Manchmal
geht die Geschichte schief. Der Weltgeist folgt dem Zeitgeist und so kommt sie
vom Wege ab. Manchmal fängt etwas revolutionär an und endet als Sturm im
Wasserglas. Manchmal braucht es einen zweiten Anlauf. Manchmal hat sich das
falsche Bewusstsein so tief in Habitus und Sprache eingenistet, dass es mehrere
Generationen braucht, die Verwirrung des Geistes, den Widerstand des
Nicht-Denkens gegen die zu denkende Wahrheit in eine Wirklichkeit zu
verwandeln. Unseren Bemühungen entgegen steht nicht nur eine
Wirtschaftsordnung, die zur Religion erhoben wurde, sondern auch eine
symbolische Ordnung, deren mit Wertung (d.h. Abwertung) aufgeladenes
Zeichensystem erst in einem mühsamen Prozess umgedeutet werden muss.
Unsere Revolte im Jahre 2007, Schwestern und Brüder, lasst uns den Tatsachen ehrlich
ins Auge schauen, verpuffte folgenlos. Wir unternahmen einen mutigen Anlauf,
eine Gesellschaftsordnung radikal zu verändern, durch die unser Lebensmut
täglich erstickt, unsere Freude beschnitten, unser Glück getrübt wird. Doch wir
scheiterten, kläglich muss man sagen. Wir unternahmen eine übermenschliche
Anstrengung, um uns in einer gemeinschaftlichen Aktion gegen die Unterjochung
zu stemmen – und unterlagen!
Was
waren die Gründe für unser niederschmetterndes Versagen? Ich brauche es euch
nicht zu sagen, Schwestern, Brüder, ihr wisst es so gut wie ich. Die Methode,
mit der unsere Feinde, die Parasiten an unserem Lebenssaft, uns klein halten,
uns täglich die Kräfte rauben und unseren Widerstand erlahmen lassen, ist simpel:
Wir sind immer müde. So ist es, Freundinnen und Freunde, Leidengenossinnen und
– genossen! Sie zwingen uns durch ein perfektioniertes System aus
Erziehungsanstalten, Arbeitsvorschriften und moralischer Diskriminierung ihren
Lebensstil auf und halten uns durch eben dieses System in einem Zustand, der
jeden Widerstand erlahmen lässt.
Sie
nennen uns Morgenmuffel und sich selbst Frühaufsteher; die Liste der Worte, mit
denen sie uns ausgrenzen und herabwürdigen ist lang: Murmeltier, Faulpelz,
Matratzenwärter. Liebste Mithäftlinge, ich bitte Euch um Verzeihung, dass ich
diese Worte ausschreibe, die euch schmerzen müssen. Doch ist es meine Absicht,
euch aufzurütteln. Ich weiß: Ihr seid, wie ich, müde, ausgelaugt, ausgebrannt,
durch diese ewige Anpassung an eine Lebensform, die euch nicht entspricht.
Lasst uns dennoch und deshalb noch einmal gemeinsam einen Anlauf nehmen, die
Welt zu verändern!
Es
muss nicht sein, dass Menschen wie wir in der Dunkelheit grausam durch
schmerzhafte Laute geweckt und aus dem wärmenden Bett gerissen werden, um irgendeiner Arbeitstätigkeit nachzugehen, die
einen - wie in meinem
verzweifelten Fall – Dienstantritt um 7.30 Uhr verlangt. Das ist nicht
natürlich! Das ist nicht Gott gewollt! Das sorgt nicht für ein höheres
Bruttosozialprodukt, nicht für bessere Stimmung, heitere Mienen, glückliche
Familien.
Ich
mache mich vielmehr anheischig, eine Vielzahl schwerwiegender
gesellschaftlicher Probleme auf eben diesen brutalen und rücksichtslosen Umgang
mit dem natürlichen biologischen Rhythmus von Menschen wie uns zurückzuführen:
Verkehrsrauditum, demographischer Wandel, Jugendkriminalität, Burnout – alles
Folge der fürchterlichen Herrschaft der Alpha-Menschen (vulgo: Frühaufsteher)
über Bildung, Wirtschaft und Politik.
Wir
sind zu müde, zu unorganisiert und
– dank der umfassend und durchschlagend wirksamen ideologischen Verblendung –
zu wenige Überzeugte, ihr wisst es auch, um jetzt, zu diesem Zeitpunkt den
bewaffneten Kampf, die endgültige Revolution zu starten.
Lasst
uns dieses Mal daher anders beginnen Lasst uns die symbolische Ordnung verändern.
Lasst uns die Worte umwerten. Lasst uns stolz darauf sein, ein Morgenmuffel zu
sein. Tragt Buttons! Erfindet Worte für die Bettflüchtlinge, die ihnen die
Schamesröte ins Gesicht treiben. Seid vor neun Uhr morgens unausstehlich. Zeigt
vor 8.30 Uhr nur noch indiskutable Leistungen. Rechtfertigt euch nicht. Gähnt.
Ausgiebig. Lasst demonstrativ den Kopf auf eure Hände sinken. Gähnt noch
einmal. Macht die Nächte durch. Seid am Morgen bewusst ungnädig, unwillig und
unfreundlich. Aber vergesst nicht: Immer den Button tragen! Immer zeigen, worum
es euch eigentlich geht. Seid tapfer. Rechnet mit Sanktionen.
Es
wird ein langer Kampf. Vielleicht werden wir die Früchte unseres Widerstandes
nicht mehr ernten gönnen. Lasst es uns für unsere Kinder und Kindeskinder
wagen!
Vergiftet den frühen Vögeln den Wurm, spuckt es ihnen in die Visagen:
"Nur was zerfällt, vertretet ihr!
Seid Kasten nur, trotz alledem!
Wir sind das Volk, die Menschheit wir,
sind ewig drum, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem:
So kommt denn an, trotz alledem!
Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht!
Unser die Welt, trotz alledem!"
Seid Kasten nur, trotz alledem!
Wir sind das Volk, die Menschheit wir,
sind ewig drum, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem:
So kommt denn an, trotz alledem!
Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht!
Unser die Welt, trotz alledem!"
KAMPF
UND UNTERGANG DEM FRÜHAUFSTEHEN!
Danke Ihnen für dieses schöne Pamphlet gegen die Diktatur des Frühen Vogels. Sie sprechen mir damit ja sowas von aus der Seele! Was habe ich nicht alles getan, um morgens motivierter, frischer, schwungvoller zu sein - in der Annahme, ich tickte etwa nicht richtig. Die vermeintliche Faulheit haben auch schon die Eltern an mir kritisiert, wenn ich morgens nicht das blühende Leben, sondern zerknittert und missgelaunt war. So ist der Umstand, dass ich mir eine Postkarte mit der Aufschrift "Der frühe Vogel kann mich mal" an die Wand gehängt habe, für mich die dezente Erinnerung an das Aufbegehren im Kleinen und daran, dass es mein gutes Recht ist, nicht glücklich zu sein über die ständige Müdigkeit und das Ausgelaugtsein, das Sie so treffend beschreiben. Im Grund ist es gesellschaftlich diktierte Körperverletzung, dieses Sich-aus-dem-Bett-quälen-müssen. Ich habe festgestellt, dass auch alle gern und vorschnell gegebenen Ratschläge wie "Dann geh' doch einfach früher schlafen!" der vollkommene Unfug sind und dass ich nun mal so getaktet bin. Offenbar bin ich nicht die einzige. Für diese Erkenntnis danke ich Ihnen sehr.
AntwortenLöschenDen Dank gebe ich zurück. Auch ich bin immer froh, wenn eine oder eine auftaucht, die oder der meine Not und Verzweiflung begreift und teilt. :-)
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