Sonntag, 10. Juni 2012

KREUZBERG - Idylle, Gentrifizierung, Reminiszenz


In meinen Erinnerungen war alles ganz anders. Kreuzberg war hässlich und cool. Die Wände grau, die Häuser verfallen, die Rohre verrostet, die Leitungen offen. In den 80er Jahren dachte man in der westdeutschen Provinz: „In Kreuzberg geht der Punk ab.“ So war es ja auch oder wenigstens ein bisschen. Wenn man nach Berlin fuhr, dann meinte man Kreuzberg. Irgendjemand kannte immer irgendjemand, der jemand kannte, der in Kreuzberg irgendwo in einem Hinterhof hauste und eine Matratze frei hatte. Nach 1985 wollte ich erst mal raus aus Deutschland und fuhr, wenn Semesterferien waren, gen Süden oder nach England. Erst in den 90ern landete Berlin wieder auf der Reisekarte. Jetzt ging es in den Osten, das andere Berlin, das man nicht gekannt hatte. Da Ist es inzwischen auch ziemlich schnieke, wie in Kreuzberg. Manche Häuserfront sieht aus wie Hamburg-Blankenese (oder so – ich habe keine Ahnung, wie´s in Hamburg-Blankenese aussieht*).

Gestern war ich – nach langer Zeit – mal wieder in Kreuzberg. War alles anders als in meiner Erinnerung. Nur den Kanal, die Hochbahn und die Brücke am Blücherplatz, die habe ich wiedererkannt.

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"NEUES DEUTSCHES FEUILLETON

Zu den bedenklichen Erbstücken, die uns der Narzissmus der siebziger Jahre hinterlassen hat, gehört ein Trend im Neuen Deutschen Feuilletonismus – jene Kulturkritik, deren Autoren sich selbst wichtiger nehmen als den Gegenstand ihrer Betrachtung. Sich selbst, damit meine ich: ihr Spiegelbild im lauen Bad ihrer Sätze. Dass sie auch Haarausfall oder Hämorrhoiden haben wie andere Menschen, Fickprobleme oder Schwierigkeiten mit dem Hausmeister, nein, das haben sie nicht zum Gegenstand ihrer Diskurse gemacht, sondern die schwarzen Stiefel, die Yamaha oder Harley Davidson, ihr geiles Fußballfeeling, den Fluß ihrer wichtigen Wörter, ihr Styling, ihre Gefühle, ihren eigenen Stil. Nicht etwa rasende Reporter oder politische Paranoiker bestimmen den „new journalism“ bei uns, sondern durchgestylte Narzisse aus den Dunstkreis der Adorno-Seminare und des Kulturbolschewismus der 68er-Bewegung, eine Deinhard-Lila-Fraktion der deutschen Spätlinken."

Jörg Fauser 1983 (aus: 40 Jahre TIP, 40 Jahre Berlin. Geschichten aus tausendundneunsechzig Heften, Jubiläumsausgabe Juni 2012)

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Mensch, Mann, Fauser – so schlimm war das, echt?

(Nur für´s Protokoll: Ich habe keinen Haarausfall und keine Hämorrhoiden, aber ich gebe hiermit zu, dass ich einen Hallux valgus habe und hormonbedingte Schweißausbrüche.)



*Dass es so ist, nämlich ich keine Ahnung habe, wie es in Hamburg-Blankenese aussieht, bestätigt Norbert W. Schlinkert (siehe Kommentare). Es gibt dort offenbar keine Häuserfronten.

20 Kommentare:

  1. Liebe Melusine,
    ich komme auch nicht so oft nach Kreuzberg. Manchmal fahre ich mit dem Rad durch, wenn ich in Richtung Müggelsee unterwegs bin, ab und zu bin ich in der lettrétage bei einer Lesung oder bei ähnlich Kulturellem. Mit Blankenese können Sie Kreuzberg natürlich nicht vergleichen, weil Blankenese schicker Vorort ist – da gibt's keene Häuserfronten nich'. In Kreuzberg scheint mir übrigens im Moment das zu passieren, was wir in den Prenzlauer Bergen schon weitgehend eingemeindet und unschädlich gemacht haben, nämlich die Verschickerisierung, was ja nie schön ist für die, die es sich nicht mehr leisten können. Ich hatte das zum Glück geahnt und bin vor Urzeiten in eine Genossenschaftswohnung gezogen, da kann man wenigstens nicht rausgeekelt werden. Umziehen kann ich mir aber vorerst natürlich nicht leisten, schon gar nicht nach Kreuzberg.
    Interessant das Fauser-Zitat: ich fürchte, er hat immer noch recht. Aber halb so wild, das Problem löst sich ja bald von selbst.

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  2. Wer sich selber nicht wichtig nimmt, der nimmt gar nichts wichtig und auch nicht wahr. Denn in der äußersten Subjektivität scheint das Objektive grell auf. Insofern hat Jörg Fauser unrecht.

    Und auch bei Fauser ist es im Hinblick auf solche Sentenzen das immer das gleiche Gedöns, nicht anders als Jan (Humorspezialist) Fleischhauer: Die sogenannte Linke besäße irgendwo eine Diskurshoheit. Hat sie nicht. Die, welche die Diskurse bestimmen, sind alles mögliche - nur eben nicht links. Richtig ist es allerdings, daß manche Adorniten und Einstlinke in arrivierten Positionen gelandet sind und dabei im Gang durch die Instanzen und Institutionen vergaßen, was Denken bedeutet.

    Andererseits gilt es zugleich, innerhalb der Subjektivität die Bilder der narzißtischen Fixierung und des Subjekts überhaupt aufzulösen und immer wieder neue Bilder zu erzeugen, die sich selber durchstreichen. Unendliches Poetisieren.

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    1. Ist ja auch völlig unwichtig, ob Fauser recht hat, selbst wenn es so ist oder sein sollte. Mit adornischen Wahrheiten lockt man heutzutage jedenfalls keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor. Was soll das zum Beispiel heißen, "in der äußersten Subjektivität scheint das Objektive grell auf"? Für mich heißt so was nur "Ende der Diskussion, ich hab recht". Ohne mich streiten zu wollen: das zeigt genau das, was Adorno und Horkheimer so wunderbar verstanden, nämlich quasi nebenher wahrhaftig klingende Sätze für ihre Jünger zu kreieren, die mit einiger Übung super nachgebetet und geglaubt werden können. In meinem kulturwissenschaftlichen Studium in den Nuller Jahren haben Adorno und Horkheimer jedenfalls keine Rolle gespielt, die wurden ersetzt durch Derrida und Co. Ich persönlich ziehe in jedem Fall das Selberdenken vor, selbst wenn sich damit kein Gang durch die Institutionen bewerkstelligen läßt.

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  3. Wenn jemand von der Philosophie nicht viel weiß, so tut er gut daran zu schweigen. Die üblichen Ressentiment werden durch beständiges Herunterleiern des Immergleichen mit einem Male nicht wahr, gut und richtig.

    Das Selberdenken ist eine feine Sache und kommt, wie man weiß, in der Regel vom Himmel gefallen. Die creatio ex nihilo: das Selberdenken.
    Solche Wörter sind schlichter Blahfasel.

    Die Wendung "ich persönlich" gefällt mir jedoch ausnehmend gut. Und was bietest Du als nächstes?: "Ich unpersönlich"? Wenn solche Koppelungen Resultate des Selberdenkens sind, dann begnüge ich mich mit dem Fremddenken.

    Ach, und übrigens: Die Philosophie will auch keine Hund hinterm Ofen hervorlocken.

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    1. Ich sehe schon: Ich habe Ihre Götter beleidigt und die ganze gute alte Zeit gleich mit! Doch wenn man von Kulturgeschichte keine Ahnung hat, tut man gut daran, in seinem eigenen Himmelreich, dem der Kantianer, der Hegelianer, der Adornoianer oder was auch immer, zu bleiben. Naja, egal, denn wie schon gesagt, das Problem löst sich mit der Zeit von alleine.

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    2. Sie schlinkern oder stänkern mit Ihrem Prenzlauer Nachrichtensender aber auch überall herum, wo nur ansatzweise das Wörtchen Berlin vorkommt. Ich finde den Satz "in der äußersten Subjektivität scheint das Objektive grell auf" durchaus einleuchtend, denn es bedeutet für mich, dass die vom Subjekt wahrgenommenen Unzulänglichkeiten der besten aller Welten und diese offenbaren sich im Augenblick in nichts deutlicher als im politischen Zustand dieses Landes, auch in der reflektierten Sicht des Einzelnen ihren Ausdruck finden können. Selbst das dekonstruktivistisch spielerische Nimmerland, das manche Literatur zu schaffen glaubt, ist nicht wirklich unpolitisch. Es erweist sich im Rückzug auf den Text als selbstständiges Produkt im Gesamtzusammenhang als lediglich gesellschaftspolitisch affirmativere Variante.

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    3. Suchen Sie sich Ihre Feindbilder woanders, ich stehe nicht zur Verfügung. Und bleiben Sie ruhig bei der alten Garde mit den schönen alten Wahrheiten und den Glaubenssätzen, die man so prima keulenartig einsetzen kann. Was Sie und Ihresgleichen betreiben ist Religion, Sie predigen Ihre herausgeklaubten Glaubenssätze, nur daß so langsam niemand mehr darauf reinfällt, eigenständige Denker schon gar nicht.

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  4. Ich sehe grade in einer Seminarpause, wie sich hier beharkt wird. Meine Pause ist zu kurz, um darauf wirklich eingehen zu können. Ich glaube auch, dass ich nur sehr oberflächlich begreife, worum es geht - und spüre, dass ich mit diesem meinem Unverständnis und meiner Oberflächlichkeit in ziemlich großem und wohlmeinendem Einverständnis bin.

    Der Ausgangspunkt des ganzen Disputs war doch das witzige Fauser-Zitat. Er zieht halt vom Leder und trifft einen Punkt. Und ist selbst natürlich gerade in diesem Gestus ein rechter Narziss. So what? Gockel, halt! Ich machte mich drüber lustig. Vor allem darüber, dass er, also Fauser, ganz offensichtlich (wie schon der HERR bei allen seinen Geboten) sich ausschließlich an Schwanzträger richtete. Das fiel aber wohl nur mir auf. Der Menschenmann denkt sich eben als Norm und die andere nicht mit. Die soll sich gefälligst gemeint fühlen, irgendwie, doch. Wenn sie mitreden will. (Will´se aber nicht.)

    Und so schließt sich vielleicht der Kreis. Ich wollte einen Witz machen. Die Herren nahmen´s ernst. (Das stimmt freilich nicht; nur der Fauser wurde ernst genommen. So war´s). Das tut mir leid, trotzdem. Vertragt´s euch halt.

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    1. Halt, liebe Melusine, ich habe das Fauser-Zitat ebenso wie Sie als witzig genommen und deswegen angemerkt, das Problem löse sich ja bald von selbst. Dies gilt vor allem, da es ja aus dem Jahr 1983 stammt (also aus grauer Vorzeit) und sich auf das Erbe der Siebziger bezieht (noch grauer). Ich habe keine Ahnung, warum Bersarin sich darauf einschießt, noch dazu in einer Art, die das Fauser-Zitat in gewisser Weise bestätigt. Und der Buecherblogger hat ohnehin einen Brass auf alle, die seine Kommunikation mit Aléa Torik verfolgten, obwohl sie wußten, daß da ein gewisses Spiel getrieben wird, wenn auch nicht das am Ende vom Buecherblogger vermutete. (Ich konnte nichts sagen dazu, ich stand ja im Wort.) Wahrscheinlich habe ich jetzt aus Versehen in ein Wespennest gestochen mit meiner Anmerkung, die auch nur an Sie gerichtet war und keinesfalls an irgendwelche Gockel. Ich wasche meine Hände also in Unschuld, wie man so schön sagt. (Wer ist dieser Fauser überhaupt? Muß man den kennen?)

      Mit herzlichen Grüßen,

      Norbert

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  5. Normalerweise und in meinem Blog hätte ich jetzt noch einmal richtig schön ausgeteilt und gekeilt, aber weil es Dein Blog ist, belasse ich es mal dabei. Es kann schließlich nicht nur Philosophen, es muß halt im Rahmen der Bolognaisierung des Denkens auch Kulturwissenschaftler geben.

    Ob diese Dinge etwas mit männlich – weiblich zu tun haben, weiß ich nicht. ("Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola") Eine damalige Kommilitonin hätte auf solchen Schwachfug nicht anders und in derselben Weise reagiert. Aber es ist halt Feuilleton, wohl wahr. Und in einem bestimmten Sinne, was die Kulturschickeria betrifft, hat Fauser sogar recht. Gelesen haben Hegel, Marx, Adorno, Derrida eh die wenigsten.

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    1. Normalerweise betrachten wir Kulturwissenschaftler, vor allem die, die von Thomasius bis Derrida einiges gelesen haben, außer Marx natürlich, die Philosophen, Historiker oder Literaturwissenschaftler als hilfreiche Kollegen, die gerne auch mal die wichtige kleinteilige Arbeit übernehmen. Klar, da gibt es immer wieder mal Ärger, selbst wenn man Sloterdijk nicht einmal erwähnt, weil man ihn selbst kritisch sieht. Ist aber alles nicht so wichtig, soll doch jeder nach seiner Façon und so weiter und so weiter. Ich steh ohnehin nicht so auf Glaubenskriege, schon gar nicht auf solche, die aus nichtigstem Anlaß und ohne für mich erkennbare Motivation losgetreten werden. Um was ging's noch mal? Ach ja. Fauser beklagt, es gäbe Autoren, die sich selbst wichtiger nehmen als ihren Gegenstand. Sowas aber auch!

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  6. Normalerweise beschäftigen wir Nicht-Kulturwissenschaftler uns mit Fächern wie Philosophie, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie, Geschichte eine lange Zeit, so daß, nach Humboldtschem Ideal gemessen, ein sehr langes Studium dabei herauskommt, welches sich zudem, angesichts des desolaten Zustandes der Universitäten, vielfach im Bereich außerhalb der Universität abspielte.

    Marx ist, was die obige Reihung betrifft, am Ende der wohl wichtigste. Denn alle diese Bereiche sind nichts, ohne eine Kritik der politischen Ökonomie.

    Glaubenskriege sind in der Tat langweilig, weil unergiebig, weil die Sache verfehlend.

    Autoren, die sich wichtig nehmen: das sollte doch eigentlich die Grundvoraussetzung des Schreibens und Denkens sein. Selbst bei den sich durchstreichenden, dekomponierenden, dekonstruierenden oder multisexuellen Subjekten.

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    1. Es ging um Autoren, die sich z u wichtig nehmen! Die darüber den Gegenstand ihrer Betrachtung vernachlässigen. Und daß das Studium sich (auch) außerhalb der Universitäten abspielt, ist richtig, auch wenn ich noch Glück hatte, im alten "System" insgesamt zehn Jahre an der Humboldt-Uni zu studieren, samt antiker Philosophie und auch sonst allem Pipapo. Macht ja heute kaum noch einer, sicher auch, weil es im neuen System fast unmöglich ist. Was meine "Reihung" angeht, so sind Thomasius und Kierkegaard die wichtigsten Denker, aber das muß eben jeder für sich selbst herausbekommen, und nur für sich selbst.

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  7. Ich habe recht kurz studiert (genau 4 Jahre) und bereue das nicht. Mir ist die Weltfremdheit gerade an den philosphischen Fakultät, die über Erfahrung ("Empirie") vor allem abwertend spricht und meint sich über diese erheben zu können, so fremd gewesen, wie denen meine geringe Hochachtung vor ihren geistigen Höhenflügen. Die "Meisterdenker" benutze ich schamlos wie ein Freier die Nutten und lasse sie fallen, wenn ich genug von ihnen habe. Für diese Vorgehensweise zahle ich den Höchstpreis, nämlich die Nichtanerkennung der Akademie. Stört mich das? Nein.

    Die Diskussion hierunter hat eine Wendung genommen, die ich nicht erwartet hatte und die sich auch kaum (höchstens indirekt) auf das bezieht, was mich umtrieb, als ich das Fauser-Zitat einstellte. Ich fand es vor allem witzig und bezeichnend, mit welcher Selbstverständlichkeit und Unreflektiertheit der Fauser, wenn er 1983 vom Neuen deutschen Journalismus sprach, sich ausschließlich auf Männer bezog. Das war typisch und da trennte ihn gerade nix von den Lederjackenträger-Machos, über die er sich mokierte (machte man sie auf ihr Gerede aufmerksam, würden beide wohl sofort sagen, dass Frauen selbstverständlich immer mit gemeint sind, irgendwie, aufgefordert sich mitzudenken. Spräche aber ich umgekehrt über Highheels, Glitzerschminke und Lippgloss zuckten sie die Achseln, ohne sich im mindestens gemeint zu fühlen.) Ob dieser Typus aus Adorno-Seminaren rauskommt oder aus Lacan-Sitzungen ist mir eigentlich ziemlich egal. Ich finde diese Typen lustig - und bedauere sie ein bisschen.

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  8. Liebe Melusine,

    ich habe insgesamt (bis zur Verteidigung gerechnet) zehn Jahre studiert, weil ich nach vier, fünf Jahren zwar das Soll erfüllt, aber noch nicht genug selbst getan hatte, meiner Ansicht nach. Ehrlich gesagt, wollte ich v i e l mehr wissen und dann Bücher schreiben.
    Mit dem ersten Absatz sprechen Sie mir übrigens sozusagen aus der Seele, auch wenn ich das Nutten-Freier-Gleichnis nicht benutzen würde, weil es da ja um was ganz anderes geht, nämlich um Triebabfuhr u n d Geldverdienen, während es bei der hier verhandelten Sache ausschließlich um Triebabfuhr geht, also um den Trieb zum Denken und dessen Formfindung. Selberdenken wird in dem Zusammenhang, das wird oben ja deutlich, von einigen Zeitgenossen allerdings nicht als wünschenswert betrachtet – ich bleibe aber trotzdem dabei, Meisterdenker her oder hin, gerührt oder geschüttelt.

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    1. Na ja, die meisten "Meisterdenker" haben an ihren Apologeten und Schülern auch ganz gut verdient. Nicht alle natürlich. Aber es gibt ja auch weniger geschäftstüchtige Nutten ;-). Es ist ein krummes Gleichnis, ich geb´s zu und würd´s auch nicht wieder verwenden. Es hatte nur grad die Grobheit, die ich mir im Umgang mit den Meistern angewöhnt hat und die mir bekommt ;-).

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  9. Ja, die Diskussion hat eine Wendung genommen. Und so entgleitet – wie immer – der Diskurs dem Auslöser oder der Auslöserin. Das ist gut, und ich habe mit Absicht und bewußt auf die Spitze getrieben, denn bekanntlich erscheint die Wahrheit in den Extremen. Zudem: das ewige Gerede von den Adorniten höre ich seit dreißig Jahren von Menschen, die (häufig) keine drei Zeilen von Adornos Texten gelesen haben. (Für die an Faktizität und Geltung Interessierten: ich bin Jahrgang 64)

    Das Selberdenken ist eine feine Angelegenheit und beruht auf jener wunderbaren narßistischen Illusion: als gäbe es da ein Selbst oder ein Subjekt, das denkt und aus sich heraus gebiert. Zudem: auch wer eins zu eins abpinselt und nicht einen Satz schreibt, der von ihr oder ihm selber stammt, wer nur in Zitaten spricht/schreibt, stellt bereits durch die Anordnung dieser Zitate etwas her, was das bloße Zitat übersteigt. (Siehe etwa: Walter Benjamin, Das Passagenwerk – Meisterdenkertum sozusagen.) In bezug auf diesen Aspekt des Selbst wäre die Frage nach dem Original und der Kopie zu stellen. (Auch wieder Benjamin, aber diesmal gegen Adorno)

    Aber zur Sache:

    Es geht in der Philosophie, innerhalb der Formen von Reflexion nicht um Meisterdenker, Herren oder Herrinnen (oder soll ich Frauinnen schreiben?) des Diskurses, nicht um Meisterdenkerinnen und dergleichen, sondern um den Inhalt, um den Gehalt. Einen Text von Hegel, Butler oder Lacan versteht nur, wer diese Texte liest. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine oder einer Lederjacke, High Heels oder sonst etwas trägt oder wieweit sie und er mit der Empirie in Berührung sind. Man oder frau können diesen Text auch nackt lesen, und wenn beide dazu noch etwas essen, dann haben wir eben „Naked Lunch“. Es läßt sich aus allem ein Ereignis machen. Die Frage ist, ob es dem Text gerecht wird. Irgendwann fing in den Seminaren die Generation Pop, Punk und Postmoderne genauso zu nerven an, wie ehemals die Adorniten. (Andererseits: sie alle waren Fleisch von seinem Fleische, selbst noch ex negativo.)

    Wieweit sich diese Angelegenheiten des Denkens (insbesondere in der Philosophie) mit Erfahrungen koppeln, hängt zudem sehr vom Gegenstand ab. Das transzendentale Subjekt hat leider die dumme Angewohnheit, in der Erfahrung höchst selten aufzutauchen. Man könnte auch schreiben: Es macht sich rar.

    Daß der akademische Betrieb teils ranzig ist und insbesondere in der Philosophie eine große Anzahl an Spacken herumlaufen, spricht nicht gegen das, was dieser Betrieb behandelt. Weil das Brot bei Aldi nicht sehr gut schmeckt, verzichtet schließlich keiner ganz auf das Essen von Brot. Man suche sich dann einen besseren Bäcker. Ich weiß nicht, weshalb allen immer und überall die Kategorien durcheinanderpurzeln und jede(r) auf dieser Unmittelbarkeit eines Zuganges pocht. Das kann man in der Philosophie doch gut lernen: das eine nicht mit dem anderen zu verwechseln, das Transzendentale nicht mit dem Empirischen, die Praxis nicht gegen die Theorie auszuspielen und vice versa.

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  10. Zweiter Teil, weil das Programm so lange Texte nicht sonders mag:


    Ich habe am Anfang meines Studiums die schlimmsten Seminare in Germanistik mitgemacht, wo hauptsächlich Frauen und schlecht gekleidete Männer von ihren Erfahrungen, die sie mit Kafka-Texten gemacht hatten, brabbelten. Diese Äußerungen waren teils so strunzdumm, daß ich eine Zeit lang für Aufnahmeprüfungen an den Seminaren mein Plädoyer hielt – nicht anders, als es Kunst-, Musik, Schauspielschulen und die Mediziner betrieben und wo solche Maßnahmen als selbstverständliche genommen wurden. Denn ich wollte ungehindert durch Erfahrungsaustausch mit Menschen, deren Leben mich nicht im geringsten interessierte, studieren und mich mit Texten befassen. Daß nicht jeder, aber viele Texte durchaus einen Bezug zur Empirie haben, heißt nicht, sofort und unmittelbar alles versinnlichen zu müssen. Dennoch zog ich aus meinen Wahrnehmungen nicht den Schluß, daß schlecht gekleidete Männer oder Frauen per se für die Literaturwissenschaft ungeeignet seien.

    Ja, es gibt ein männliches Dominanzverhalten in den philosophischen Seminaren. Da stimme ich zu, und es existiert eine Weltabgewandheit, die nur dämlich zu nennen ist. Aber wenn einer als Mann bei einer Frau – wie soll ich sagen –: andocken will, dann kommt die Empirie doch schnell genug ins Spiel, um‘s mal sinnlich zu machen: Und die schönsten Momente eröffneten ihr Feuerwerk, verströmen, als Text und Leben sich durchdrangen, und wenn eine Hand langsam den glatten, schlanken Schenkel hochglitt und wenn zwei offene Münder nachts in einer Bar aneinander rammten und wild sich verkeilten und daß ich nur noch den Schlag der Zähne gegeneinander spürte und ineinander gepreßt und diese beiden Menschen küssen sich und die Hände fahren den Körper entlang, bis nach einer viertel Stunde der Barmann sagt: „Jetzt ist aber Schluß hier!“ Und wenn beide vorher noch über Adorno und die Existenz im Fragment gesprochen haben, dann will es mir scheinen, daß die besten Veranstaltungen in der Tat außerhalb der Seminarräume stattfinden.

    Daraus sollten freilich keine falschen Schlüsse oder Verallgemeinerungen gezogen werden.

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    1. Die Erfahrung des Transzendentalen - als Text -, die anders als eine Offenbarung ja nicht gedacht werden kann, die fehlt mir völlig. (Ketzerisch gesagt: Die Gnade wurde mir nicht zuteil.)

      Ich habe, ein wenig polemisch, einen Text :-) geschrieben heute über "transzendentale Texte". Ergeben hat er sich aus der Lektüre des Buches von Antje Schrupp, aus dem im Post auch zitiert wird. Erst hernach las ich deinen Kommentar.

      Ich glaube (und es ist zuletzt eine Glaubensfrage) an der Stelle können wir uns nicht einigen. Daher ist die Frage, ob etwas (?) dem Text "gerecht" wird, in meinem Verständnis, völlig irrelevant. Denn Gerechtigkeit könnte der Text nur verlangen, wenn man ihn als Subjekt begreift. Das eben verweigere ich.

      (Aber ich streite mich gerne...)

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    2. Richtigstellung: Der Post von heute - wie es dort auch richtig heißt - handelt von Texten als transzendenten Subjekten. Das "transzendentale Texte" ist mir untergekommen, weil es oben im Kommentar den Hinweis auf das transzendentale Subjekt bei Kant gibt. Der Unterschied beider Begriffe ist mir schon klar.

      Wobei ich mich eben für Erkenntniskritik an dieser Stelle gar nicht interessiere - und das transzendentale Subjekt für ein - diesseits der Erkenntnistheorie - verzichtbares Konstrukt halte, vor allem, wenn es um Sprachtheorie geht. Es sprechen eben niemals transzendentale Subjekte miteinander, wie ja klar ist.

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