Dienstag, 18. September 2012

Anmerkungen zu Stephen King


Ein Beitrag von Morel

Herbst. Viele Romane von Stephen King beginnen im September, an einem der letzten warmen Sommertage. Dann kommen die ersten Tiefdruckgebiete, Regen, unheimliche, nicht ganz erklärliche Ereignisse, bis dann Ende Oktober, in der Zeit um Halloween, sich das Monster zeigt. Und selbst wenn es im Frühjahr besiegt sein sollte - nie wieder wird der Sommer so unschuldig scheinen wie einige hundert Seiten zuvor. Stephen Kings Romane sind also alle Romane über das Erwachsenwerden. Und dass es niemals gelingt.

Frauen und Kinder zuerst. Von allen männlichen Bestsellerautoren ist Stephen King einer der raren Feministen. Bei einer allein erziehenden Mutter aufgewachsen ist die Urszene aller seiner Horrorphantasien die des prügelnden und vergewaltigenden Manns. Dem steht das Kind, die Tochter oder der Sohn, als viel zu schwache Schutzmacht der angegriffenen Mutter gegenüber. Die magischen Kräfte erwachsen dann aus dieser Überforderung - ein Motiv, das J.K.Rowling in ihrer Harry-Potter-Saga aufgreifen wird. Anders als Rowling kennt Stephen King auch noch die andere, dunklere Seite des überforderten Kinds (wenn man nicht Voldemort selbst als solches deuten möchte): der sich selbst und seine Umwelt für seine Schwäche bestrafende Sohn, der mit den Dämonen des Alkohols und des Wahns kämpfen muss. Oder wie in Carrie die von ihren Eltern mit ihrem Erwachsenwerden und mit ihrer Sexualität allein gelassene Tochter.

"Sprachgefühl". In seiner Berliner Vorlesung hat Rainald Goetz kürzlich vor der Lektüre von Stephen King gewarnt. Sie schade dem Sprachgefühl. Tatsächlich gibt es einen deutlichen Riss zwischen der von Universitäten und Literaturbetrieb als künstlerisch geadelten Literatur und den Büchern Kings (auch wenn diese inzwischen sowohl in den USA als auch in Deutschland nicht mehr als reine Unterhaltungsliteratur besprochen werden). King hat unüberhörbar ein unvergleichliches Gespür für gesprochene Sprache. Das kann Goetz nicht gemeint haben. Was auffällt ist die für phantastische Literatur unübliche Leichtigkeit des Zugangs. In diesen Romanen gibt es keine Grenze zwischen alltäglichem Leben und phantastischer Kunst: sie beginnen im Gewohnten und bereiten langsam den Einbruch des Phantastischen vor. Alles wird beschrieben: der Einkauf im Tankstellenshop, der Burger im Diner, der Abend vor dem Fernseher. Das macht seine Bücher so dick und geschwätzig. Es fehlt das Karge, Kontextlose, das Dechiffriersyndikat ist arbeitslos. Der Pragmatismus, die Erdung seiner Protagonisten macht es leichter, an Stephen Kings Monster zu glauben. Das aber steht im deutlichem Widerspruch zu den Dogmas der modernen Literatur: hier werden vom Surrealismus bis zu den literarisch anerkannten Formen des Phantastischen der Bruch und die Überforderung des Verstands gefeiert. Es ist also nicht so sehr das Sprachgefühl, das King fehlt, sondern der Mut zur Unverständlichkeit. Oder der Stolz auf das Nicht-Verstanden-Werden.

Proletarische Werte. Es sind aber nicht nur Formfragen, die Stephen King von der Literaturliteratur trennen  Es ist auch ein materialistisches, antiidealistisches Weltbild, das aufstößt. Zwar schreibt Stephen King an einer Literatur fort, der Schauerromantik, die das Unbehagen des Bürgertums an den technischen und sozialen Veränderungen der Gesellschaft aufnimmt. Diesen konservativen Zug, der in Frauen, Arbeitern, Sklaven und Fremden, die eigenen Privilegien gefährdende Kräfte als Monster und Gespenster bekämpfen möchte, dreht er aber um. Das macht sich auch in den proletarischen Tischsitten seines Romanpersonals bemerkbar. Sie rülpsen und furzen, sie mögen anders als die bürgerlichen, Gourmetzeitschriften abonnierenden Privatdetektive Fast Food und Schokoladenriegel, Sex ist etwas was Spaß machen kann (zu einem schönen Fick einmal die Woche am Samstagabend, sage ich nicht Nein, bemerkt die ältere Kleinstadt-Bibliothekarin in seinem neuen Roman) und nicht die große, im Kern tragische Begegnung mit dem Transzendentalen. Das kleine Leben, nicht der kleine Tod. Dieser Populismus ist der Literaturliteratur natürlich verhasst: hier wird über Sex als dem ganz Anderen in so großen Worten geredet, um seine alltägliche Normalität nicht in den Blick nehmen zu müssen.

Monster. Wo aber kommen die Monster bei Stephen King her, wenn es keine unheimlichen Frauen sind, keine Außenseiter und unterdrückten Minderheiten. Kings Monster sind all das im Kern genau nicht, auch wenn sie sich manchmal den Anschein davon geben. Die Stadt Derry zum Beispiel, die in vielen Romanen von It bis 11/22/63 eine Rolle spielt, ist ein Ort des Bösen, der ein Monster hervorbringt das die Gestalt der tiefsten Ängste seiner Bewohner annimmt. Diese Alptraumbilder entstehen aus dem Hass auf Fremde, dem Mobbing von Homosexuellen, der Angst nicht dazuzugehören. Die Gemeinschaft ist hier nicht der Schutz vor einer feindlichen Außenwelt, sondern ihre Ursache. Und nur von den Außenseitern kann Rettung kommen, weil sie die Gehirnwäsche des Kollektivs in der Schule versäumt haben. Das Monster ist der zum Alptraum gewordene amerikanische Traum.

6 Kommentare:

  1. Ein ganz wundervoller Kommentar.
    Ich würde King nun nicht als einen "Feministen" bezeichnen, aber kurz davor (leider ist knapp daneben dann auch vorbei, sage ich hier mal ganz phallisch und ejakulativ). Aber ich mag ihn und kommentiere seine Romane auch seit Jahren, weil sie erzählerisch einfach sehr gut gemacht sind. Seine Kompositionen dagegen sind manchmal etwas zur ausufernd, siehe It, Needful things oder Tommyknockers.

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  2. Ich gestehe: Noch nie habe ich einen Roman von Stephen King gelesen. Aber ich glaube Moral, wenn er sagt, der sei ein Feminist. Erst mal. Vielleicht lese ich ja noch mal einen "King". Und bilde mir dann eine Meinung.

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  3. ausgesprochen klasse essay über den herbst oder besser die herbstmelancholie... was immer scheinbar nett im king gewand daher kommt entpuppt sich spätestens nach zwei, drei monaten als "psycho". aber gut, es wird auch wieder frühling und dann fängt alles wieder von vorne an; leiche ist keim und keim ist pest....unenetrinnbar....

    aber darum lieben wir ihn ja auch den herbst; weil er uns mit unseren monstern konfrontiert.

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  4. Lieber Herr Morell,

    obwohl ich mit Ihrer Frau bereits zu Abend gegessen habe, kennen wir uns (ja leider noch) nicht, was wir schon deswegen dringend nachholen müssen, weil Sie hier über Stephen King schreiben (von Mommsen einmal ganz zu schweigen).

    Der Mann war (neben anderen) der Autor meiner frühen Studentenjahre. Das gilt jedenfalls für sein ersten sechs, sieben Bücher, da war er (hier) noch nicht berühmt. Von den zwanizig Büchern danach habe ich keine Notiz mehr genommen.

    Aber damals las ich ihn und neben Literatur und Geschichte eben auch noch eine ganze Menge anderes Zeugs. King war mein Stolz, denn ich las alles auf Englisch und bildete mir ein (wie man das so tut in jungen Jahren), ich könnte Englisch so gut lesen wie Deutsch. Konnte ich in diesem Falle auch, aber das zeigt mir, dass in der Tat zwischen der Trivialliteratur eines Stephen King und den Großen doch etwas Abstand ist, denn David Foster Wallace oder auch Melville beispielsweise lesen sich im Original doch deutlich schwerer.

    Das aber macht Stephen King nicht weniger lesenswert. Viele Bücher sind äußerst spannend, streckenweise gut geschrieben und der Horror manchmal wirklich grauenvoll. Ich bin mir nicht sicher, ob man den Herrn nicht vielleicht auf eine Stufe mit Bram Stoker und Robert Louis Stevenson oder sogar Jules Verne stellen könnte. Poe, den ich zu der Zeit auch las, ist natürlich eine andere Nummer.

    Deutlich ist mir bei King der häufig ungewöhnliche Aufbau der Romane im Gedächtnis geblieben. Der Anfang wies oft in eine ganz andere Richtung, als das Geschehen dann nahm. Zum Beispiel bei „Shining“, wo am Anfang alles auf Hausmeistergeschichte mit familiären Problemen, auf eine Geschichte über einen Writer’s Block, hinauslief, bevor dann die Wendung ins Übersinnliche erfolgte.

    Auch mit Geschwindigkeiten spielt King einige Male geschickt. Es gibt z.B. diese Szene bei „Cujo“, wo der Sheriff schwer verwundet lange im Auto liegt - und plötzlich fahren viele Streifenwagen auf den Hof, erschießen den Hund und er ist gerettet. Aber das stellt sich als Traum heraus – der reale Alptraum dagegen geht weiter.

    Und es ging städtemäßig oft um „Salem“ (Jerusalem) und Little Rock (?), jedenfalls spielten einige Stories in Main – Stephen-King-Land. Zudem nimmt er in seinen Romanen Bezug auf bereits veröffentlichte Bücher von ihm – zum ersten Mal habe ich da den Einbruch von Realität ins Fiktive zur Kenntnis genommen (und fand es lustig).

    Das auftretende Unheil ist das tatsächlich existierende Böse in der Welt. So hatte ich King damals verstanden. Und der Horror ist, dass es jederzeit hereinbrechen kann. Wir sind nur vermeintlich sicher, wir fühlen uns unberechtigter Weise in Kontrolle der vernünftigen Welt. Ich erinnere Kings Bild vom Schokoladenei: Das Ei ist die heile Welt. Aber die Schale ist dünn. Sehr dünn. Gefährlich dünn und kann vom Bösen jederzeit durchbrochen werden. Sei es die Tollwut (vermutlich) bei "Cujo", der klaustrophobische Wahnsinn bei Jack in „Shining“, die seelischen Defizite bei „Carrie“, oder in späteren Werken, schon unerklärlicher bzw. phantasievoller, die verrückt gewordenen Maschinen bei „Christine“ (hier trifft er sich mit Alban Nikolai Herbst) oder die Außerirdischen, die alle äußerlich gleich bleibenden Menschen verwandeln durch die Strahlen von irgendetwas, was im Wald liegt, ich glaube, deren Raumschiff (den Titel des Buches erinnere ich nicht mehr).

    Das mit Abstand beste Buch war eine Sammlung von 4 kürzeren Novellen mit dem Titel „Four Seasons“. Grauenvoll. Ekelerregend furchtbar. Insbesondere ist mir die Geschichte von einem Jungen in Erinnerung haften geblieben, der sich mit einem alten, versteckten Nazi anfreundet, der Juden ermordet, gequält und vergast hatte – und der Junge kommt um!?!

    Das letzte Buch, das ich las, war „The Dead Zone“. Eher öde. Das war nach den langen King-Jahren dann wohl das Signal, mit ihm aufzuhören. Man wird halt älter. Ich habe nie wieder etwas von ihm gelesen.

    Beste Grüße
    NO


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  5. Vielen Dank für die Komplimente und die schönen Erinnerungen an erste Stephen King-Lektüre. Mein erster King in den 80er Jahren Friedhof der Kuscheltiere, in Deutsch (war ja auch Germanistikstudent damals). Aber ich kann ihn immer wieder lesen, wenn ich mit dem Buch im September anfange. Auch andernorts verteidigt man den Meister des Schreckens übrigens gegen seine gebildeten Verächter: www.crookedtimber.org.

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  6. Danke für die Kommentare, mancher hört mit dem Stephen King Lesen, für mich ist es ein jährliches Ritual. Im September lese ich entweder Peter Handke oder Stephen King, beides obsessive Schreiber. Damit hört der Vergleich aber schon auf. Und auch andernorts wird der König des Horrors gerade gegen seine gebildeten Verächter verteidigt: www.crookedtimber.org.

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