Sonntag, 18. November 2012

DAS TALENT MEINER MUTTER (Frauenfreundschaften)



Paula Modersohn-Becker: Sitzende Mutter mit Kind

„Deine Mutter“, sagt er mit einer Stimme, als verkünde er eine Sensation, „ist nicht da. Sie bleibt auch über Nacht weg.“ Meine Mutter lässt meinen Vater alleine. Er wirkt überrascht. Das ist neu. Mein Vater steht auf neue Erfahrungen. „Und du?“ „Ich geh heute Abend zu deinem Bruder das Länderspiel gucken.“ Das beruhigt mich. (Warum beruhigt mich das? Kann mein Vater keinen Abend alleine verbringen? Traue ich ihm das nicht zu?) Meine Mutter verbringt ein paar Tage an ihrem Geburtsort, dem Ort, wo sie mehr als 70 Jahre gelebt hat und von dem sie im Januar fortgezogen ist, mit meinem Vater in die große Stadt. Sie schläft bei der H., sagt mein Vater. „Da fühlt sie sich wie daheim.“  Für meine Mutter gibt es einen Ort, wo sie sich daheim fühlt, an dem nicht mein Vater ist? Das überrascht wiederum mich.

Meine Mutter hat immer ihre Freundschaften gepflegt. Sie steht verschiedenen Frauen nah auf Weisen, die meinem Vater, meinem Bruder und mir verschlossen bleiben. Die H. ist die Ehefrau ihres verstorbenen Cousins. Sie trägt einen Dutt und einen Kittel, macht Obst ein, stopft Strümpfe und lebt kein bisschen so wie meine sportlich-schicke Mama, die Handarbeiten hasst. Aber bei der ist meine Mutter daheim. Meine Mutter trifft auch ihre Freundin E., mit der sie nach 44 Jahren noch per Sie ist. Die hat sie kennengelernt, weil mein Bruder am selben Tag in derselben Klinik geboren ist wie die Tochter von der E. Die E. schminkt sich auffällig, während meine Mutter bestenfalls ein bisschen Lippenstift aufträgt. Die E. und meine Mutter haben ihre Ehemänner in den 70er Jahren mal sehr geärgert, weil sie bei einer Bundestagswahl die FDP gewählt haben. Der Mann von der E. und mein Vater haben das als Verrat begriffen. Denn was ein rechter Sozi ist, der schimpft Tag und Nacht auf die Partei, macht aber zuverlässig in der Kabine sein Kreuzchen am rechten Platz. Die E. und meine Mutter haben sich fast kaputt gelacht über die beleidigt-wütenden Kommentare der Männer. Das war ein Spaß, wie sie die noch Jahre später von Null auf Hundert bringen konnten, wenn sie diese Wahl erwähnten. (Meine Mutter hat mir später mal im Vertrauen erzählt, dass es gelogen war. Die E. und sie hatten gar nicht die FDP gewählt.) Meine Mutter besucht, berichtet mein Vater, auch die I., die hat eine platinblonde Betonfrisur und spricht ein sehr künstliches Hochdeutsch. Man merkt, dass es nicht ihre Muttersprache ist. Mit der ist sie auf die Handelsschule gegangen.

Meine Mutter hat Freundinnen, mit denen sie sich sehr eng verbunden fühlt. Als eine ihrer besten Freundinnen im vorigen Jahr gestorben ist, war sie bis zum Schluss bei ihr. Das Foto dieser Freundin steht jetzt neben dem von meinem Vater auf  ihrem Nachttisch. Was meine Mutter mit ihren Freundinnen bespricht, was sie einander bedeuten und wie sie miteinander umgehen, können wir, ihre Familie, nur ahnen. Ich frage mich manchmal, ob mein Vater eifersüchtig ist auf diese anderen Frauen im Leben meiner Mutter. Er zeigt es jedenfalls nicht. Meine Mutter hat nie einer Clique angehört. Zu jeder dieser Frauen hat sie ein ganz besonderes, ein spezielles Verhältnis.

Als Mädchen und junge Frau habe ich nicht so klar sehen können, was das Besondere an den Beziehungen meiner Mutter zu anderen Frauen ist. Die meisten Frauen ihrer Generation, die ich kenne oder beobachten konnte, verkehren in Vereinen und Nachbarschaftszirkeln miteinander. Ab und zu gibt´s ein Kaffeekränzchen. Mit Klatsch und Tratsch. Meine Mutter, obwohl im Dorf geboren und aufgewachsen, hat sich da immer rausgehalten. Darauf war ich schon als Kind stolz, dass sie keine „Tratschtante“ ist. Statt Zwangsbekanntschaften durch Verwandtschaft, Nachbarschaft, Verein hat sie einige, ausgewählte innige Freundschaften geschlossen. Keine dieser Frauen gleicht der anderen. Sie passen auch gar nicht zueinander, weder was ihre Interessen, noch was ihr Äußers angeht, und – auf den ersten Blick – auch nicht zu meiner Mutter. Meine Mutter, so denke ich, hat in einer Freundin nie eine gesucht, die ihr ähnelt, sondern immer ein Gegenüber, eine andere Frau. Meine Mutter, glaube ich heute, hat sich bewusst aus den Cliquen ferngehalten, damit sie frei war: Für die Freundschaft. Dieses Talent meiner Mutter zur Freundschaft mit anderen Frauen hat mich – erst im Rückblick wird  mir das klar – während meiner Entwicklung zur Frau gestärkt ...und ich hoffe, es hat sich vererbt...

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