Mittwoch, 22. August 2012

DOCUMENTA (13) (4): Wirksame Wunderkammer


Die Morgensonne hatte den 8. Stock noch nicht erreicht, als ich aufwachte, zu unserem zweiten Tag auf der documenta 13. Uns war am Samstag klar geworden, welch einen kleinen Ausschnitt des Gesamtprogramms wir an den zwei Tagen nur würden sehen können. Die Karlsaue hatten wir am frühen Abend des Vortages nur noch durchstreift, verschwitzt und ein wenig erschöpft von staubiger Hitze und Betontreten. Unter dem Dach des  Pavillons von Paul Ryan hatten wir eine Weile einer Diskussion in englischer Sprache über Rationalismus und Wirtschaftswissenschaften gelauscht. Amüsiert hörten wir unter anderem, dass Nobelpreisträger John Nash, dessen Lebensgeschichte Grundlage des Plots für „A Beautiful Mind“ war, sich – nachdem seine Schizophrenie im Alter abgenommen hatte -  höchst erstaunt darüber äußerte, wie seine mathematischen Berechnungen zur Grundlage von Wirtschaftstheorien und für Investitionen werden konnten. Gerade er, dessen Krankheit ihn von seinen Mitmenschen isolierte, habe doch gar keine Ahnung gehabt, wie Menschen tatsächlich miteinander agierten und aufeinander reagierten. Der New Yorker Künstler Paul Ryan gibt in diesem Pavillon Gästen und anderen Künstler:inne:n die Gelegenheit nach dem Prinzip des „Threeing“ zu kommunizieren. Bei „Threeing“ werden sechs Positionen für die Teilnehmenden codiert. Im Kasseler Pavillon sind sie durch geknüpfte Teppiche aus Peru markiert. Die teilnehmenden „Darsteller“ rotieren nach einem festen Ritual, das aber Variablen enthält. „Threeing“  ist eine Art kommunikativer Tanz, der Erfahrungen der Dominanz, des Dominiertwerdens, des Dazwischenstehens und des Wechselspiels ermöglicht.

Ryans Arbeit ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Macherinnen der documenta keinen am Werk orientierten Kunstbegriff vertreten, aber auch keinen konzeptionellen. Kunst wird von ihnen vielmehr als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Diskurses verstanden, an dem sie sich mit eigenen Fragestellungen beteiligt. Daher ist die "alte" Frage an die moderne Kunst: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ obsolet geworden. Wichtiger als die Bedeutung des „Werkes“ wird die Entfaltung von Wirksamkeit, jedoch nicht mehr einseitig als „Belehrung“ des Publikums, wie es die aufklärerische Wirkungsästhetik vorsah, noch als eine Art „Sozialgeschichte der Kunst“, sondern als Aufforderung und Herausforderung, sich „von sich ausgehend“ den Erfahrungen der Anderen und dem Gespräch zu stellen. Von daher gedacht sind Kategorien wie Identität und Autonomie schlicht überholt. Sie müssen auch nicht mehr in einem postmodernen Verfahren „dekonstruiert“ werden. Es bildet sich die Vielfalt der Identitäten und Beziehungen (Abhängigkeiten) aus den Erfahrungen und dem Austausch selbst und kann von daher reflektiert werden.

Eine Voraussetzung der Wirksamkeit bleibt die „Leersteelle“, die Lücke, in die hinein und über die hinaus, gefühlt, erfahren und gedacht werden kann. Auch diese wird von den documenta-Macherinnen bewusst und stark gemacht. Im Fridericianum, dem Herzen und Gehirn der Ausstellung („The Brain“), wo sonst die Hauptschau geboten wird, bleibt diesmal vieles leer. Durch weiße kahle Räume weht (wie wohltuend an solch heißem Tag) ein kühlendes Lüftchen. Sound-Installationen werden irritiert wahrgenommen und von manchen gezielt überhört: schrilles Sägen, sanfter Pop. „Ich habe schon bessere Songs gehört.“, sagte Morel. So what? Nicht alles gelingt, nicht allem kann sich jede öffnen. Wo wir verschlossen bleiben, halten wir nicht inne und werden nicht vermisst.  Jede/r kann von etwas getroffen werden: „Die Rotunde des Fridericianums ist ein assoziativer Raum der Forschung, in dem anstelle eines Konzeptes eine Reihe von Kunstwerken, Objekten und Dokumenten versammelt sind.“, schreibt Carolyn Christo-Bakargiev. 

Die documenta 13 erprobt auf vielfältige Weise Ausstellungsmöglichkeiten jenseits des White cube, um den – wie Swetlana Alpers es nannte - „Museumseffekt“ zu vermeiden - , die Tendenz dieses Formats, „jedes materielle Objekt zum Zentrum der Bedeutungsproduktion zu machen“ (Dorothea von Hantelmann). Eine davon ist der Rückgriff auf das Modell der barocken Kunst- und Wunderkammer. Man kann das als Versuch verstehen, der Zersplitterung der Welterfahrung in „Systeme“ entgegen zu wirken, die ihrer Tendenz nach – wie sich vor allem im deutschen Sprachraum bei den Luhmann-Schüler:innen nachlesen lässt („Stabilität der Systeme“) – zur Apologie der Stagnation werden kann. Die documenta 13 greift zugleich durch die Gestaltung der Rotunde die Kritik Horst Bredekamps („Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Wunderkammer“, Berlin 1993) an Foucaults Deutung der barocken Kunstkammern auf und knüpft an Bredekamps Hoffnungen an, wie die Kunstgeschichte ihre Erfahrungen und ihr Wissen über das Visuelle in einen nicht sprachzentrierten Diskurs einbringen kann: „Seine (Foucaults) Analyse lebt von der Kritik der interpretativen Sprache, in der alle Ereignisse und Dinge zur Fiktion werden. Ihre Schwäche liegt darin, dass sie das visuelle Erlebnis als Vorstufe zur sprachlichen Fassung und nicht etwa als ein Medium begreift, in das die Sprache historisch und anthropologisch eingebettet ist.“ Die Kunstkammer, die noch nicht nach Kunst-, Handwerk-, Technik- oder naturwissenschaftlichem Objekt trennte, schulte visuelle Assoziations- und Denkvorgänge, die der Sprache vorausgehen. Was durch die schriftzentrierte Aufklärung an Fähigkeiten verloren ging: vorsprachlichen Sinn zu stiften und Zusammenhänge zu erkennen, kann hier (wieder) erlernt werden. Der Mensch (als Subjekt) verschwindet so nicht in einer (digitalen) Zukunft wie Foucaults Sandbild, sondern erfährt sich gerade, indem er sich seiner Endlichkeit durch die Bilder und Objekte erinnert (statt in ihnen Ewigkeit und Verewigung zu beschwören). In der Rotunde werden Objekte und Artefakte aus über 4 Jahrtausenden und aus allen Kontinenten und vielen Kulturen gezeigt. Ihre Beziehungen zueinander und ihre Wirksamkeit ergeben sich aus der Durchlässigkeit mit der die Betrachtende Zusammenhänge, Abstoßungen, Verwerfungen, Überschneidungen in ihrer Wahrnehmung zulässt.

Mario Garcia Torres: Have You Ever Seen The Snow?
Im Fridericianum werden neben den Arbeiten gegenwärtiger Künster:innen auch viele ältere gezeigt. In vielfachen Brechungen stellen sich historische Bezüge her.  Die Geschichten, die erzählt werden, spielen sich dabei nicht mehr vornehmlich oder gar ausschließlich vor der Geschichte Europas und Nordamerikas als Hintergrund ab. Der zweite Ausstellungsort der documenta neben Kassel ist die Hauptstadt Afghanistans Kabul. Darauf wird in Kassel mehrfach Bezug genommen. Ein Wandteppich Alighiero Boettis zeigt die politische Weltkarte  um 1970, deren Osten riesig rot vom Sowjetreich dominiert wird. Boetti reiste in den 70er Jahren viele Male nach Kabul, wo er ein kleines Hotel eröffnete. Der mexikanische Künstler Mario Garcia Torres greift diese Geschichte auf und spürt über Jahre Fotografien auf, die das One Hotel in Kabul zeigen. Torres war niemals in Kabul, aber er sucht auf Fotografien den Ort, an dem das Gebäude, in dem das Hotel betrieben wurde, noch immer steht, von dem allerdings Boetti behauptet hatte, es sei durch einen Bombenangriff zerstört worden. Torres Spurensuche wird als Slideshow dokumentiert: „Kabul war vielleicht der ideale Ort dafür, die Geschichte und die verschiedenen Möglichkeiten eine Geschichte zu erzählen, neu zu denken.“ Besonders in Erinnerung blieb mir das Foto eines namenlosen Deutschen, das einen zentralen Platz von Kabul zeigt, im Vordergrund auf roten Teppichen sitzend zwei Männer mit Turban, während im Hintergrund vor modernen Gebäuden VW-Busse und –Käfer parken. Auch Goshka Macuga greift auf eine ausstellungsgeschichtlich überholt erscheinende Form zurück: das Panorama, um den Bogen nach Kabul zu schlagen. Ihre digitale Collage vereint zwei Hintergründe schein-dokumentarisch: einmal fotografierte Macuga ein Kultureignis in Kassel und einmal in Kabul. Es entsteht ein beklemmend „real-surreales“ Panorama, das von einer züngelnden Schlange, die sich auf einem Teppich in die Höhe räkelt, dominiert wird.

Llyn Foulkes: The Awakening
Neben vielen Arbeiten, die mich weniger beindruckten, bot die Ausstellung im Fridericianum mir zwei echte „Entdeckungen“. Im Dunkeln warteten die leuchtenden Tableaus von Llyn Foulkes. In Kassel ist „The Lost Frontier“ zu sehen, ein Diorama, das Malerei mit gegenständlichen Objekten vereint: Fernseher, Bierflaschen, tote Katzen. Einen Raum weiter hängt „The Awakening“, das ein alterndes Paar in seinem Schlafzimmer darstellt. Diese Vertrautheit wirkt gleichermaßen beklemmend und tröstlich. Die zweite Entdeckung waren die Wandteppische der Schwedin Hannah Ryggen. Ryggen webte u.a. einen Hitlerteppet (1938) und Drammedod (1939) Mit diesen Arbeiten warnte sie nicht nur vor der Kriegsgefahr durch die Nationalsozialisten, sondern wandte sich auch gegen die Komplizenschaft Knut Hamsuns mit den Faschisten. Ryggens Wandteppich „Etiopia“, las ich, wurde zusammen mit Picassos Gemälde „Guernica“ auf der Weltausstellung in Paris 1937 gezeigt. Der Wandteppich hat jedoch als Gattung in der Kunstwelt über lange Zeit nicht den Rang eines Gemäldes erreichen können. Dass dies – auch – mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung zu tun hat, liegt auf der Hand. Die Teppiche Ryggens sind klar gegliedert, die Szenerien und Gesichter bleiben flach, zweidimensional und typisiert. Gerade dadurch aber wird das Zwanghafte ihrer Situation deutlich. Groß und still schauen die gequälten Augen heraus, auf eine Welt, die sie nicht hereinlässt, ins Gewebe bannt.

Hanna Ryggen: Drommedod

In der documenta-Halle enttäuschten mich die Arbeiten des sonst von mir geschätzten Thomas Bayerle. Dafür wurde ich mehr als entschädigt durch Nalini Malanis Video-Schattenspiel: „In search of the vanished blood“. Auf den Wänden des Raumes vollzieht sich eine Collage dramatischer Schattenspiele, die von rotierenden Zylindern, auf die Figuren, Pflanzen, Formen und Gegenstände gemalt sind, geworfen werden. Es entsteht ein schwebender Prozess, eine Erzählung ohne Anfang und Ende. In „In search of the vanished blood“ kombiniert Malani ein Gedicht des pakistanischen Dichters Faiz Ahmed Faiz mit Erzähltexten von Christa Wolf und Rainer Maria Rilke, Bruchstücken aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“, Samuel Beckett „Das letzte Band“ und Mahasweta Devis „Draupadi“ sowie „Klanglandschaften“ aus traditioneller indischer Musik und europäischer Oper. Für die Wirkung dieser Kombination habe ich keine Worte, aber das Spiel aus Musik und Schatten, Worten und Lichtern wirkt bis heute nach.

Zuletzt erlebten wir einen weiteren Höhepunkt unseres documenta-Besuches. Wir sahen in der Orangerie die Hommage an den finnischen Mathematiker, Atomphysiker, Erfinder und Filmemacher Erkki Kurreniemi, der 2005 schwer erkrankte. Zuvor hatte Kurreniemi unablässig seine Forschungen zu digitalen Technologien vorangetrieben, u.a. ein Studio für digitale Musik gegründet und ein so phantastisches Instrument wie das Elektrische Quartett entwickelt, das vier Personen mit ihren Körpern spielen. Auf der documenta ist auch das Gruppensexophon zu sehen und zu benutzen, das vier Musizierende durch Elektroden an ihren Händen zum Klingen bringen. Die Ausstellung zeigt faszinierende Einblicke in das Schaffen Kurreniemis und dokumentiert dessen Anstrengung, sich selbst  umfassend zu archivieren: mit Fotografien, Aufzeichnungen von Gehirnwellen, durch Videomaterial, Audiotapes und schriftliche Notizen. Die Idee war, seinen Geist übertragbar zu machen, ein ebenso erschreckendes wie faszinierendes Vorhaben. Denn; „Wer“ wäre der digitale Geist von Kurreniemi? Die Hommage dokumentiert somit auch das Scheitern seines Projektes, das jedoch nicht für alle Zeiten erledigt zu sein scheint. Auch Kurreniemis Arbeiten sind keine „Werke“, sondern Experimente, die durch den Umgang der Betrachter:innen und Spieler:innen mit ihnen Eigendynamik entfalten. Die Fragen, die Kurreniemi stellt, bleiben unerledigt; seine Ideen verweisen in eine uns noch unbekannte Zukunft. Lange hielten wir uns in diesem Raum auf, der Erkki Kurreniemi gewidmet ist, und er veränderte sich fortwährend durch die Aktivitäten und Reaktionen der Besucher:innen. Am Boten kreiste ein Roboterkopf und fragte: „Do you have parents?“

Wir haben vieles nicht gesehen. Wir waren oft überfordert. Wir hatten Lust. Wir wurden nachdenklich und hilflos, verspielt und erschüttert. Nicht alles hat mir gefallen auf dieser documenta. (Wäre das überhaupt möglich? Und spräche das für die Ausstelllung?) Die documenta hat mir Freude gemacht, vermittelte mir Erfahrungen, gab mir zu denken. Ich wünschte, ich könnte noch mal hinfahren. Und noch mal...



6 Kommentare:

  1. Schön zu lesen! Ich habe nur einen documenta-Tag geschafft, Hanna Ryggs Teppiche sind einer dieser Eindrücke, die mir (trotz allem Vielzuviel) geblieben sind.

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  2. Tolle Bilder, guter Text. Das hat Spaß gemacht.

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  3. Samstag fahren S. und ich nach Kassel. Er war schon mal da, als er einen Termin in Baunatal hatte. Viel erzählt hat er von dem Hüttendorf in der Aue. Habt ihr das nicht gesehen? Nach deinen Berichten müssen wir jedenfalls unbedingt in den Bahnhof. (Da war er auch noch nicht.) (Danke für die Erinnerung an das Buch von Bredekamp. Hatte ich lange nicht mehr in der Hand!)

    LG Sanne

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  4. @Jana und Christoph Vielen Dank für die Blumen. Das freut mich natürlich sehr! HG

    @Sanne Ich wünsch´ Euch ganz viel Spaß! Zum Hüttendorf haben wir es tatsächlich nicht geschafft. Aber S. hat mir davon erzählt, er als er kürzlich hier war. War schön, ihn mal wiederzusehen. Nächstes Mal kommst Du mit! Auf bald!

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  5. Wir waren da! Es war faszinierend. Hanna Ryggen - da habe ich mich lange aufgehalten, mich auch erinnert an deinen Text über den Teppich von Bayeux. (Mit dem Finnen in der Orangerie konnte ich nicht ganz so viel anfangen.) Aber Kentridge! Der S. hat es nun zum dritten Mal gesehen. Schade, dass wir nicht zusammen hinfahren konnten. Ich bin immer noch voller Eindrücke und Nach-Denken! LG

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