Donnerstag, 13. September 2012

Todtraurig bin ich nie...(aber traurig)



Mensch: ein Lebewesen, das klopft, schlechte Musik macht und seinen Hund bellen lässt. Manchmal gibt er auch Ruhe, aber dann ist er tot.

Kurt Tucholsky

Heute Nacht habe ich von meinem Großvater geträumt. Das hat Gründe. (Über die ich hier nichts sagen werde). Im Traum war er tot. Mein Großvater ist tot. Nicht einmal sein Grab gibt es mehr. Ich bin in den 30 Jahren, die der Stein auf dem Kirchhof gestanden hat, vielleicht 20 Mal dort gewesen. Ich habe mich an ihn zu erinnern versucht, wenn ich da gestanden bin, aber im Grunde habe ich mich woanders immer besser an ihn erinnern können als dort.

Gestern sagte jemand in einer Gesprächsrunde, der Mensch könne sich eben mit dem Tod nicht abfinden.  Eine andere wies das scharf zurück: „Der Tod geht uns nichts an.“, stellte sie mit Epikur fest. Das rief die Gläubigen auf den Plan, die ihrer Gewissheit Ausdruck verliehen, nach dem Tod beginne das ewige Leben in Himmel oder Hölle. Wieder andere lächelten nachsichtig über solche Vorstellungen: „Mit dem Tod ist alles vorbei.“

Ich hörte zu.  Warum hat der Tod mich niemals fasziniert? Weil er immer schon da war? Die Leute sterben. Sie liegen aufgebahrt in den Wohnzimmern in prächtig ausstaffierten Särgen. Ihre Nägel färben sich lila, wenn sie tot sind. Das Gesicht wird gepudert, die Wangen manchmal mit Rouge gefärbt: „Damit e net so blass aussehe tut.“ Zur Beerdigung gibt es Reiheweck und es wird viel über Verstorbene und Krankheiten geredet. Der Tod hat mir keine Angst gemacht, als ich ein Kind war und später auch nicht. Es haben immer nur die anderen gefragt oder darüber gesprochen, was danach kommt. Mir selbst habe ich die Frage nie gestellt. Der Himmel und die Hölle waren Abziehbildchen: süße Engelchen und böse Teufelchen tummeln sich zwischen weißen Vorhängen oder lodernden Fegefeuern. Langweilig.

Als er tot vor mir auf dem Bett lag, war mein Großvater fort. Er war nicht da. Der Tote war nicht er. Dieses Gefühl war unmittelbar, stark und unbezweifelbar. Der da lag, war mein Großvater nicht mehr. Das tat weh und tröstete zugleich. Der Tod ist da. Wenn der Tod da ist, sind wir fort. Mir hat das genügt. „Der Mensch kann sich nicht mit dem Tod abfinden.“ Ich war schon abgefunden mit dem Toten und dem Tod, bevor ich Fragen stellte. Das war gut so, empfinde ich. Das bleibt mir: das Einverständnis mit dem Tod. Die Trauer mindert das nicht. Aber es fehlt ihr die Sehnsucht, von der so viele schreiben. Die Sucht nach dem Tod, der Sog ins Nichts, der absolute Weltschmerz, die Lust am Untergang – das sind Gefühle, die mich allenfalls in der Pubertät kurz gestreift, aber niemals wirklich erreicht haben. Was auch bleibt, ist aber die Wunde, die der Verlust schlägt, die Traurigkeit darüber, wie sich nichts festhalten lässt, wie auch die Erinnerungen verblassen und am Ende nur übrig bleibt, was man sich wieder und wieder erzählt. Und die Fotografien.

Als der Großvater meiner Söhne, mein Schwiegervater, starb, legte ich großen Wert darauf, dass sie den Toten noch einmal sahen, bevor er beerdigt wurde. Im Leben meiner Kinder ist der Tod und sind die Toten nicht so präsent, wie es in meiner Kinderzeit war. Auch sie sollten erleben, dass der Mensch, den sie geliebt hatten, fort war, um trauern zu können, statt sich nach dem Tod zu sehnen oder vor ihm zu fürchten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen