Montag, 10. Dezember 2012

Wenn einem soviel Gutes widerfährt,....(Glücksmomente)

"Ich freu mich so", erzählte ich am Arbeitsplatz, "mein Sohn ist gestern Abend heimgekommen?" "War der im Krieg?", entfuhr es einem. Nein, er war nur zwei Wochen nicht mehr daheim. Zuerst hatte Amazing sich für Freitag angesagt, am Donnerstagmittag kam dann die SMS: "Komme doch schon heute Abend nach der AG." Er hat jetzt seit gut zwei Monaten sein eigenes Zimmer in einer WG. Noch kommt er ziemlich häufig nach Hause. Ich weiß, dass sich das ändern wird, je mehr der Studienort zu seinem Lebensmittelpunkt wird. Wir chatten ab und an über Facebook. Wir bilden neue Rituale aus. Sonntagmittag bringe ich ihn zum Zug, wenn er über das Wochenende hier war. Wir laufen zusammen die 20 Minuten zum Bahnhof und unterhalten uns dabei über dies und das. Es ist noch kein ganz festes Ritual, noch fragt er nach dem Mittagessen am Sonntag: "Bringste mich wieder zum Zug?" Das freut mich. Denn ich vermisse im Alltag sehr die Gespräche mit meinem "Großen".

Der Mastermind freut sich auch, wenn sein Bruder kommt. Sofort wird es laut und sie lachen zusammen und rufen sich Sachen zu, die wahrscheinlich mit Basketball und der NBA oder so zu tun haben, mit Spielern, Vereinen und Transfers, von denen ich nichts weiß. Aber ich freue mich, wenn ich sie so zusammen sehe und höre. Der Mastermind ist momentan tief in die Wirtschaftstheorie eingestiegen und analysiert angebots- und nachfrageorientierte Strategien zur Euro-Rettung. "Ich bin ja mehr so der Keynsianer", sagt er, "aber damit vertrete ich in meinem Kurs eine Minderheitenposition." Er lächelt dabei zuversichtlich. Diese Situation scheint ihm zu behagen. Er stellt sich eine Zukunft als Nate Silver des Fußballs vor und plant eine bahnbrechende Arbeit über die Meisterschaftschancen der europäischen Vereine und der Nationalmannschaften, die das komplette historische Datenmaterial berücksichtigt. 

Im Gegensatz zu seinem Bruder (der aber zu diesem Autor seine beste Deutsch-Arbeit ever schrieb) findet er Kafka "ganz gut", dagegen ist der "Prinz von Homburg einfach nur grausam". "Aber wir ham ´ne tolle Vorstellung gegeben bei der szenischen Interpretation, so als Reiter mit Super-Hufgeklapper und ich war ein Spitzen-Homburg. Der Lehrer hat gesagt, dass ich die Verwirrung prima rüber gebracht habe." "Warte nur", sagte der Amazing, "das Schlimmste kommt noch: ´In seiner frühen Kindheit ein Garten´. Das war dermaßen öde." Der Mastermind triumphierte: "Das haben ´se von der Liste gestrichen bei uns. Wir haben ´Das Parfüm´. " Der Amazing zuckte die Achseln. "Kenn ich nicht." 

Im ´richtigen´ Leben, wo man sich über das ganze Falsche, wegen dem es eigentlich auch kein ´richtiges´ Leben gibt (und so weiter), echauffiert und es analysiert (und so weiter) und reflektiert (und so weiter), kann ich Vorträge halten über diese Lektüreliste zur Zentralabiturprüfung in Hessen, die einen kleinsten gemeinsamen Nenner der Kanon-Vorstellungen von leseunlustigen Gymnasiallehrer_innen darstellt. Alles bedeutsam, alles männliche Autoren (ehrlich!), das meiste langweilig und alles beliebig. (Die ganze Idee des Kanons halte ich für falsch, wie auch das Geschwätz über ´Relevanz´, das noch nie was anderes war als Inszenierung von Macht.) 

Aber weil das hier mein einziges richtiges Leben ist und es mir gefällt, lausche ich glücklich dem Geplänkel meiner Söhne und freue mich an ihren unverfälschten und unehrerbietigen Eindrücken von der großen und bedeutsamen Kanon-Literatur: "Der ´Faust´", sagte der Mastermind, "ist nicht schlecht. Außer dem ganzen Scheiß mit der Religion natürlich." "War das nicht zentral da drin?", fragte der Amazing. "Egal", er winkte ab. "Kommen wir mal zu was Wichtigerem. Wird´s dieses Jahr ein Bratwurstessen vor Weihnachten bei Oma und Opa geben?" "Warum nicht?", fragte ich. "Na, weil se doch umgezogen sind. Und die guten Bratwürste, war´n die nicht immer von diesem Hobby-Metzger aus A.?" "Schon bestellt.", sagte ich. "Das Bratwurstessen findet statt, auch in der neuen Wohnung." Sie seufzten erleichtert. 

Glück ist Luxus. Ich habe viel Glück gehabt. Es wäre schäbig, unter diesen Bedingungen nicht glücklich zu sein. (Außer natürlich wegen dem grundsätzlich ´Falschen´, na klar!) Wer, wenn nicht wir? Ich beschäftige mich mit Aristoteles, dem alten Sklaventreiber und Frauenverächter (ganz falsches Leben!) in letzter Zeit. Was bedeutet Tugend? Was braucht ein Mensch, um glücklich zu sein? Und wie viel davon liegt in seiner eigenen Verantwortung? Ich lese vor allem  Martha Nussbaum (wieder; dazu vielleicht später einmal mehr.). ("Liberalismus ist eh Scheiße.", las ich dagegen kürzlich  in einem radikalfeministischen Blog. Das habe ich nicht verstanden, scheint aber in diesen Kreisen Konsens zu sein.) 

Was ist Glück? Als ich Samstagnachmittag vor dem Eintracht-Spiel meine Eltern besuchte, saßen sie zusammen beim Kartenspiel. Meine Mutter machte mir auf und winkte mich hastig rein: "Schnell, ich muss zurück an den Tisch. Ich hab nur noch eine Karte. Ich gewinne. Dein Vater legt mich sonst rein." Mein Vater grinste schelmisch, als er das hörte. Vielleicht hatte er die Zeit wirklich genutzt, um einen Joker zu stibitzen. Er klopfte auf das Weihnachtsplätzchenpaket, das meine Mutter verschnürt hatte. "Kannste von Glück sagen, dass de noch rechtzeitig kommst. Sonst hätt´ ich die gegessen." "Nix da", ich drücke das Paket fest vor meine Brust. "Meine." So machen wir es jedes Jahr. Rituale. Wir haben welche. Sie verändern sich. Ein wenig. Dieses Jahr wird das große Bratwurstessen in der neuen Wohnung meiner Eltern in Frankfurt stattfinden.

Was ist Glück? Der Morel und ich sind begeistert vom letzten Spiel unserer Eintracht vor der Winterpause gewesen. "Sensationell", rief der Morel ins Stadionrund. Und wir sangen: "Nur die SGE! Nur die SGE!"  Was täte ich, wenn ich einen Partner hätte, der kein Eintracht-Fan ist? Es wäre möglich, aber es fühlt sich spontan wie ein Unglück an. 

Was ist Glück? Der Morel kochte zur Feier des ersten Advents Hasenkeulen in einer fantasmagorischen Soße für uns vier, die klassische Kleinfamilie mal wieder am Tisch vereint. Sie war reichlich bemessen, so dass wir zu viert, nachdem die Kartoffeln als Soßenträger alle aufgebraucht waren, rasch noch in der Küche geschnittene Brotscheiben in den Bräter tunken. 

Wer Glück hat, sollte sich bemühen, auch glücklich zu sein. Alles andere wär´ dumm.

3 Kommentare:

  1. Das klingt schön. :-)
    Und auch hier wieder die Haltung, die ich so schätze und die so gar nicht Erniedrigendes hat, im Gegenteil: Knien statt sich herabzubeugen.

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    1. Ist schön! Hoffe, bei Dir auch. Obwohl die Entfernung größer und die Besuche daher seltener sind, nehme ich an?
      Kitsch hin oder her, ich liebe die Vorweihnachtszeit. Ich verbinde so viele schöne Erinnerungen damit und ich merke jetzt, dass es bei unseren Söhnen ähnlich ist. Der Große will einen Weihnachtsbaum, der "Kleine" nascht Plätzchen und beide mögen es, wenn die Wohnung ein bisschen geschmückt ist. Dieses Jahr habe ich die alten, inzwischen ganz zerfledderten Tonpapier-Sterne nicht mehr aufhängen können, die wir gemacht hatten; sie waren jetzt wirklich hinüber. Die wurden richtig vermisst! LG

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    2. Wir waren am Wochenende dort, beim Einrichten der Wohnung helfen, die sie nach zwei Monaten Behelfslösung endlich gefunden haben. Und Weihnachten kommt sie nach Hause. Für zwei Wochen! Der erste Besuch seit dem Wegzug.

      Ich mag diese Zeit auch, mit sämtlichen Düften und Klängen, sogar die Betriebsamkeit gefällt mir, und die Geheimnistuerei sowieso. Und die "Kinder" wollen's nach wie vor traditionell bis ins Detail, d.h. genau so, wie wir es vor 20 Jahren eingeführt haben. Ein paar zerfledderte Tonpapier- und Strohsterne gibt's bei uns auch noch, die meisten bleiben schon seit Jahren in der Kiste, nur wegwerfen konnte ich sie noch nicht. :-)

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