Samstag, 11. August 2012

FAMILIENGESCHICHTE (oder: Eine Frau von vierzig Jahren)


Da ist es passiert. Ich habe das immer befürchtet: Die Mitgliedschaft in so einem Buchclub wird sich rächen. Seit langem bin ich – ursprünglich über die Gewerkschaft – Mitglied in der Büchergilde Gutenberg. Immer habe ich es geschafft, rechtzeitig aus dem bibliophilen Programm ein Geschenk für Freunde und Bekannte auszuwählen.* Aber diesmal habe ich den Termin verpasst und prompt wurde mir der Quartalsband zugesandt. Aber: Glück im Unglück! Es war ein Buch, dass ich zwar  nicht in deutscher Übersetzung, jedoch im englischen Original  ohnehin lesen wollte: Vita Sackville Wests „Family History“, in der deutschen Übersetzung: „Eine Frau von vierzig Jahren“.

Bei den unterschiedlichen Lesarten, die diese Titel nahelegen, geht es in der Tat „ums Ganze“, um das, was diesen Roman Vita Sackville-Wests ausmacht. Die deutsche Übersetzung scheint, betrachtet man den Plot „im Recht“ zu sein, denn tatsächlich erzählt Vita Sackville-West hier vom letzten, vom vierzigsten Lebensjahr ihrer Protagonistin Evelyn Jarrod. Mrs. Jarrod führt ein privilegiertes Leben als Witwe eines vermögenden Fabrikbesitzer-Erben, mondäne Trend-Setterin der Londoner High Society und Mutter eines vielversprechenden Eton-Zöglings. Das Leben der ein wenig eitlen und auf charmante Weise herrschsüchtigen Frau gerät in eine Krise als sie sich leidenschaftlich in den 15 Jahre jüngeren Labour-Politiker Miles Vane-Merrick verliebt und eine Affäre mit ihm beginnt. Obwohl Evelyn Jarrods Sohn Dan, der in Eton mit seinen sozialpolitischen Ideen und seinem Interesse für Philosophie ein Außenseiter ist, den Liebhaber seiner Mutter als Mentor verehrt, scheitert die Beziehung des ungleichen Paares. Während Evelyn nur für diese Liebe lebt und auf alle Aufmerksamkeiten, die Miles seiner politischen Karriere, seinem Landgut oder seinen Freunden widmet, eifersüchtig ist, kann Miles es nicht lassen, ihr seine Macht über ihre Gefühle zu demonstrieren. Evelyn begreift, dass die Beziehung keine Chance hat und verlässt ihn. Ihr Leben ist von da an inhaltsleer, eine letzte Begegnung der beiden vertieft den Graben noch, ihre geschwächten Abwehrkräfte versagen und sie stirbt an einer Lungenentzündung.

Stellt man die Liebesbeziehung in den Mittelpunkt, so erzählt Sackville-West davon, wie ein ungleiches Paar zwischen Generationenkonflikt, Standesunterschieden, politischen Differenzen und einem Mangel an gemeinsamen Interessen und Freunden zerrieben wird. Sie lebt für ihren gesellschaftlichen Ruf in einem Milieu, das er verachtet. Er verkehrt in Bohéme-Kreisen und unter Bolschewiken, die ihr exaltiert und roh erscheinen. Während Evelyn in der Vorkriegszeit (der Roman spielt in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts) aufgewachsen ist und die viktorianischen Moralvorstellungen und Klassenunterschiede verinnerlicht hat, sieht der jüngere Miles die Notwendigkeit, die Gesellschaft zu modernisieren, die Geschlechterrollen aufzubrechen und sich gegen soziale Ungerechtigkeit einzusetzen. Trotzdem lieben die beiden einander heftig. Sie erleben auf Miles´  Burg Momente innigen Beisammenseins: „Sie gingen durch den ummauerten Garten; die Doppelspitze des Turms ragte über ihnen in den blauen Himmel, die Bäume waren winterlich kahl und der Himmel voller Krähen. ´Ich kann mir kaum vorstellen, dass es hier noch schöner sein könnte, Miles´. Sie, die früher niemals solche Dinge bemerkt und stets mehr Bequemlichkeit als Schönheit verlangt hatte, war von der Lieblichkeit der Natur überwältigt. Ihre Empfindungen vertieften sich: sie hörte es sogar gern, wenn Miles ihr Gedichte vorlas. ´Ich weiß gar nicht, was du aus mir machst, Miles.´, sagte sie lachend, ´es scheint, als verwandeltest du mich in einen anderen Menschen.´“

Evelyn möchte den Mann, den sie liebt, für sich allein haben, denn der Preis, den sie für diese Liebe zahlt, ist hoch: Während Miles an den Gewohnheiten, Freunden und Interessen festhält, die er auch vor der Affäre pflegte, muss Evelyn ihre sichere Stellung in der Gesellschaft aufgeben, den Tadel und die Verachtung ihrer Schwiegerfamilie für die „gefallene Frau“, die sich einem Jüngeren an den Hals geworfen hat, ertragen. Man könnte annehmen, dass Vita Sackville-West, die mit Violet Trefusis durchbrannte und sich  leidenschaftlich in Virginia Woolf verliebte, für die viktorianischen Moralvorstellungen, denen sich Evelyn so lange beugt und vor deren Bruch sie sich fürchtet, nur Hohn und Spott übrig hätte. Aber so ist es nicht. Sackville-West beschreibt, wie sehr Evelyn, bevor sie Miles trifft, ihre Position in der Familie Jarrod und in der Londoner Gesellschaft genossen hat. Die enge Bindung an die Verwandtschaft hat sie nicht als Gefangenschaft erlebt, sondern als „eine Selbstverständlichkeit“. Erst durch die Liebe zu Miles wird ihr die Nähe der Familie unerträglich und sie verlangt nach individuellem Spielraum: „Sie verachtete sich selbst, weil sie die Ansichten der Jarrods wichtig nahm, und doch waren sie so tief in ihrem Inneren verwurzelt, dass sie Rücksicht nehmen musste. Das machte Miles´ Vorschlag zu heiraten so besonders verlockend. Sonderbarer Weise wollte sie nicht, dass die alten Jarrods Miles deshalb tadelten, weil er sie in den Augen der Welt kompromittierte. Und doch wusste sie, dass sie niemals in eine Heirat einwilligen durfte. Es wäre ihm gegenüber nicht fair. Das war der Grundsatz, an den sie sich strengstens hielt.“

Evelyns Tragik liegt nicht darin, dass sie in Miles den „falschen“ Mann liebt oder darin, dass sie an den falschen Normen wider besseres Wissen festhält. Evelyn, die Miles intellektuell auch in ihren eigenen Augen unterlegen ist, begreift vielmehr eher als er, dass keine dauerhafte Beziehung nur auf leidenschaftlichen Gefühlen beruhen kann, die die Liebenden von aller Gesellschaft isolieren. So wenig er sich der Jarrodschen bürgerlich-spießigen  Moral beugen mag, so wenig kann sich Evelyn in die intellektuellen Kreise integrieren, in denen Miles verkehrt. Evelyn empfindet die Sprechweisen und das Benehmen in dieser Gruppe als grob und ungezogen: „Aber nicht nur, dass sie Themen wie die Notwendigkeit erleichterter Scheidungen erörterten – Schweden sei da ein vernünftiges Land -, das konnte Evelyn noch hinnehmen. Sie wusste, dass die Jugend nicht mehr so unwissend war, wie sie sein sollte –vielmehr flößte ihr die bedingungslose Offenheit Entsetzen ein, diese Offenheit über Einkommen, über ihr eigenes und das anderer Leute, diese Offenheit über ihre Gefühle. Solche Themen waren in der Welt der Jarrods tabu...Doch hier im Hause der Anquetils gab es keine Zurückhaltung. Alle hatten ein Verlangen nach Wahrheit; das war noch der mildeste Ausdruck, mit dem man ihr Verhalten bezeichnen konnte.“ Diesem Verlangen nach „Wahrheit“, das weiß Evelyn, hält ihre Beziehung zu Miles nicht stand. Denn er will „die Wahrheit“ über Evelyn, über ihre Begrenztheit, ihre Ängste und ihr Alter schlicht ausblenden, so lange sie ihn nur in Ruhe seinen Beschäftigungen und seinen Interessen nachgehen lässt. Miles verlangt im Grunde, dass Evelyn sich in sein Leben fügt. Obwohl er durchaus erkennen kann, dass sie nicht hineinpasst, unternimmt er keinerlei Versuch, einen Kompromiss zu finden. Sackville-West zeigt hier, wie das Streben nach „Wahrheit“, der Anspruch auf „Ehrlichkeit“, zu Rücksichtslosigkeit wird.

Doch die Liebesgeschichte der „Frau von vierzig Jahren ist auch eine „Family history“ und deshalb werden die spießigen Jarrods so wenig wie Evelyn als Karikaturen gezeigt. Denn Sackville-West ist, so unkonventiell ihre Ehe mit dem gleichfalls bisexuellen Diplomaten Harold Nicolson war, eine durchaus konservativen Werten verpflichtete Autorin. Es gibt leidenschaftliche Liebe und es gibt die Familien, die über Generationen hinweg Sinnzusammenhänge stiften, die über den Individualismus der Moderne hinausweisen. Auch Miles, der Sozialreformer, der zum Entsetzen seines adeligen Vaters für die Labour-Partei kandidiert, ist in diese Zusammenhänge eingebunden. Die ererbte Burg in Kent, auf der er lebt und das Land, das er als Gutsherr bewirtschaftet, verschaffen ihm jene tiefe Verwurzelung, die es ihm erst ermöglicht, frei zu denken und Neues in Angriff zu nehmen. In Sackville-Wests Roman werden die entwurzelten Erben, die nur noch die Formen der Vergangenheit wahren, der schärfsten Kritik unterzogen. Viola Anquetil, eine ältere Freundin Miles, mit der auch Evelyn sich vorsichtig anfreundet, erläutert, so darf man annehmen, Sackville-Wests eigene Sicht auf das moderne England: „´Nun, ich meine, dass Miles eine Rückkehr zum Urtyp ist. Der Engländer von Stand und Erziehung war nicht immer das vorsichtige, gehemmte Geschöpf, das er heute ist. Es hat eine Zeit gegeben, in der er sich weder seiner Gefühle noch seiner Kultur geschämt hat. Er war damals in gewisser Hinsicht roher und ungeschliffener – weniger ein Gentleman nach moderner Sichtweise, aber eher einer im wahren Sinn, wie ich ihn sehe.“ Miles Stärke und Erneuerungswille, so erschließt es sich den beiden Frauen im Gespräch miteinander, gehen nicht, wie er es sich vielleicht einbilden mag,  aus seinem selbstbewussten Ego, seinem Intellekt und seinen vernünftigen Überlegungen hervor, sondern beruhen auf seiner Bindung an die Traditionen, denen er sich verpflichtet fühlt. Evelyn wird im Gespräch mit Viola klar, dass Leidenschaft und Liebe nicht genügen, um Miles an sie zu binden. Sie wird aus seinem Leben verschwinden müssen, nicht weil er sie nicht oder nicht genug liebt, sondern weil sie, die ältere Frau, mit der er keine eigenen Kinder mehr haben wird, diese Traditionen nicht gemeinsam mit ihm wird weiterführen können. Auch Evelyns Schwiegervater, der alte Jarrod, weiß, dass die Zwischengeneration, seine jüngeren Söhne, nicht geeignet ist, sein Vermächtnis fort- und in eine neue Zeit zu überführen. Der Aufstiegswille, der seinen Selfmademan-Erfolg möglich machte, ist bei ihnen zu einer bloß formalen Anpassung an die Oberschicht verkommen. Er setzt deshalb auf den Eigensinn des Enkels, den er aber nicht versteht in seinem Widerwillen gegen die Vergnügungen des Adels und mit seinen sozialreformerischen Ideen. Evelyn, die niemanden, nicht einmal Miles, so selbstlos liebt wie ihren Sohn, muss für Dan die Brücke zu den Traditionen sein, von denen her er das Erbe seines Großvaters modernisieren kann. Der Verzicht auf Miles, den sie leistet, ist daher zwingend. Die Frauen, alle Frauen in diesem Roman, wissen das, was die Männer, die sich an ihre Egos klammern, nur ahnen: Der Individualismus kann die Bedingungen für seine Entfaltung selbst nicht schaffen.

Vita Sackville-West erzählt „Family History“ aus der personalen Perspektive vieler verschiedener Figuren, sowohl der Männer wie auch der Frauen. Die „allwissende“ Erzählerin selbst tritt dagegen nicht hervor, sondern vielmehr zurück. Was sie wissen muss, wird vielfach gerade nicht erzählt. Bezeichnend und wunderbar ist beispielsweise die Szene, in der Miles und Evelyn sich in einander verlieben. Die Leserin erlebt es nicht mit, sondern wird Zeugin des Geschehens aus der nur halbbewussten Wahrnehmung der jungen Ruth Jarrod heraus, die an diesem Abend zum Ball gekommen ist, um die von ihr angebetete Evelyn mit Miles bekannt zu machen, in den sie ein wenig verschossen ist. Das junge Mädchen ist erotisch dabei mindestens so sehr von der Eleganz und Schönheit der älteren Frau angezogen wie von der des jungen Mannes, für den sie schwärmt. Ruth sieht Evelyn mit Miles tanzen: „Ruth tanzte weiter und wartete auf die nächste Drehung, mit der sie den dunklen und den blonden Kopf, die so gut zueinander passten, noch einmal genauer sehen konnte. Eine verwirrende Zärtlichkeit überwältigte sie, als sie diese beiden so unerwartet zusammen sah, die beiden, die sie bisher nur einzeln wahrgenommen hatte: Evelyn, die sie offen liebte, und Miles. Miles, von dem sie wusste, das sie ihn jeden Augenblick ebenso lieben könnte, so wie eine Explosion ausgelöst wird, wenn die vorbereitete Sprengung entzündet wird.“ Was wirklich geschehen ist, wird Ruth erst wenig später klar, als sie dem Paar auf der Treppe begegnet: „Die beiden lächelten ihr flüchtig zu, blieben aber nicht stehen. Ruth kehrte wie benommen in den Ballsaal zurück und hatte das Gefühl, als sei etwas geschehen, das die Lichter getrübt hatte. Als Vane-Merricks Tanz kam, ließ sie ihn aus.“ Ruth Jarrod wird später  versuchen, sich an Evelyn für diese Schmach zu rächen. Die Beziehungen zwischen den Frauen in diesem Roman sind keineswegs konfliktfrei. Es geht auch hier, „unterhalb“ der Ebene von Öffentlichkeit und Politik um Macht, Eitelkeit und Besitz. Doch der Preis, den die Frauen für das moderne Streben nach Individualität zahlen, ist ungleich höher als derjenige der Männer. Denn sie sind als Garantinnen der familiären Genealogie das Fundament, von dem das individualistische Streben ausgeht. Liebe bleibt für die meisten von ihnen die einzige Ausdrucksform ihrer Individualität. Weil Liebe aber zugleich das ist, was die familiären Bindungen schaffen soll, muss eine individuelle leidenschaftliche Liebe tragisch scheitern. Miles, so zeichnet sich ab, wird vielleicht sein Glück in einer leidenschaftslosen, aber freundschaftlichen Beziehung zu Viola Anquetils Tochter Lesley finden. Doch ganz zum Schluss darf die Liebe noch einen kleinen Triumph über die „Familiengeschichte“ feiern. Viola kommt, um die sterbende Evelyn zu pflegen: „Du weißt ja, wie die Jarrods sind: Familie, Familie, Familie! Die persönlichen Gefühle scheinen bei ihnen überhaupt kein Gewicht zu haben.“ Sie setzt sich gegen die Familie durch und lässt Miles kommen, um von der Sterbenden Abschied zu nehmen: „Er war einfach eins geworden mit ihr in dem dunklen Raum, ohne eine andere körperliche Berührung als die ihrer Hand, die in der seinen lag.“

„Eine Frau von vierzig Jahren“/“Family history“ ist ein Roman, der die Familie nicht denunziert, aber dafür plädiert, sie aus einer Partnerschaft von Mann und Frau zu entwickeln, in der nicht die Frau das „Fundament“ der Familie ist. Dass eine solche Familienbindung, in der Eifersucht und wechselseitige Besitzansprüche zurückstehen müssen, aber individuelles Begehren Raum hat, nicht schmerzfrei zu leben ist, hat Vita Sackville-West aus eigener Erfahrung gewusst. Ihr Sohn Nigel hat der schwierigen Ehe seiner Eltern in „Portrait of a marriage“ ein Denkmal gesetzt.
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* Für mich selbst kaufe ich inzwischen ja nur noch als gedrucktes Buch, was als E-Book nicht zu haben ist.  Englischsprachige Titel sind indes fast immer als Kindle-Version herunterzuladen.


Vita Sackville-West: Eine Frau von vierzig Jahren, Edition Ebersbach € 24,90 (günstiger: antiquarisch als Taschenbuch

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