Donnerstag, 21. Juni 2012

MANN ODER FRAU? AUTOR ODER AUTORIN? Das Rätsel ist gelöst.

Petra hat alle Texte richtig zugeordnet und sogar Gründe dafür nennen können (siehe Kommentare ).

Herzlichen Glückwunsch! Phyllis Kiehls Roman "Fettberg" geht an Petra. Meine Leseeindrücke habe ich hier: dargestellt.

Den Zusatzpreis konnte sich allerdings keine sichern. Das war vielleicht auch ein wenig zu schwer. Allerdings, wie ich zwischendurch mit Erschrecken feststellte, hätte man es zumindest bei dem zweiten Text durch Eingabe der Textstelle bei Google herausfinden können. Ehrliche Teilnehmer:innen!

Ich habe für dieses Rätsel ausschließlich Texte ausgewählt, die ich empfehlen kann:

Der erste Textausschnitt ist aus Rainald Goetz: Klage. Er erzählt, wie das Schreiben eines Romanes scheitert, aber im Netz etwas gelingt.

Der zweite Textausschnitt stammt aus Marlene Streeruwitz Erzählungen-Band "Es war nicht wegen...Wie bleibe ich Feministin", den ich bereits empfohlen habe: Hier.

Der dritte Textausschnitt ist aus Alban Nikolai Herbsts Roman "Meere", einem der schönsten Liebesromane der Gegenwart, wie ich finde.

Der vierte Textausschnitt ist dem schmalen Buch "Amouresken" von Franziska von Reventlow entnommen, in dem Emanzipation nicht über die Kopie eines männlichen Lebens (Autonomie durch Arbeit) angestrebt wird, sondern durch radikale und lebensgefährdende "freie Liebe", also durch freiwillige Bindungen, die gerade nicht als Besitzverhältnisse begriffen werden.

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Die Auswahl der Ausschnitte habe ich selbstverständlich bewusst so getroffen. Ich bin relativ sicher, dass sehr viel mehr Leser:innen bei einer Lektüre des ganzen Buches, auch ohne den Namen des Autors/der Autorin zu kennen, das Geschlecht jeweils richtig zugeordnet hätten. Allerdings ist das eine Lesesituation, die eigentlich fast nie möglich ist, da auf jedem Buchcover der Name des Autors/der Autorin prangt und diese häufig auch persönlich bei Lesungen und anderen Veranstaltungen auftreten. Es sei denn, die Leser:innen und Leser werden gezielt irre geführt, was vielleicht reizvolle Effekte erzielen kann, aber auch problematisch ist, jedenfalls dann, wenn eine - wie ich - an einem sokratischen Verständnis festhält, in dem keine Aussage - und also auch kein Text - ernst genommen werden kann, für die niemand als Person bürgt. Mir ist aber durchaus bewusst, wie fragwürdig diese Position aus der Perspektive jener ist, die Texte nicht als Gesprächsangebote lesen und verstehen. Jedoch habe ich - gerade im Netz - die Erfahrung gemacht, dass es diese persönliche Bürgschaft gibt und dass es auf sie ankommt. Gerade weil ich keine "Schriftgläubige" bin, ist die Netzliteratur,  die den kommunikativen und provisorischen Charakter des Geschriebenen betont, für mich eine eigenständige und wichtige Form. Denn selbstverständlich prägen Medien das Gespräch und dessen Verlauf; bedeutet eine Satzfolge, die zu einem Gegenüber gesagt wird, nicht dasselbe wie dieselbe als "gedruckter Text" oder eben als "Post" im Netz. Die Idee vom mit sich selbst, jenseits seiner Vermittlungsform und - situation, identischen Text ist historisch im Übrigen sehr eng mit dem Aufkommen der monotheistischen Religionen, in unserer Kultur durch die Verbindung von Christentum und nach-sokratischer griechischer Philosophie, verknüpft. Der Fetisch "Schrift" prägt diese Kultur seither. Das Netz eröffnet auch die Chance, glaube ich, sich von diesem Fetisch zu lösen. Das tut aber den Fetischisten, zu denen ich auch selbst gehöre, weh.)

Ich hatte es schon in einem Kommentar geschrieben: Es gibt wohl keine "genuin" weibliche oder männliche Schreibweise. Aber es gibt männliche und weibliche Schreibende. In unserer Gesellschaft ist das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit so dominant, dass es sowohl beim Schreiben wie beim Lesen eine bedeutende Rolle spielt, welches Geschlecht Autor:in oder Leser:in haben. Es bleibt uns Geschlecht nicht bloß äußerlich, sondern prägt uns in der Selbst- und Fremdwahrnehmung bis tief in die Körperempfindungen hinein, bis hinein in das, was eine jede und ein jeder an sich als "natürlich" empfindet. Deshalb halte ich das "Absehen" vom Geschlecht (ob in der Literatur und Kunst oder sonst wo) für eine Sprechweise, die aktuell den Formierungsbestrebungen in die Hände arbeitet, die alle Differenzen (strukturelle  Diskriminierungen, aber genauso Lebensentwürfe, in denen die Idee eines "ganz anderen Lebens" und einer ganz anderen Gesellschaft keimt) mit dem pseudoliberalen Rekurs auf das "autonome Individuum" (das als Realität und nicht kontrafaktisch angenommen wird) und dessen angeblich freie Entscheidungen weg diskutieren will. Da kommt dann  regelmäßig raus, dass wir alle - irgendwie und am Ende doch - gleich sind und die Welt, so wie sie ist, "freiwillig" genau so gestalten, wie es richtig und "natürlich" ist:  z.B. monogame heterosexuelle Beziehungen als Norm zu sehen, Liebesverrat zwingend mit Eifersucht (also Besitzverhältnissen) zu verknüpfen, das Streben nach Eigentum für "menschlich" zu halten, bestimmte Hierarchien und Machtverhältnisse als unvermeidlich anzusehen usw. usw. usw. Aus einer solchen Haltung entstehen auch die Romane, die genau solche Verhältnisse nicht nur abbilden, sondern affirmativ als zwingend setzen, statt das Zwanghafte dieser Verhältnisse zur Erscheinung zu bringen. Jede Abweichung wird als eine "freie Entscheidung" begriffen, die daher angepasst werden kann und muss an die vorgeblichen Zwänge (also die bestehenden Strukturen, Wirtschaftsweisen und Lebensformen). Deshalb wird zum Beispiel dem Streit über die "homosexuellen Ehe" vielmehr Raum gewidmet als der Idee, dass verbindliche Sorgeverpflichtungen überhaupt nicht zwingend mit der sexuellen (Paar?-) Beziehung verbunden werden müssten.

Obwohl aber Geschlecht prägend ist, ist es andererseits nicht die einzige Prägung der Schreibenden und Lesenden. Nur deshalb war und ist es möglich, dass viele männliche Autoren ihre Konflikte mit "Männlichkeit" a l s und über weibliche Figuren ausgeschrieben haben. Ich denke an Madame Bovary, Effi Briest oder Anna Karenina. "Weiblichkeit" ist in der patriarchalen Gesellschaft immer auch ein Ausdrucksmittel gewesen für dissidente Männlichkeit. Umgekehrt ist diese Möglichkeit selten genutzt worden (Emily Brontes Heathcliff  fällt mir spontan ein.). Auch das hat Gründe. 

Am Horizont, als Utopie, stelle ich mir eine Literatur vor für eine Gesellschaft, in der Geschlecht weniger formierend in Selbstdefinition und -wahrnehmung eingreift und in der mehr Formen und Inszenierungen von "Männlichkeit", "Weiblichkeit" (und allem anderen) möglich sind, als wir jetzt erahnen können. Bis dahin und um dahin zu kommen, möchte ich aber noch mehr darüber erfahren und lesen, was "Weiblichkeit" aus der Perspektive von Frauen bedeuten kann. Dabei interessiert mich gegenwärtig besonders, wie die Beziehungen zwischen Frauen sich auf die Idee von "Weiblichkeit" auswirken,  Frauen-Freundschaften und -Lieben. Denn was im "realen" Frauenleben von so großer Wichtigkeit ist, spielt in der Literatur  kaum eine Rolle, die seit Jahrhunderten immer wieder und wieder von Mann-Frau-Beziehungen und Männerfreundschaften erzählt hat. Ob männliche Autoren hierzu einen Beitrag leisten können, weiß ich nicht. Ich kenne kein Beispiel (außer aus Leo Tolstois Romanen, bei denen aber viele Literaturwissenschaftler:innen inzwischen annehmen, dass die Frauengespräche von seiner Frau Sofja geschrieben wurden).

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