Montag, 14. Januar 2013

MONSTRÖSE LIEBE (Über Michael Hanekes "AMOUR")




Der Film „Amour“ von Michael Haneke, den wir in der Reihe Kinohighlights 2012 des Filmmuseums in Frankfurt gesehen haben (eine dankenswerte Gelegenheit, Filme, die man im Laufe des Jahres verpasst hat, doch noch auf der großen Leinwand zu sehen), ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil zu Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“. In beiden Filmen geht es um die Begleitung eines sterbenden Menschen in den letzten Monaten seines Lebens. Der eine Film hat mich zum Weinen gebracht und der andere nicht, der eine Film hat mich versöhnt, der andere Film hat mich verstört. Ich halte beide für große Filme, gerade um dessentwillen, was sie trennt.

Dresens Film zeigt, wie eine Familie mit der Diagnose des Tumors umgeht, wie jede und jeder  für sich einen Weg finden muss und wie sie gemeinsam versuchen, sich dem Kranken und dessen Veränderungen anzupassen und gleichzeitig nicht nur für die Krankheit zu leben. Sie lernen sich der Ungeheuerlichkeit und Ungerechtigkeit zu stellen, dass das Leben des eines aufhört, während die der anderen weitergehen. Im Zentrum von Dresens Film steht der Sterbende und sein Sterben. Dresen lässt uns an dessen Erstaunen, dessen Wut, dessen Angst und schließlich dessen Resignation und Verschwinden teilnehmen.

Haneke entscheidet sich für eine völlig andere Haltung gegenüber seinem Sujet. In Hanekes Film steht nicht das Sterben der Frau im Zentrum, sondern der verzweifelte Kampf des Mannes um die Aufrechterhaltung der symbiotischen Einheit mit der Frau, um den Erhalt der abgeschlossenen Privatsphäre, die sie sich aufgebaut haben. Die Kamera verlässt in diesem Film nur ein einziges Mal, ganz zu Beginn, die Wohnung des Paares. Da gehen Anne und George (großartig: Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant) in ein Konzert und die Kamera blickt von der Bühne aus auf einen vollen Zuschauersaal, ohne sich auf eine Gruppe oder einen Menschen zu fixieren. Da die Zuschauer dieses Films Anne und George zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennen, bleibt es Zufall, ob sich ihr Blick auf diese beiden heftet oder irgendein anderes Paar oder eine Gruppe beobachtet.

Anne und George sind ausgegangen, sie grüßen nach links und rechts, als das Konzert zu Ende ist und wir sehen sie, wie mit dem Bus nach Hause fahren, angeregt im Gespräch. Das ist die Öffentlichkeit, auf die Anne und George sich einlassen. Gemeinsam hören oder sehen sie sich etwas an, sie grüßen und plaudern mit Freunden und Bekannten, aber vor allem sind sie aufeinander bezogen, darauf, gemeinsam wieder zurückzukehren in ihr Refugium, ihre etwas verschlissene, aber doch großbürgerlich eingerichtete Pariser Wohnung mit den hohen Decken und den schönen Flügeltüren, dem gemütlichen Sofa und den beiden gelben Sesseln nebeneinander, im Regal die Bücher über Musiker und Musikstücke, ihrer beider Leidenschaft und Profession, ein  Plattenspieler und sogar ein CD-Spieler haben es als neueste technische Errungenschaften hier hinein geschafft. Einen Fernseher, einen Computer, ein Mobilfon oder gar ein Tablet wird man hier vergeblich suchen. Anne und George haben sich eine Welt eingerichtet, die vollkommen ihren gemeinsamen Bedürfnissen entspricht (und die sie sich, Haneke wird das im Film mehrmals dezent andeuten, wenn Georges den Hausmeister oder dessen Frau für Dienstleistungen bezahlt), in ihrer Behaglichkeit und ihrer Beharrlichkeit auf dem Tradierten und Bekannten, ihrer Veweigerung gegenüber Neuerungen und Veränderungen, auch leisten können – in jeder Hinsicht, nämlich aufgrund ihres finanziellen, ihres sozialen und ihres kulturellen Kapitals.

In diese Welt bricht die Krankheit gerade so brutal und verletzend ein, wie in der allerersten Einstellung des Films die Feuerwehr in die verschlossene Wohnung. Die Perspektive, die Haneke wählt, ist hierbei entscheidend. Wir sind als Zuschauer schon drin in der Wohnung; wir erleben dieses Eindringen nicht als Befreiung oder Rettung, sondern als Einbruch. Alles, was von außen kommt, wird von Anne und George letztlich daraufhin überprüft, ob es ihr symbiotisches Leben in der harmonisch eingerichteten Wohnung stört, beeinträchtigt, beschädigt.  Es ist ihnen wichtig, man wird das später mehrfach sehen, dass jede und jeder, der hereinkommt, auch möglichst schnell wieder geht. Das liegt nicht daran – oder zumindest noch nicht –, dass sie etwas zu verbergen haben. Sie wollen einfach nur für sich sein und gerade so bleiben, wie sie sind.

Diese grundkonservative Haltung, ihre Verschlossenheit und ihre Selbstbezüglichkeit sind es – und Haneke zeigt das mit einer geradezu brutalen Schärfe – die ihnen zum Verhängnis werden. Ich finde es erstaunlich, dass in vielen Rezensionen des Films davon die Rede war, dies sei – gemessen an Hanekes  bisherigem Werk – ein sehr zärtlicher Film. Ich habe einen ganz anderen, einen kühlen und kritischen Film gesehen und auch einen brutalen und gewalttätigen. Am Ende dieses Films wird gemordet und die böse Tat trägt alle Merkmale der Heimtücke.

Es stimmt, dass es in diesem Film um Liebe geht, um jene „AMOUR“, die zwei Menschen aus aller Welt und allen Zusammenhängen herauskatapultiert und zu einer Einheit zusammenfügt. So eine Liebe - wer es wissen will, jenseits des Kitsches und des billigen Hollywood-Happy Ends, hat es immer schon gewusst - kann anders nicht als grausam sein, so zärtlich sie sich auch geben mag. Denn diese Art der Liebe reißt die Liebenden aus allen Beziehungen heraus und lässt sie gegenüber den Anderen gleichgültig werden. Es ist die Liebe von Menschen, die nichts hergeben wollen und die alle Veränderung (auch der Liebe) als tödliche Bedrohung erfahren. „AMOUR“ ist ein Film über die „Liebe“, die auf Ausschließlichkeit und Einheit besteht, auf Gleichheit und Ewigkeit.

In diesem Film wird nichts groß auserzählt und breit psychologisch ausgebreitet. Aber alles wird – mit feinen Pinselstrichen – sicht- und hörbar gemacht. George, schmeichelt ihm Anne einmal, als sie noch gesund ist, sei ein Monster, aber nett. Ein andermal, viel später, erzählt George von einem Ferienlager, in das er fahren musste und in dem er Milchbrei essen musste, was er verweigerte. Mit seiner Mutter habe er ein Geheimzeichen ausgemacht: Wenn es ihm gut gehe dort, werde er ihr eine Karte mit Blumen schicken, ansonsten eine mit Sternen. Die ganze Karte, die er geschickt habe, seine Mutter habe sie aufbewahrt, sei mit Sternen übersät gewesen und schließlich habe er mit Diphterie ins Krankenhaus gemusst, wo seine Mutter ihn nur habe durch die Glasscheibe anschauen können. Das ist das Trauma von George: Herausgerissen werden aus der Gewohnheit, essen und leben müssen, wie man es nicht kennt, getrennt von der Mutter. Veränderung und Trennung sind für George geradezu lebensbedrohlich. Als Georges und Annes Tochter (gespielt von der wunderbaren Isabelle Huppert) zu Besuch kommt, wird sofort deutlich, wie entfremdet sie den Eltern ist und später wird angedeutet, dass sie sich auch schon als Kind durch die elterliche Einheit ausgeschlossen fühlte.

Hanekes Film zeigt realistisch, wie die Pflege von Anne, die im Laufe der Filmerzählung zwei Schlaganfälle erleidet, George überfordert, wie Anne von Wut und Schmerz über den Verlust ihrer Selbstständigkeit geplagt wird, wie sie sich für ihre Abhängigkeit und Unzulänglichkeit schämt. Aber im Zentrum dieses Filmes steht eben nicht die Kritik an der Pflegesituation für alte und sterbende Menschen oder – wie in Dresens Film – das Interesse am Erleben eines Sterbenden und dessen Angehörigen, sondern die Analyse einer bestimmten Beziehungs- und bürgerlichen Lebensform, für die die Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre, von Innen und Außen, von „wir“ und „die“, von Beharrung und Verharren konstitutiv ist. Diese Lebensform wird mit dem gewohnt kühlen Hanek´schen Blick analysiert und dekonstruiert. Was zum Vorschein kommt, ist aber nicht die Zärtlichkeit einer Altersliebe, sondern: das Monster und die Gewalt  der Liebe. 

10 Kommentare:

  1. Danke für diese Besprechung. Ich habe den "Liebe"-Film auch so gesehen, konnte aber mein Unbehagen an den ganzen Besprechungen, die darin die höchste Form einer idealen Liebe sehen, nicht so richtig formulieren. Du hast es jetzt sehr gut in Worte gefasst.

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  2. Dieser Besprechung kann ich in fast allen Punkten begeistert folgen, nur diesen einen Satz:

    “'AMOUR' ist ein Film über die 'Liebe', die auf Ausschließlichkeit und Einheit besteht, auf Gleichheit und Ewigkeit.“

    hätte ich persönlich lieber so formuliert:

    „AMOUR“ ist ein Film über jene Seite der „Liebe“, die nach Ausschließlichkeit und Einheit giert, nach Gleichheit und Ewigkeit.

    Denn ich sehe erstens einen solchen Film nicht gern als Gesamtschau, sondern eher als Versuchsanordnung im Labor (hier aus Kamera und Drehbuch), die etwas aus einer Gesamtheit destilliert, das zweitens, falls der Versuch einen verständigen Ansatz verfolgt, zwar in ihr enthalten ist, sie sich darin aber keineswegs erschöpfen muß.

    Daher spräche ich lieber von unterscheidbaren Momenten der 'Liebe' als von verschiedenen Arten von 'Liebe', um nicht der Illusion zu verfallen, Liebende könnten sich die Art ihrer Liebe wie aus einem Katalog anhand von ausgewiesenen Vor- und Nachteilen aussuchen.

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    1. "Liebe" habe ich nicht umsonst in Anführungszeichen gesetzt. Es ist eine Form der Liebe und eine Form des Lebens, die Haneke hier beschreibt. Eben jene, die auf Privatheit, Ausschluss/Einschluss, Rückzug und auf einer exklusiven Zweisamkeit besteht, die Bewahren und Verharren will und für die das Neue, die Überraschung, das Kontingente, auch die eigene Verletztlichkeit und Veränderlichkeit bedrohlich sind. Ich halte Hanekes Film durchaus auch für gesellschaftskritisch.

      Man kann sich nicht aussuchen, wen man liebt und bis zu einem gewissen Punkt sicher auch nicht wie. Aber die "Liebe" ist immer ein Konstrukt, ein soziales und kulturelles. Ich glaube, man trägt auch Verantwortung für die Art, wie man liebt. (Etwa Sätze und Gedanken vermeiden wie: "Ohne dich kann ich nicht leben.") Ich kann es auch anders ausdrücken: Ich hoffe, niemals s o geliebt zu werden wie Anne von George.

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  3. Vielen Dank für diese Besprechung, die mir sehr dabei geholfen hat, meine Eindrücke von dem Film zu verstehen. Habe Dich in meinem Blog verlinkt mit ein paar Gedanken dazu: http://nichtvertretbar.blogspot.de/2013/01/im-kino-amour.html Viele Grüße!

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    1. Danke für die Verlinkung! Ja, dieses "Haltung bewahren", sich gleich bleiben müssen und dabei versteifen - das bildet der Film ab, bis in die Körper der Darsteller hinein.

      Dabei liegt in jedem Bewahren natürlich viel Tröstliches. Wenn es zwanghaft wird und die Veränderung traumatisch erfahren wird, dann wird es - oder kann es - böse werden. So zumindest habe ich den Film gesehen.

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  4. Das ist ein m.E. richtiger Satz: “... man trägt ... Verantwortung für die Art, wie man liebt.“ Doch ist es, so glaube ich zumindest, ein großes Problem der Verantwortlichkeit, daß sie nicht mit der Macht über das Gebiet, auf das sie sich erstreckt, in eins fällt, ja daß im Extrem sogar Ohnmacht und Verantwortung Hand in Hand gehen können. Sich Liebende (egal nun ob zwei oder mehr) haben immer Exklusivität gegen Lebendigkeit ausgespielt, mit den bekannten Resultaten der Erstarrung und/oder Zerstörung, und ich fürchte, sie werden es bei aller Bewußtheit dieses Problems wohl immer wieder tun, es sei denn, der Wunsch nach dem Geliebten, seiner Nähe und seiner Zuwendung wäre in allen Nuancen ähnlich leicht formbar wie der nach neuen smartphones.

    Das will ich aber nicht glauben! Es beleidigte meine Idee von Liebe, Ego und Glück, wie auch die von Haß, Gesellschaft und Leid. Ich will lieber glauben, daß Gefühle, die zwischen Menschen bestehen können (und sich als Ausdrucksformen natürlich gesellschaftlicher Konventionen, Überzeugungen und Ideen bedienen müssen) einen Kern von Unberührbarem enthalten, der sich jeder Anpassung und Formung widersetzt.

    Das bringt mich sicherlich in die Nähe derjenigen, für die „das Neue, die Überraschung, ... auch die eigene Verletztlichkeit und Veränderlichkeit bedrohlich sind“, ich hoffe allerdings, diese Nähe nicht stets zerstörerisch wenden zu müssen (etwa indem das 'mach kaputt, was dich kaputt macht' zur Legitimation eines präventiven Totschlagens alles Fremden mutierte), sondern gerade aus dem Wissen darum ein etwas flexibleres 'Mir-in-der Zeit-Gleich-Sein' (man kann es Ego oder Persönlichkeit oder Ich nennen) gewinnen zu können, das solche Ängste (die ich selbst habe, wie andere Menschen, so weit ich oft sehe, ebenfalls) beruhigen kann, ohne sie plump zu ignorieren.

    Der anonyme Beitrag von 9:30h war übrigens von mir, ich habe nur die falsche Auswahl des Absenders beim Kommentieren benutzt.

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    1. In deren Nähe, zweifellos, bewege auch ich mich i m m e r. Ich bin im Kern ein Mensch, der sehr beständig ist, sich sehr einrichtet, eine Nestbauerin, wenn man so will. Aber ich misstraue diesem Zug auch. Die Sehnsucht nach Exklusivität gehört zur Liebe dazu, ganz bestimmt. Und es gibt keine dauerhafte Balance zwischen Innigkeit und Lebendigkeit, man muss sie dauernd suchen (ohne dabei zu angestrengt zu werden, nicht wahr?)

      Ich bin ganz einverstanden. Und glaube ebenso sehr an etwas Magisches in der Liebe, was sich Vernunft und der "Selbstbestimmung" entzieht. Aber ich misstraue den Versuchen, mit "Liebe" Eifersucht, Gewalt und Totschlag zu "veredeln", ihnen geradezu einen Heiligenschein zu verpassen: "Wahre" Liebe ist eben so, ganz oder gar nicht!

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  5. ich werde den film am donnerstag sehen. aber ich bin mir jetzt schon sicher, dass ich ihn großartig finden werde.

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    1. Wer weiß? Sogar Morel, der von sich immer wieder betont, er sei kein Haneke-Fan, fand diesen Film gut. Aber eben nicht "großartig". Die Wirkung von Kunstwerken ist sehr verschieden und ich bin dankbar (und ein wenig stolz :-) ), dass Morel und ich nicht darauf angewiesen sind, einander immer von der Großartigkeit und Bedeutsamkeit dessen überzeugen zu müssen, was die eine oder den anderen bewegt und erfasst.

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