Montag, 3. September 2012

31 Fragen an Leser:innnen (9): Riesen, Porno, Schuld - und ein weiteres Loblied auf das E-Book


Fortsetzung der Reihe: 31 Fragen an Bücherleser:innen, die jeweils Morel, BenHurRum und ich beantworten.

Diesmal geht es um:


Morel sagt nach langem Überlegen: „Pantagruel“ von Rabelais. Ich weiß nur, dass das der Name eines Riesen ist. Ansonsten muss ich nachschlagen. Der vollständige Titel ist wunderbar: „Die schrecklichen und entsetzlichen Abenteuer und Heldentaten des hochberühmten Pantagruel, König der Dipsoden, Sohn des großen Riesen Gargantua.“ Da bekomme ich auch spontan Lust drauf. (Gibt’s das auch als ebook? Ja, sogar umsonst: hier. Schon runtergeladen!)  BenHuRum nennt einen Klassiker der Pornographie: „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“. (Auch dieses Werk ist kostenlos als E-Book zu laden: hier.) Da die vorgeblichen Memoiren jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit das Werk eines männlichen Autors sind und eben nicht erzählen, was eine Frau als Prostituierte erlebt hat, sondern was ein Mann (und wahrscheinlich ein Freier) sich als deren Erleben imaginiert, kann der BenHuRum damit seine literarische „Frauenquote“ nicht steigern.

Für meine Antwort brauche ich nicht lange. Es gibt in „Anna Karenina“ einige Szenen, zum Beispiel Gespräche zwischen Frauen über das Kindbett, die Hitze des Sommers für Schwangere, die Langweile auf dem Land und die Untreue, die mich früher glauben machten, Leo Tolstoi sei einer der wenigen Autoren, die wüssten und darüber schreiben könnten, was zwischen Frauen geschieht und geredet wird. Inzwischen haben mehrere Literaturwissenschaftler:innen begründeten Verdacht geäußert, dass diese Passagen aus der Feder von Sofja Tolstoi, seiner Frau, stammen. Sofja Tolstoi verbrannte vor der Ehe mit Leo ihre eigenen Texte, um sich fortan ganz seinem Werk zu widmen. Seinen Eheroman „Kreutzersonate“ empfand sie als öffentliche Demütigung, weil viele sie mit der Ehefrau im Roman identifizierten. Dennoch setzte sie sich für die Veröffentlichung gegen die Zensurbehörde ein. Ihr Roman-Gegenentwurf „Eine Frage der Schuld“ aber wurde erst 100 Jahre später publiziert. Warum ich das Buch noch nicht gelesen habe? Die deutsche Übersetzung erschien erst 2009 bei Manesse. Bei mir hier stapeln sich weiterhin die ungelesenen Bücher als Staubfänger. Wäre der Text schon länger als E-Book verfügbar, hätte ich ihn sicher längst heruntergeladen und auch gelesen. Denn meinen kleinen Kindle habe ich überall dabei, wenn ich unterwegs bin. Seit ich ihn habe, kann ich viel mehr "dicke" Bücher lesen als vorher. Früher habe ich auf Reisen fast immer nur Zeitschriften oder ein dünnes Taschenbuch dabei gehabt, einfach weil ich ohnehin meistens viel Gepäck für meine Kurse mitschleppen muss. Jetzt erst finde ich „Eine Frage der Schuld“ bei amazon als E-Book und – zack! Ist es heruntergeladen. Ich bin schon gespannt. 

Wie die meisten anderen Bücherleser:innen auch kaufe ich mehr Bücher als je zuvor, seit ich den Kindle habe. Das E-Book mindert also keineswegs die Einkünfte von Autor:innen. Es gibt nur eine Gruppe, die Einbußen zu erleiden hat: Das sind diejenigen, deren Werke (noch) nicht als E-Book zu haben sind. Denn gedruckte Bücher kaufe ich inzwischen deutlich weniger als vorher. Mein Verhalten ist typisch, wie die Entwicklung des US-amerikanischen Marktes zeigt. Das Gejammer einiger Autor:innen über das digitale Buch ist daher unsinnig. Wer sich wirklich Sorgen machen muss, sind die Buchhändler:innen. Das ist tatsächlich traurig. Ich habe selbst einige Jahre im Buchhandel gearbeitet - und gern. Doch ich glaube nicht, dass sich die Entwicklung aufhalten lässt.

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4 Kommentare:

  1. Lustigerweise fallen mir auf die Frage, welches Buch ich schon immer lesen wollte, als erstes ein paar Lieblingsbücher ein, die ich seit Jahren nicht mehr, aber zuvor bereits mehrmals gelesen habe, die mir viel bedeute(te)n und für die ich mir sehnlich die Zeit wünsche, sie nochmal und nochmal zu lesen, z.B. To Kill a Mockingbird von Harper Lee, Erst grau dann weiß dann blau von Margriet de Moor, Sämtliche Kurzgeschichten von Katherine Mansfield usw. Bis mir ein ungelesenes Buch einfällt, muss ich lange nachdenken (noch ist mir keins eingefallen).
    Zu den Sorgen der Buchhändlerinnen: Ich erlebe es bei uns im Team. Aber es ist weniger ein Sorgen, als der Versuch des Umdenkens und sich Einlassens und darüber eine Rückbesinnung auf das, worum es (uns) eigentlich/ursprünglich geht: Die Verbreitung von Literatur. Es ist ein spannender Prozess, in dem es nicht nur und in erster Linie um Existenzsorgen geht. E-Books und Reader kann man inzwischen auch über uns beziehen. Damit reagierten wir auf Kundenwünsche, denn nicht wenige möchten sowohl die neue Technik als auch weiterhin die persönliche Beratung vor Ort. Und ich glaube noch nicht daran, dass das E-Book das Papierbuch ersetzen wird, eher kann ich es mir längerfristig betrachtet als paralleles und gleichwertiges Medium vorstellen. Aber die Entwicklung nicht zu ignorieren, sondern zu betrachten, anzuerkennen, dass man sowieso involviert ist und dadurch gezwungen, sich zu bewegen, ist eine gute Herausforderung. Mir gefällt's.

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  2. Ich freue mich immer, wenn jemand Hoffnungen äußert, dass das Papierbuch nicht aussterben wird. Danke dafür, Iris.
    Bücher, die ich schon immer lesen wollte, diese Frage ist tatsächlich einfach, es gibt ein Buch, was ich seit mindestens einem Jahrzehnt unbedingt lesen möchte, ich habe es seit vielen vielen Jahren im Regal stehen, aber es gelingt mir nicht, es wirklich zu lesen, nicht mehr als die ersten Seiten. Bei diesem Buch handelt es sich um den Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil.

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  3. @Iris Das geht mir genauso, aber Frage 5 war schon: Ein Buch, dass du immer wieder lesen könntest. 31 Fragen an Bücherleser:innen Folge 4 Für den klassischen Buchhandel, denke ich, wird es wirklich schwierig. Mag sein, dass unsere Generation noch am Fetisch Druchwerk festhält, für die künftige glaube ich das nicht. Sicher wird es immer Liebhaber geben. Tatsächlich wird das Beraten wohl wichtiger werden und vielleicht auch das Drumrum: Gemeinsames lesen, drüber reden, Foren zum Austausch usw. (Vielen Dank, übrigens, für den Hinweis auf Margriet de Moor, von der ich "Der Maler und das Mädchen" gelesen habe!

    @muetzenfalterin "Den Mann ohne Eigenschaften" habe ich gern gelesen, wenn auch in immer neuen Anläufen: "Die Sache hat uns in der Hand..." Dagegen scheiterte ich immer an Thomas Bernhard, der mir sogar eine eigentümliche Art von Übelkeit verursacht. Mit Peter Handke ist es weniger schlimm, aber ich lese ihn auch nicht (mehr). Früher habe ich mich öfter gezwungen, Texte zu lesen, die von anderen empfohlen wurden und als "wichtig" galten. Gar nicht rein gekommen bin ich auch in "Infinite Jest". Da ging es Morel aber nicht anders (der einige Erzählungen von David Forster Wallace gern gelesen hat). Es ist auch offensichtlich, dass ich inzwischen - seit ich weniger abhängig von den Autoritäten des "Betriebs" und der Literaturwissenschaft auswähle - wesentlich mehr Texte von Frauen lese. Es sind inzwischen sicher die Hälfte aller Bücher, die ich lese, von Frauen Das war früher ganz anders, als meine Auswahl noch der von BenHuRum oder Morel entsprach und es zu 80% männliche Autoren waren. Das ist sicher kein Zufall. (Obwohl und weil ich nicht lese, um mich zu "identifizieren", übrigens. Ich möchte mich aber auch nicht mehr verleugnen und neutralisieren und über vieles hinweglesen, was ich doch nur als männliche Wahnidee lesen kann.)

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  4. diese Autoren gibt es durchaus, auf die man mit beinahe körperlichem unwohlsein reagiert. wobei ich ganz ausdrücklich dazu sagen muss, dass bei meiner thomas bernhard lektüre das gegenteil geschieht, aber immer wieder kann ich nicht nachvollziehen, warum welche autoren gerade so hoch gelobt werden.
    das mit dem zwang, texte zu lesen, die "man gelesen haben muss", kenne ich auch. das ist eine schöne nebenwirkung zunehmenden alters, dass man sich immer weiter von diesen "autoritäten" befreit. immer schon, seit ich begonnen habe zu lesen, gab es frauen, die mir wichtiger waren als die meisten von männern geschriebenen bücher. na ja, jetzt will ich hier aber auch gar nicht weiter von mir erzählen. aber den mann ohne eigenschaften, hat mir niemand außer mir selbst empfohlen, und so hoffe ich, dass es eines tages einen anlauf geben wird, der genug schwung hat, um bis ins ziel zu kommen.

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