Sonntag, 6. Mai 2012

PUNK PYGMALION (31): Endgültig vorbei


Fortsetzung des Brief- und Blogromans: PUNK PYGMALION (Folge 1-30: hier)

(Mit Folge 30 ist der Teil des Romans unter der Überschrift ANSGAR abgeschlossen. Es beginnt nun:)


II. LARS

Er gleicht seinem Vater wie ein eineiiger Zwilling und hat doch eine ganz andere Wirkung. Beide haben diesen wuchtigen Oberkörper auf einem eher schmalen Unterbau, die breiten Schultern, die Schaufelhände, die starke Nasenwurzel und das drahtige Haar. Aber wo Ansgars Körper permanent untersetzte Kraft und allenfalls mühsam zurückgehaltenen Trieb ausstrahlte, ist Lars geschmeidig und abwartend. Ansgar war raumgreifend; Lars positioniert sich. Der Schock der Ähnlichkeit wurde auch abgeschwächt, weil Lars, als ich ihn am Samstag vor zwei Wochen in Berlin traf, nicht mehr angezogen war, wie ihn die Augenzeugen in Südfrankreich beschrieben hatten. Er trug eine  graue Cargohose, ein weißes T-Shirt, mit ein paar dekorativen Löchern, und hellblaue Sneaker. Sein Haar war nicht länger schwarz gefärbt, sondern – wie ich annahm  -  sein natürliches ausdrucksloses Dunkelblond.

Wir hatten uns um zwei am Alex verabredet, weswegen ich gegen zehn in der Mark losgefahren war, um mir in der kleinen Wohnung in der Erich-Weinert-Straße noch die vorgeschobenen Interviewfragen zurechtzulegen. Es war der bisher wärmste Tag des Frühjahrs, ein Hochsommertag im April, und schon in der Straßenbahn, eingeklemmt zwischen einem dürren Gothic-Pärchen in schwarzen Klamotten mit Nietengürteln, einer Prenzelberg-Mami mit Bugaboo und einer korpulenten Frau in Jogginghose und überdimensioniertem Albatross-T-Shirt, verfluchte ich, dass ich die Jacke nicht in der Wohnung gelassen hatte. Ich fühlte, wie sich Feuchtigkeit unter meinen Armen sammelte und ein Rinnsaal an meiner linke Flanke hinunter rann. Auf der dunklen Seidenbluse, die ich trug, würden die Flecken deutlich zu sehen sein. Ich wollte Lars kühl und kompetent gegenübertreten,  als erfahrene Kulturjournalistin und nicht wie eine aufgeregte Praktikantin. Ich zog meinen Arm vom Haltegriff weg, stabilisierte meine Position, so dass ich weder gegen den Luxuskinderwagen, noch gegen die Jogginghose mit der latenten Gewaltbereitschaft im Gesicht stieß und schaute auf die Uhr. Ich hatte noch genügend Puffer, deshalb entschied ich, eine Haltestelle eher auszusteigen. Ich streifte die Jacke ab, hielt die Arme vom Körper weg und hoffte, im warmen Wind würde die Nässe bis zwei Uhr verfliegen. Der fast durchscheinende Stoff der dünnen Bluse trocknete tatsächlich rasch. Ich schnüffelte unter meinen Armen. Mein Deo war gut; ich stank nicht. Vor dem Park Inn am Alex lief ich wartend auf und ab. Busladungen mittelalter Berlin-Touristen aus Westdeutschland, das es nun auch seit zwanzig Jahren nicht mehr gab, wurden vor mir auf den Platz gespuckt. „Bisschen billig habbe se das gemacht, hier.“ „Vorhin hat mer in de Seidestraße noch eh wenich was vom alde Oste gesehe.“ „Wolle mer uff´nen Fernsehturm nuff?“ „Was Se da widder defür verlange werde...“ Da tippte er mir auf die Schulter. Es war unmöglich, ihn nicht sofort zu erkennen. Das konnte er aber nicht wissen, glaubte ich, wie ich ihn sofort mit seinem Vater verglich.

Er gab mir die Hand, deutete sogar eine Verbeugung an, allerdings mit einem kleinen spöttischen Lächeln um den Mund. „Ich freue mich, dass Sie sich für meine Arbeit interessieren.“ Ein gewandter und höflicher junger Mann, war mein erster Eindruck, der ganz anders auftrat als sein Vater, wie ich ihn in Erinnerung zu haben glaubte: selbstbewusst, aber nicht aggressiv. „So ein Atelier wie das könnte ich in keiner anderen Stadt als in Berlin finden. Das Gebäude wird abgerissen, aber solange es steht, sind die Etagen an Start ups, Bürogemeinschaften und als Künstlerateliers billig vermietet. Die meisten teilen sich zu mehreren eines; ich habe eine  halbe Etage für mich allein.“ Ich fragte mich, ob er schon so erfolgreich war mit seinen Skulpturen oder ob er so viel geerbt hatte, um sich das leisten zu können. Aber mit solchen Fragen wollte ich nicht einsteigen. Lars hatte sein Atelier auf der 9. Etage einess Plattenbaues ein paar Straßenzüge vom Alex entfernt. Eine halbe Büroetage, mit drei kleineren Räumen, einer Teeküche und einem größeren ehemaligen Konferenzraum. „Ich wohne auch hier.“, sagte er, als er sah, wie mein Blick durch eine geöffneten Zimmertür auf eine Matratze fiel, auf der sich unordentlich das Bettzeug türmte. Er schloss die Tür. „Kommen Sie hier entlang.“ In dem größeren Raum standen einige seiner Papier-Draht-Figuren. Aber in der Mitte war eine Staffelei aufgebaut. „Ja, ich male jetzt. Vielleicht.“ Er wirkte erstmals verlegen. Ich wollte um die Staffelei herumgehen, aber er hielt mich am Arm zurück. „Nehmen Sie doch Platz“, lenkte er mich zu einem Campingtisch mit zwei Stühlen, der in einer Ecke des Raums aufgebaut war. „Ich kann uns Kaffee kochen, wenn Sie mögen.“ Er wollte schon in der Teeküche verschwinden, aber ich rief ihm nach: „Wasser genügt mir.“ Ich konnte keine weiteren Verzögerungen mehr ertragen.

Er kam mit einem Wasserglas zurück und setzte sich mir gegenüber. „Was wollen Sie wissen?“ Ich fingerte meinen Notizblock aus der Tasche. „Erst einmal die Fakten. Wann Sie geboren sind? Wie Sie zur Kunst kamen?“ Er nickte. „Ich bin im Februar 1983 geboren. In Hamburg. Meine Mutter arbeitet an der Rezeption eines Hotels, mein Stiefvater ist Hotelmanager.“ „Ihr Stiefvater?“ „Ja, meinen leiblichen Vater habe ich nicht gekannt.“ „Ich weiß.“, sagte ich. Das konnte ich zugeben, es hatte ja in dem Begleitblatt zur „Fatherhood“-Ausstellung gestanden. „Kunst spielte daheim keine Rolle. Aber ich hatte ein Skizzenbuch meines leiblichen Vaters. Skizzen für Steinskulpturen. Es hat mich immer fasziniert.“ „Weil es von ihrem Vater war?“ „Bestimmt. Es war das Einzige, was ich von ihm hatte. Aber auch, weil diese Skizzen so kraftvoll waren und so wild, weil ich sie spüren konnte, immer schon.“ Er wurde tatsächlich rot. Ich lächelte ihm aufmunternd, wie ich hoffte, zu. „Das war immer ein Teil von mir. Eine eigene Welt, die ich mir in diesem Buch, mit diesem Buch schuf. Ich begann hineinzuzeichnen, den Entwürfen zu antworten.“ „Schon als Junge?“ „Ich weiß nicht mehr genau. Vielleicht mit zwölf oder dreizehn Jahren. Ich war vorsichtig. Nahm nur den Bleistift, trug nicht dick auf. Nie zeichnete ich in die Entwürfe des Vaters hinein, hielt Abstand, radierte oft alles wieder weg; auch das ganz sanft, voller Panik, dass mir das Papier zerreißen könnte.“ „Haben Sie Ihren Vater vermisst?“ Er zögerte mit der Antwort. „Er ist ja nicht gegangen. Er war einfach nie da. Meine Mutter war da, meine Großeltern, später mein Stiefvater. Ich wurde geliebt, umsorgt, mir fehlte nichts. Ich hatte eher mehr. Ich hatte noch ein Geheimnis. Die Welt meines Vaters.“ „Sie tragen seinen Namen? Nicht den Ihrer Mutter?“ „Als Künstlername, sozusagen. Vaters Namen habe ich angenommen, als ich nach Berlin ging.“ „Warum?“ „Ich dachte, dass ich in seine Fußstapfen treten werde.“ „War Ihnen die Konzeption von ´Fatherhood´ da schon klar?“ „Im Grunde ja. Ich wusste, dass ich Vaters Steinskulpturen hauen musste.“ Er merkte, dass ich mich fragend umsah. „Die Steinsachen habe ich bei einem Steinmetz draußen in Brandenburg gemacht. Der hat mir auch Lagerraum abgetreten. Hier hoch könnte ich die kaum schaffen.“ Er lachte ein wenig schief. „Ich wusste auch, dass ich nicht einfach Vaters Arbeiten nachahmen wollte. Ich wollte auf sie antworten. Ein Gespräch herstellen.“ Auch wenn er redete, merkte man, wie sehr er seinem Vater glich und wie sehr er sich von ihm unterschied Dieselbe steile Falte über der Nasenwurzel, die Anspannung der Halsmuskeln, wenn er etwas betonte. Doch sein Ton war nicht angriffslustig, sondern erklärend. Er wollte verstanden werden, nicht behaupten. „Das ist Ihnen ganz wunderbar gelungen.“ „Danke. Es mag unbescheiden klingen, aber ich weiß, dass diese Ausstellung gut war. Sie musste gut werden, weil sie das Resultat meines Lebens ist, meiner Suche nach dem Vater. Als Sie vorhin fragten, ob ich ihn vermisst habe, habe ich das nicht bejaht. Aber ich habe ich mich immer nach ihm gesehnt. Nach der Ähnlichkeit, die alle erkannt haben, wenn sie mich ansahen. Danach, dass einer mich so wiedererkennt, wie ich mich in seinen Zeichnungen gefunden hatte.“ „Und nun?“ Die Frage rutschte mir so raus. Er sah mir direkt in die Augen. Das war ein Blitz zwischen uns, eine plötzliche Verbindung, als treffe uns schmerzhaft ein elektrischer Schlag. Du, du, sag es mir, sag es mir, endlich, sag es mir.

Er stand auf und trat neben die Staffelei. „Das ist eine gute Frage. Darum ging es die ganze Zeit, nicht wahr?“ Seine Stimme war tiefer geworden, das Weiche, Verbindliche war verschwunden, er hämmerte jetzt die Worte gegen mich. „Was soll ich tun, wenn ich verbraten habe, was Vater hinterlassen hat? Wer bin ich, wenn ich die letzte Erinnerung an ihn verbraucht habe? Ich wollte ihn hier haben. Er sollte bei mir sein, in mir, durch mich sein. Ich habe das vollbracht. Und dann kam sie. Die ihn geliebt hatte, und zeigte mir, wie ich ganz er werden könnte.“ Seine Hände streckten sich nach mir aus. „Kommen Sie her.“ Wie unter Zwang trat ich näher an ihn heran. Er zog mich an sich, dreht mich herum, mit dem Gesicht zur Staffelei. „Das ist sie. Die Frau, die mich in meinen Vater verwandelte. Das war die Metamorphose, die ich durchlaufen musste, um mich zu befreien.“ Seine Hände drückten auf meine Schultern. Pranken. Die Pranken des „rough guys“. Da lag Emmi vor mir. Nackt auf einem Felsen, ihr Schoß die Wunde eines Steinblocks, wie ihn Ansgar gezeichnet und Lars gehauen hatte. Aufgerissen. Ein Schlund, tiefer als man schauen kann. Ihre Augen kaltblau. Das Lächeln einer Sphinx. Die Haare wie gelbe Schlangen abstehend vom schmalen Gesicht. Leblos und grausam. Eine bleiche Statue.  Ich hatte das schon länger gewusst, dass sie nicht wiederkehren würde, es aber verleugnet. Sie ist tot und der Mörder steht hinter mir. „Das warst du.“, flüsterte er ganz dicht an meinem Ohr und schob mich dann mit einem harschen Griff von sich und der Staffelei fort.

Mit wenigen großen Schritten erreichte er die Tür und hielt sie auf. „Sie müssen jetzt gehen.“ Mit gesenktem Kopf schlich ich an ihm vorüber. „Gleisbauarbeiten“, flüsterte er, als ich direkt neben ihm stand. „Lese ich schon eine ganze Weile.“ Wie lange?, dachte ich. Ich wollte mich noch einmal umdrehen, aber da hatte er die Stahltür schon hinter mir zugeknallt.

Die Tränen kamen erst unten, nachdem ich wie betäubt mit dem Lift die neun Stockwerke hinuntergefahren war. Im Schaufenster des C & A am Alex sah ich, dass Wimperntusche und Lidstrich schmuddelige braune Spuren auf meinen Wangen hinterlassen hatten. Scheiße. Ich war auch völlig verschwitzt. Für den Nachmittag hatte ich mich mit dem Schriftsteller Alban Nikolai Herbst in seiner Wohnung verabredet. Ich hob den linken Arm hoch und schnupperte in meine Achselhöhle. Jetzt roch ich eklig nach Angst- und Schamschweiß und fühlte mich am ganzen Körper klebrig und schmutzig. Sollte ich die Verabredung mit Herbst absagen? Ich sah auf die Uhr. Wenn ich die Tram nahm, konnte ich mich noch einmal in der Wohnung in der Weinert-Straße duschen und zurecht machen, bevor ich aufbrach. An einem Blumenstand kaufte ich ein paar gefüllte gelbe Tulpen, um sie Herbst mitzubringen. Das Gespräch mit ihm würde mich ablenken und aufheitern, dachte ich.

So war es auch. Es wurde ein schöner Nachmittag und später Abend, wir sprachen über Literatur und Kindheit, über Musik und Freundschaft. Fast vergaß ich Lars und Ansgar und Emmi. Vielleicht trank ich ein bisschen mehr als gut war. Herbst behauptete später, wir hätten drei Flaschen Wein geleert. Erst als ich mich, ein wenig schwankend aus dem Bad torkelnd, ins Bett in der Weinert-Straße legte und mich in die Decke rollte, überfiel mich die Trostlosigkeit wieder, die ich gefühlt hatte, als Lars die Tür hinter mir zugeschlagen hatte. Es war gut, dass der Alkohol in meinem Blut zirkulierte, denn sonst hätte ich noch viel länger gebraucht um mich in den Schlaf zu weinen. „Jetzt ist es endgültig vorbei“, war der Refrain des Wiegenliedes, das ich mir sang.


7 Kommentare:

  1. ich finde das ende gut. passt zum anfang und zur gesamten entwicklung.

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  2. Ich sehe in dem Anfang des zweiten Teils das Potential, genauso lang zu werden wie der erste, was mich überrascht hat, aber angenehm. Auch scheint mir die Erzählzeit in der Gegenwart angekommen zu sein und ich bin mir unsicher, ob der zweite Teil sich auch darin unterscheiden wird, dass es keine oder weniger Briefe geben wird. Egal wie, die Sache bleibt spannend und vielleicht passt das Ganze am Schluß auch zwischen zwei Buchdeckel, was ich mir wünschen würde.

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  3. @irisnebel Dieser Teil (31) ist ja eher ein neuer Anfang als ein Ende. Die nächste Schleife. Wie es für Lars war. Oder was davon er bereit ist M. zu erzählen.

    @Bücherblogger Bisher (aber: "die Pläne von Menschen und Mäusen...") ist der Lars-Teil der kürzeste. Es kommt ja noch: III. EMMI. Er (Lars) ist ganz Gegenwart; das stimmt. Selbst die Vergangenheit (seinen Vater) wandelt er in Gegenwart. Emmi und M. gelingt das nicht. Offenbar. --Ich glaube immer, dass ich weiß, wo es hin geht. Aber am Ende wird alles ganz anders.

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  4. haha. ich haette hier gaenzlich beendet. ;)
    nee, es ist auch ein richtungswechsel moeglich, denk ich...
    lass mich gern ueberraschen.

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  5. Liebe Irisnebel,
    willst du denn gar nicht wissen, wie oder wieso Ansgar 1984 verschwunden ist und Emmi 2011 (so scheint es)? Was Emmi mit Lars hatte? Warum sie nicht mehr bei ihm ist? Und was zwischen Emmi und M. wirklich war, warum Emmi so viel log? Ich hatte gehofft, Leser:innen wären da ein wenig neugierig ;-).

    Der Plan ist jedenfalls:
    LARS erzählt seine Version. Was mit Emmi war und wie sie verschwand. Wer sein Vater für ihn ist.
    EMMI zuletzt spricht noch einmal aus dem NICHTS. Knüpft das Band auf. Was "wirklich" geschah. Was sie von M. wollte. Falls das "wahr" ist.

    Die Herausgeberin - ist das M. oder - wie der Bücherblogger nahelegt und ich manchmal hoffe - eine Verlegerin/ein Verleger?

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  6. mich interessierte die figur des Ansgar. der ist fuer meinen geschmack komplett fertig modelliert. ;)
    der braucht auch ein offenes ende, seine mystik, das unaufgeklaerte. ich will nicht das letzte geheimnis eines menschen ergruendet wissen, der so interessant ist. (das gibt es eh nicht, dass man ihm in den kern kommt, in das letzte atom und ich mag auch keine leichensezierung). manche figuren werden nicht plastischer, nicht schoener, wenn sie mit lampen von allen seiten ausgeleuchtet werden.
    ansgar entspricht in diesem zustand den halb herausgeauenen sklavenfiguren eines Michelangelo. weisst du, wie ich das meine? ;)

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  7. Ja. Das Bild gefällt mir. Ansgar wird auch nicht mehr weiter "modelliert". Jetzt beginnen die Teile LARS und EMMI - und ein wenig geht es natürlich auch um die (Lebens-)Lügen der Herausgeberin. Vielleicht ;-)

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