Donnerstag, 3. Januar 2013

Hauptstadt Europas für ein halbes Jahr: NEUJAHR IN DUBLIN

If Ireland is to become a new Ireland, she must first become European.
James Joyce

(Und das gilt, denke ich, für alle  europäischen Staaten, für Deutschland zumal. 
Dem Nationalismus zuwider, wie er überall - leider - fröhliche Urständ feiert.)

Das neue Jahr läuteten wir in Dublin ein. Den Teenagern, die uns begleiteten, verschaffte das die Gelegenheit, zweimal anzustoßen: eine Stunde früher nach deutscher Zeit und dann noch einmal zur irischen Mitternacht. Wir Eltern bekamen davon nichts mit (außer dass später zwei leere Wodkaflaschen und einiges mehr im Müll gefunden wurden). Denn es empfiehlt sich, so war ich überzeugt, bei Feierlichkeiten mit Alkoholkonsum einen gewissen Abstand zwischen den Generationen einzuhalten, mindestens dann, wenn es sich um die engsten Verwandten handelt. Das ist für beide Seiten von Vorteil und trägt zum Erhalt einer gedeihlichen Beziehung bei.

GUINESSS OR HOOKER? Wir "adults" tranken vor Mitternacht in den sich langsam füllenden Pubs Guiness. Mich erinnert dieses Stout an das dunkle Altbier, das ich früher immer gern am Stammtisch trank. Unsere irischen Gastgeber hingegen schätzten das Gebräu weniger. Sie blieben bei Cider oder einem Pale Ale mit dem lustigen Namen ´Galway Hooker´. Die Guiness-Familie herrschte im 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. hinein über große Teile der Stadt Dublin; überall stößt man auf Parks und Siedlungen, die ehemals Guinness-Besitz waren. Die Familie gehörte zu den privilegierten Anglikanern, die sich durch ein Apartheid-Regime mit Bildungs- und Berufsverboten gegen Katholiken die Konkurrenz der Einheimischen vom Leib halten konnten. Es ist vor dem Hintergrund dieser langen Geschichte des Kolonialismus und der Unterdrückung kein Wunder, wie heftig die Iren auf ihrer nationalen Identität, ihren Bräuchen und ihrer gälischen Sprache beharren, auch wenn es unsereiner bisweilen befremdlich erscheint. Es finden sich allerdings überall in Dublin auch die Spuren des Wohltätigkeit späterer Generationen der Guiness-Familie: Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Anlagen, Arbeitersiedlungen, Obdachlosenasyle. 

(NOT) VERY BRITISH? Wer von außen auf Irland schaut, dem wird das Land sehr "britisch" erscheinen, während die Iren vor allem die Differenz zu Großbritannien betonen: die keltische Vergangenheit, die katholische Religion, den Republikanismus. Spuren der Geschichte überall, nicht nur in den Bauwerken und literarischen Werken, sondern vor allem im Empfinden der Menschen. Die Bedeutung und die nachhaltige Wirksamkeit solcher kollektiver Traumata, wie sie Norbert Elias auch für die Deutschen nachgezeichnet hat, wird in der Alltagspolitik häufig unterschätzt. Gegen die tief verwurzelten Mentalitäten kann sich aber eine bloß an die pure "Vernunft" appellierende Politik dauerhaft nicht behaupten. Vielleicht könnten einige häßliche Missverständnisse und Zuschreibungen, die auch die gegenwärtige europäische Politik kennzeichnen, aufgelöst werden, wenn Politikerinnen und Bürgerinnen in ihrer Bewertung der jeweils Anderen dies stärker berücksichtigten (Auch die zwar irrationale, aber tief verwurzelte Angst der Deutschen vor einer Hyperinflation gehört zu diesen "Befindlichkeiten", über die man als Intellektuelle_r überheblich die Nase rümpfen kann, die aber gleichwohl in demokratischen Gesellschaften nicht einfach übergangen werden dürfen.)

CELTIC TIGER ODER BETTVORLEGER? Wir konnten feststellen, dass zwar in Irland (noch) kein Hass auf "die Deutschen" sich ausbreitet, wohl aber Wut über das Spardiktat der in der Euro-Zone den Ton angebenden deutschen Regierung, das die irische Bevölkerung zwingt, über Jahre die Schulden ihrer Banken abzutragen. Während in den Boom-Jahren ("celtic tiger") zum ersten Mal seit Jahrhunderten eine Generation von ausgewanderten Iren in ihr Heimatland zurückkehren konnte, wächst nun wieder die Zahl der Auswandernden. Unsere Gastgeberin sprach von 200 Menschen, die täglich (!) das Land verlassen müssen. Einer unserer Freunde pendelt wöchentlich von Dublin nach Manchester, weil es in Irland keine Arbeit mehr für ihn gibt. Die Familien müssen mit diesem Exodus leben. Junge Iren planen eine Zukunft außerhalb Irlands.


"A cynic is a man who knows the price of everything and the value of nothing."
Oscar Wilde

NOWHERE: A COUNTRY FOR OLD MEN? Dennoch: Wir hörten viel von der Rezession, sehen konnten wir sie nicht. Man drängte sich in den Einkaufsstraßen, die Kneipen und Restaurants waren gut besucht, die Preise erreichten überall mitteleuropäisches Niveau. In Italien im Sommer hatten wir viel eher den Eindruck, ein Land im wirtschaftlichen Niedergang zu erleben. Diese Wahrnehmung rührt wohl vor allem daher: Die Straßen sind voll mit jungen Leuten. Wie schon im Oktober in Istanbul erlebte ich das als den wesentlichsten Unterschied zu Deutschland: Den zwischen einer Gesellschaft, die überaltert und erstarrt wirkt und einer, die jung und dynamisch ist. In Deutschland wird die Diskussion über den sogenannten "Kindermangel" immer mit Forderungen nach familienpolitischen Leistungen verbunden. Nichts spricht jedoch dafür, dass mehr direkte Zahlungen an Familien die Bereitschaft, Kinder zu bekommen, erhöhen könnte. In den meisten europäischen Ländern gibt es weniger oder kein Kindergeld, kein Ehegattensplitting und so weiter und so fort. Trotzdem ist die Geburtenrate deutlich höher. Es gibt allerdings auch keine oder wenigstens keine so krasse Überhöhung der Mutterschaft (außer in Italien und Spanien, wo die Geburtenraten ähnlich niedrig sind wie in Deutschland). Es gibt sicher nicht zu wenig "Deutsche", denke ich, aber ich lebe dennoch nicht gern in einer Gesellschaft, die Kinder und Jugendliche als Störfaktor empfindet, außer wenn sie sie als potentielle zukünftige Renteneinzahler durchzählt. Pessimismus, Risikoscheu und Zukunftsangst sind in einer überalterten Gesellschaft wesentlich häufiger anzutreffen als in einer, die von jungen Menschen geprägt wird. Dauerhaft schlechte Laune, Selbstmitleid, die Glorifizierung einer "irgendwie" besseren Vergangenheit ("als wir jung waren, war es noch...") , der überwältigende säuerliche Geruch, den alte Männer in größerer Zahl ausdünsten, die üble Nachrede in der Nachbarschaft durch unterbeschäftigte Hausfrauen, nicht zuletzt die Selbstgefälligkeit einer alt gewordenen Linken, die Pfründesicherung mit Gesellschaftskritik verwechselt, eine bornierte Kultur-"Elite", die neuen Medien und Öffentlichkeitsformen mit Ablehnung und Angst begegnet - all das kann ein gesamtgesellschaftliches Panorama ergänzen und kritisch bereichern. Wo dieses melancholisch-sarkastisch-bösartig-gruselige Kabinett unzufrieden alternder Meckerfritzen und Lästerlieseln jedoch dominiert, ist die Lebensfreude  etwas - höflich formuliert - eingeschränkt und die Perspektiven auch. Lustig ist dann allenfalls zu beobachten, wie dieses Panoptikum aus Zynike_rinne_n und Heulsusen seine eigene verstellte Perspektive für "wahr" und alles andere für "Verblendungszusammenhang" hält. (By the way: Es gibt selbstverständlich eine Menge nette, aufgeschlossene, optimistische und gut gelaunte alte Menschen und ebenso viele miespetrige und stinkelige Junge. Nur in der Masse und auf lange Sicht entsteht der oben beschriebene Eindruck.)

Die Seilschlaufe, die es vor und während des Läutens einer Glocke in der Hand zu halten gilt, gibt dem Lernenden stets neue Rätsel auf; sie schlägt ihm ins Gesicht oder schlingt sich um seinen Hals (in welchem Falle er sich gar daran erhängen kann!).

Troyte: On Change Ringing (zit. nach Dorothy L. Sayers: Der Glockenschlag/Nine Tailors)

HANG ´EM, RING ´EM? Wir besuchten Trinity College, sahen das Book of Kells, wir schlenderten durch Temple Bar, wir saßen in Pubs, tranken und plauderten, wir spazierten am Meer bei Howth entlang und aßen grandiose scones (with jam and cream) in einem Café in Malahide, ich kaufte mir einen schicken Regenmantel bei Avoca (SALE, SALE, SALE, Real Dealz!) ; wir standen vor Swifts Grab in St. Patrick und vor dem Denkmal für den verlorenen (und viel geschmähten) Sohn der grünen Insel, Oscar Wilde. Wir sahen eine Dramatisierung der Erzählung "The Dead" von James Joyce im Abbey Theatre. Unsere Freundin und Gastgeberin ist professioneller tourist guide und wir bekamen von ihr eine private Tour durch Dublin mit vielen "Geheimtipps". Thank you very much, Susan! Höhepunkt unseres Aufenthalts aber war die Einladung am Neujahrsabend auf den Glockenturm von Christchurch

Um 22.30 Uhr nach einigen Runden Guiness und Hooker machten wir uns vom Kneipenviertel in der Nähe von St. Stephen´s Green zu Fuß auf zur Christchurch Kathedrale. Der kalte Nachtwind rötete nicht nur die Wangen, sondern ließ das alkoholisierte Blut ein wenig schneller durch unsere Adern pumpen und ein wenig rascher durch unsere Poren verdampfen. Das sollte sich als Vorteil erweisen. Denn der Aufstieg zum Glockenturm war eine Herausforderung. Am Tor ließ man uns nur  ein, weil Valerie, die zum erwählten Kreis der Society of Change Ringers gehört, unser Kommen angekündigt hatte. Vor einer kleinen Holztür am Turm warteten wir auf Einlass. Morel musste sein Haupt tief beugen, um durch diesen Eingang zu gelangen. Der Glockenturmwärter schüttelte bei diesem Anblick bedenklich das ergraute Haupt. Wir sollten noch erfahren, warum. Über eine steile, schmale Steintreppe ging es hinauf, beinahe endlos, so schien es uns, Spirale um Spirale, enger wurde es und die Decken niedriger. Schließlich, als wir schon schnauften und den letzten Rest Alkohol höchstwahrscheinlich aus unseren Körpern geschwitzt hatten (den alten Trink-Klospruch mühelos widerlegend, nachdem für jedes Pint mindestens eine Stunde nötig ist, um es abzubauen), traten bzw. krochen (Morel) wir durch eine noch kleinere Holztür hinaus aufs ... Dach. Einen schmalen First entlang, allerdings durch ein Geländer gesichert, stiegen wir hinüber zum eigentlichen Glockenturm, dem unser Treppenturm nur ein Vorbau war. Jetzt erst wurden uns die Bedenken des Wärters klar. Hier hinein mussten wir zuletzt durch ein winziges Törchen, das Morel nur auf den Knien passieren konnte. 

Unsere Erwartung, so wir eine hatte, was uns hinter diesem verliesartigen Einlass erwarten sollte, wurde enttäuscht oder übertroffen, je nach Perspektive. Uns war angekündigt worden, wir hätten die einmalige Chance, das neue Jahr vom Glockenturm von Christchurch aus zu begrüßen. Nach dem mühevollen Auf- und Einstieg, der eher für Zwerge und Hobbits, denn für normal gewachsene (mich) oder übergroße (Morel) Menschen geeignet war, vermuteten wir hinter der hölzernen Tür ein Kämmerlein mit einem oder zwei, höchstens vielleicht drei Seilzügen für die Glocken, eine verfrorene Valerie und vielleicht noch eine Begleiterin zusätzlich zum Glockenwärter, der uns den Weg hinauf geführt hatte.

Doch als wir uns aus unserer gebeugten Haltung, eins nach dem anderen, aufrichteten, standen wir in einem hell erleuchteten, großen quadratischen Raum, in dessen Mitte ein runder Tisch stand, übervoll mit Leckereien und Getränken aller Art, Sekt, Wein, Bier, Säfte, Soft drinks, Pasteten, Truthahn, Kekse, Kuchen, Chips, Cracker, Käse, Trauben... Rund um hingen aus der Decke neunzehn Glockenseile. Jeder Bellringer hatte indes noch mindestens noch ein oder zwei Gäste mitgebracht zur Neujahrsfeier in der Höhe unter dem Dach von Christchurch Cathedral. Wir platzten mitten hinein in eine der exklusivsten, sportlichsten und heitersten Partys der irischen Silvesternacht. 

Was ich zu Beginn dieses Post geschrieben habe, dass es nämlich sinnvoll sei, sich am Silvesterabend, insbesondere bei und wegen geplantem Alkoholkonsums von der jüngeren Generation, namentlich den eigenen Verwandten, fern zu halten, hier oben, in dieser illustren Gesellschaft, wurde das zu einer überflüssigen Vorkehrung. Wir hätten unsere Teenager mitnehmen können (Diese jedoch, versicherten sie uns später glaubhaft, hatten dort, wo sie waren, auch ihren Spaß.) Denn der Konsum des Alkohols war für die Bellringer zunächst ohnehin zu verschieben, bis das Geschäft des Glockenringens vollbracht sein würde, wie wir lernten. Unter dem Dach von Christchurch hängen neunzehn große Glocken und eine jede von ihnen wird von Hand geläutet. Der Ehrgeiz unserer Gastgeber ging dahin, in der Neujahrsnacht achtzehn von ihnen zum Klingen zu bringen (Weil sich mit neunzehn keine volle ´Runde´ läuten lässt, musste eine ungenutzt bleiben.). 

´NINE TAILORS´? Diese Form des Glockenläutens (change ringing) ist, wie ich als treue Leserin von Dorothy L. Sayers schon wusste, eine Kunst für sich. Jedoch hatte ich es mir nie recht vorstellen können, das Wechsel- und Variationsläuten, das eine entscheidende Rolle in Sayers Roman "The Nine Tailors" spielt. Nun lernte ich es kennen. "Eighteen to sixteen", schallte es durch den Raum. Eine Glocke ruft die andere. So wechseln sie sich ab. "She is ready." Um 23.30 Uhr fand eine Probe statt und das Furchtbare, das größte anzunehmende Unglück, es geschah: eine Glocke überschlug sich. Die kleine zierliche Asiatin, der das Missgeschick widerfuhr, setzte sich mit gesenktem Kopf an den Tisch. Doch die anderen Glöckner_inne_n trösteten sie sogleich. Das Ringen der Glocken ist eine schwierige Aufgabe, zu der nicht nur Kraft und Ausdauer gehört, sondern auch das richtige Gefühl:  "You gotta feel it." Die Glocken werden, bevor es losgeht, aufgeschwungen, d.h. sie stehen auf dem Kopf. Aus dieser Position werden sie geläutet. Beim Wechselläuten geht es darum, die Glocken jedes Mal in einer anderen Reihenfolge zu läuten. Hierzu gibt es eine nicht unendliche, aber doch sehr große Zahl von Variationsmöglichkeiten und Zyklen. Auf einem großen Flipchart war angeschlagen, nach welchem System am heutigen Sylvesterabend das große Geläut stattfinden sollte. 

Es wunderte mich später nicht, als sich im Gespräch herausstellte, dass einer der führenden Change Ringer als Mathematikprofessor seinen Lebensunterhalt verdient. Gary erklärte uns nicht nur das System, sondern auch, dass die Mannschaft von Christchurch das irische Wettläuten zuletzt gewonnen und den dazu gehörigen Pokal errungen habe. Ich fragte ihn, ob sie auch an Wettkämpfen in Großbritannien teilnähmen, was er verneinte. Die obligatorische Distanzierung von den Briten blieb auch diesmal nicht aus. Die läuteten zwar auch (keine Ahnung, welche der Inselnationen das Urheberrecht für sich reklamiert), sagte Gary, nähmen das Ganze aber viel zu ernst. Er schüttelte mitleidig den Kopf. Von dieser britischen Ernsthaftigkeit legt Dorothy Sayers "Nine Tailors" in der Tat Zeugnis ab. Gary und Valerie jedenfalls mochten diesen Roman, anders als ich, nicht besonders; er sei vor allem viel zu lang, wie eben auch das ernste englische Geläut.

In Christchurch dauerte das schließlich doch noch gelungene Neujahrsläuten, nachdem der Schreck überwunden, ein Expeditionstrupp unter das Glockenturmdach zusammengestellt, die überschlagene Glocke repariert und ein jeder Glöckner und jede Glöcknerin ihren Platz wieder eingenommen hatten, gute zehn Minuten. Gary vertraute mir später an, es habe zwei Fehler gegeben. Fehlerhaft ist es, wenn zwei Glocken genau gleichzeitig schlagen. Gary lachte. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass irgendjemand in Dublin, außer jenem kleinen Kreis der Change Ringer, den Unterschied überhaupt bemerken würde. 

Die Feier im Glockenturm war für uns ein außergewöhnliches Erlebnis; wir lernten interessante Menschen kennen, die aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, Altersgruppen, Berufen, Familienverhältnissen und Schichten kommenden, das Hobby "Change ringing" vereint. Es wäre bestimmt spannend, die vielen Geschichten aufzuzeichnen, wie eine jede und ein jeder von ihnen dazu gestoßen ist, zu jenem inneren Zirkel der "Change Ringer"; einem, wie ein Freund unserer Freunde, den wir am Abend danach trafen, es ausdrückte der "bestgehüteten" Geheimnisse von Dublin. "Oh", sagte Susan, unsere Freundin, zu ihm "du hast eine Chance. Sie suchen immer Change Ringer für Christchurch."


Ihnen allen wünschen wir ein gutes Jahr 2013!







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