menge verlief sich...Die Herren schnauzten ihre Knechte an, und die Knechte prügelten das Vieh, das mit grünen Kränzen um die Hörner in seine Ställe zurücktrottete. Ahnungslose Triumphatoren."

Monsieur Augustin
Nach den Triumphen ziehen sich die Präsidenten wieder dahin zurück, wo sie herkommen. Denn kein französischer Politiker darf in Paris geboren sein, sein Stammbaum muss in einer bestimmten Region wurzeln, in der er häufig dann auch seinen Wahlkreis hat (Hollande im Übrigen in der selben Region, in der auch Chiracs Wahlkreis lag). Dort kann er oder sie dann am Wochenende über den Markt schlendern, Käse probieren, ein Brot kaufen und mit den Bauern plaudern. Das ist wahrscheinlich das entscheidende Problem Sarkozys: er hasst das Landleben, er liebt die mondänen Parties oder was er dafür hält. Aber es kommt eh nicht auf vermeintlich wahre Gefühle an, auch nicht bei diesem literarischen Präsidenten, von Georges Simenon nach dem Vorbild de Gaulles geschaffen, der von seinem Landhaus aus immer noch die Strippen zieht: "Er war nicht bibliophil und hatte nie ein Buch seines Einbands oder seiner Seltenheit wegen gekauft. Er hatte sich vor jeder Leidenschaft, jeder Sucht, jedem 'hobby', wie die Engländer sagen, in acht genommen, zeigte kein Interesse am Angeln oder an der Jagd oder an irgendeinem anderen Sport, auch nicht am Meer oder am Gebirge, am Roman oder an der Malerei oder am Theater, und all dies nur...um seine ganze verfügbare Kraft seiner staatsmännischen Aufgabe zu widmen." Der ideale Politiker, er liebt nichts und niemanden. So wird er schon zu Lebzeiten zu der Statue, als die ihn Simenon auf der ersten Seite des Romans Der Präsident vorstellt: "Seine Haut wurde von Jahr zu Jahr feiner und glatter. Wegen weißer Flecken sah sie aus wie Marmor."

Monsieur Sarkozy
Einige Jahrzehnte später hat die erfolgreiche Dramatikerin Yasmina Reza einen gar nicht marmorhaften Präsidentschaftskandidaten auf seinen Landpartien begleitet. Ihr Buch Frühmorgens abends oder nachts ist eine gelungene literarische Reportage, die sich vielleicht gerade  jetzt zu lesen lohnt, nachdem ihr Protagonist vor dem Scheitern steht. Der Ton in Rezas Aufzeichnungen ist anders als bei Flaubert oder Simenon, wie schon dieser Mitschnitt aus der Bretagne zeigt: "Der 1. Mai. Was soll denn der Scheiß, in einer düsteren Leitstelle ein Radarbild anzuglotzen? Habt ihr euch mit der Wettervorhersage beschäftigt? Wer hat denn diese hirnamputierte Idee gehabt?...Die Bretonen sind mir schnurz. Ich soll da zwischen zehn Idioten rumstehen und auf eine Karte glotzen! Eine halbe Stunde, um zur Leitstelle zu kommen, und eine weitere halbe Stunde bis zum Alzheimer-Zentrum! An den letzten Wahlkampftagen in einem Saal eine Karte anglotzen!...Eine immense Wandkarte vom Departement Finistère. Die Worte Helikopter, Briten, Ehrenamt, Guernsey umschwirren sein gravitätisches Gesicht. Hinter den Scheiben die Iroise-See, der Regen, der tiefhängende Himmel."

Ach, Frankreich, wir werden dich vermissen.


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