Montag, 27. August 2012

VERHEERENDE AUSSICHTEN: Kommt ein reaktionärer Aufstand der verdrängten Texte?

"Wie das Alphabet ursprünglich gegen die Piktogramme, so gehen die gegenwärtigen digitalen Codes gegen die Buchstaben vor, um sie zu überholen. Wie ursprünglich das sich aufs Alphabet stützende Denken gegen Magie und Mythos (gegen Bilderdenken) engagiert war, so ist das sich auf digitale Codes stützende gegen prozessuale, "fortschrittliche" Ideologien engagiert, um sie durch strukturelle, systemanalytische, kybernetische Denkweisen zu ersetzen. Und wie sich zeit der Geschichte die Bilder gewehrt haben, von Texten verdrängt zu werden, so setzt sich gegenwärtig das Alphabet zur Wehr, um nicht von den neuen Codes verdrängt zu werden - ein nur kleiner Trost für alle am Weiterschreiben von Texten engagierten Menschen, denn die Sache hat sich beschleunigt. Den Texten ist es erst nach dreitausendjährigem Kampf, erst im 18. Jahrhundert der Aufklärung gelungen, die Bilder und ihre magischen Mythen in Winkel wie Museen und das Unterbewusstsein zu drängen. Der gegenwärtige Kampf wird nicht so lange währen. Das digitale Denken wird weit schneller siegen. Allerdings, das 20. Jahrhundert ist nicht unwesentlich geprägt von einem reaktionären Aufstand der Bilder. Dürfen in unvorhersehbarer Zukunft mit einem reaktionären Aufstand der verdrängten Texte gegen die Computerprogramme rechnen?"

(Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, 1989)

7 Kommentare:

  1. Der Verstand ist ein Werkzeug, und Computerprogramme sind ebenfalls Werkzeuge.
    Mehr als ein Werkzeug darin zu sehen ist bei aller Anstrengung der Argumentation - Angstmacherei.

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  2. Nun ja, es hängt - jenseits aller "Angstmacherei" nicht wenig davon ab, mit welchen Werkzeugen wir umgehen. Die Welt, die wir mit ihrer Hilfe schaffen, verändert auch unsere Denkmuster. Manche mögen Angst haben vor dem "Untergang der Schriftkultur", vor allem sicher auch, weil für sie damit Statusverluste verbunden sind (man denke nur an all die aufgeregten Deutschlehrer:innen die seit 1907 mit ihrem Rotstift in den Aufsätzen herumfuhrwerken dürfen). Ich persönlich bin gespannt und optimistisch. Tatsächlich fürchte ich mich immer am meisten vor den Reaktionären, die gewaltsam an einmal errungenen Pfründen, Pöstchen und Distinktionsgewinnen festhalten. In Deutschland allerdings, das gebe ich zu, ist ihre Zahl und ihr Gehabe erschreckend - und kann schon Angst machen (wie nicht zuletzt der Literaturbetrieb mit seiner Abwehr gegen das ebook und seinem angeblichen Kampf für das Urheberrecht und gegen die Internetnutzer beweist).

    Oben wiedergegeben ist jedoch - damit kein Missverständnis entsteht - nicht meine Meinung zum Sachverhalt, sondern ein Zitat Vilém Flussers. Dem "Angstmacherei" zu unterstellen, halte ich dann für ein bisschen ....dreist.

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  3. Es hängt meines Erachtens viel davon ab, w i e wir mit diesen Werkzeugen umgehen. Sie können im humanen Sinne zur Anwendung kommen; aber sie können auch gleichsam Mordinstrumente sein. Wie kommt ein Computerprogramm zum Einsatz? Welcher Intention folgen die Menschen mit ihren veränderten Denkmustern? Denn es sind doch immer die Menschen mit ihren jeweiligen Absichten, die etwas zur Anwendung bringen.

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  4. Das stimmt, einerseits. Andererseits bestimmen die Muster auch unsere Intentionen, ja sogar unsere Möglichkeiten Intentionen zu entwickeln. Auch in der Wissenschaft bestimmen die Untersuchungsapparate + die Ideologie darüber, welche Fragen überhaupt gestellt werden. Eine Freundin von mir, Medizinerin, hat darüber gearbeitet, wie sehr Fortschritte in der Geschichte der Medizin von ideologischen und technischen Vorgaben abhingen. Ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte wäre die Art, wie manche Hirnforscher (nicht alle natürlich) die Bilder, die sie von den Gehirnströmen erzeugen, schlicht mit dem Gehirn selbst und seiner Tätigkeit identifizieren.

    Flusser geht es, denke ich, hier aber vor allem um den Epochen-Umbruch, der durch die Digitalisierung bevorsteht. Wie das Denken durch die Schrift völlig verändert wurde (und Sokrates beispielsweise fürchtete genau das, der alte Angstmacher!), so wird es sich durch den Untergang der Schrift erneut verändern (damit ist eher nicht gemeint, dass keine Texte mehr entstehen oder gelesen werden, sondern dass diese Tätigkeiten: Texte schreiben, lesen und deuten einen enormen Bedeutungsverlust erleiden werden). Ich glaube, dass Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen umgehen, diesen Verlust, der aber nur für sie, die Älteren, einer ist, bereits erleben, oft angst- und wutverzerrt. Das ist eine Entscheidung, die man treffen muss: Will man reaktionär auf die Veränderung reagieren oder will man versuchen, etwas aus der "alten Welt", der man angehört, zu retten in die neuen Formen? Meine Söhne glauben, dass zukünftig immer weniger lange Texte gelesen (und geschrieben) werden, sondern virtuelle Verknüpfungen, Anschlussfähigkeiten und Spielmöglichkeiten entscheidend sind; sich in "Netzwerken" zu organisieren, darzustellen, neue Verknüpfungen realisieren zu können und und und wird eine bedeutsamere Kulturtechnik sein als zu schreiben und zu lesen. (Schon mein 7jähriger Neffe ist mir bei der Bedienung eines Handys überlegen.) Im Büro einer Bekannten werden Computer ausprobiert, mit denen verbal kommuniziert wird und die sukzessive selbst "sprechen" lernen. Meine blinde Freundin arbeitet inzwischen fast ausschließlich mit einem Sprachcomputer, der die Texte einliest und ihr vorliest. Nur noch selten benutzt sie Braille. Usw.usw.

    Nun können Sie natürlich sagen: Ein Text bleibt derselbe, ob er gesprochen/vorgelesen oder vom Papier gelesen wird. Das sehe ich nicht so. Er erschließt sich mir in beiden Fällen völlig anders. Und ich beobachte, dass es bei vielen anderen auch so ist. "Texte", die nicht mehr schreibend, sondern sprechend produziert werden, werden sich sicher auch von den heute üblich sehr unterscheiden.

    Aber vielleicht werde ich nicht alt genug werden, um diese Veränderungen zu erleben. Ich stehe ihnen aber weder ängstlich noch ablehnend gegenüber. Was ich weiß und kann freilich, wird sicherlich in einer so veränderten Welt nur bedingt "etwas wert sein." Na und? Noch kann ich dazu lernen.

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  5. Mit dem Heraufkommen der Schrift haben sich auch neue Bedeutungsfelder für die Menschen eröffnet. Jede neue Sprach- u. Schriftform ist für sich in ihrer Singularität ein hinzugekommener Rationalitätstypus und realisiert einen erweiterten Blick auf die Welt. Bedeutungen? Nun, ein Sprachsystem entwirft Regeln für die in diesem System sinnvollen und zulässigen Konfigurationen von Weltgehalten in der Form von Bedeutungen. Eine Sprache, durch die es zu einem enormen Bedeutungsverlust käme, würde die Bezeichnung "Sprache" erst gar nicht verdienen. Es würde sich um etwas handeln, was den Menschen schaden würde. Sie würden es wegwerfen wie ein gefährliches Elektrogerät.

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  6. Eben - neue Bedeutungsfelder haben sich eröffnet - und andere haben an Bedeutung verloren (Mythen, Bilder, mündliche Erzählungen). Genauso wird es diesmal sein. "Die Welt" oder "die Sprache" (die für mich übrigens nicht identisch sind!) verlieren ja überhaupt nicht an Bedeutung, sondern nur die Form "Text" und die Kulturtechniken Lesen und Schreiben. (Ich lese übrigens gerade Christina von Brauns "Kulturgeschichte des Geldes", in der sie analysiert, welcher neue "Rationalitätstypus" durch das Alphabet entsteht - und auch, was damit verloren geht, welche "Opfer" gebracht werden müssen.)

    Im Übrigen ist es ja - wie auch Flusser feststellt - eine zugleich pathetische und erbarmungswürdige Geste, diesen "Verlust" (der eben nur für die "Schriftgelehrten" einer ist) in der Schrift auszudrücken :-). Aber darin liegt auch ein Moment der Freiheit.

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  7. Es geht auch nicht unbedingt etwas verloren. Vielleicht ist es eher ein Veralten.
    Dann gibt es immerhin noch ein Erinnern. D. h. kein Verlieren, d. h. kein Vergessen, d. h. kein Verachten.

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