Ein Beitrag von Morel
Am
14. August 1969 erholt sich der Schriftsteller Peter Handke vom
"abenteuerlichen Lärm in Berlin" gemeinsam mit der Kleinfamilie im
heimatlichen Griffen. "Ich lese viel, vor allem Zeitungen (die Süddeutsche
Zeitung kriegt man schon am gleichen Tag), die man so weit genauer und
langsamer studiert," schreibt er an Siegfried Unseld. Was studiert er da?
Wieso sollte ein Schriftsteller Zeitungen langsamer lesen, wenn überhaupt.
Peter Handke hat in einem mir entfallenen Zusammenhang auch das Wort
Zeitungssucht aufgebracht. Vor seiner langsamen Heimkehr zu einer eigenen
Sprache bearbeitet er in seinen frühen Stücken und Texten sprachkritisch Formen
des uneigentlichen Sprechens, des Gesprochenwerdens. Bei dieser Arbeit sind
Zeitungen sicherlich hilfreich als Speicher aktueller Sprachformen, aber
Werbung und politische Propaganda täten es auch. Die Zeitungssucht der
Literaten geht weiter als ein wenig Kulturkritik. Nur wenige Schriftsteller
(jedoch einige Schriftstellerinnen) sind in der jüngstvergangenen Moderne ganz
frei von ihr. In Wittgensteins Neffe
reisen die Helden dieses burlesken und gleichzeitig berührenden Prosastücks von
Thomas Bernhard von Wien bis in die Schweiz, um eine Samstagsausgabe der Neuen
Zürcher Zeitung mit einem musikkritischen Artikel zu erwerben. Einer der berühmtesten
Romane der literarischen Moderne handelt nicht nur von Leopold Bloom, einem
Anzeigenverkäufer, der schon zu Beginn auf der Toilette Zeitung liest: ein
Kapitel besteht aus nichts anderem als kurzen Zeitungsnachrichten. Was
fasziniert moderne, männliche Schriftsteller so an der Zeitung?
Konkurrenz belebt die Kunst. Zunächst einmal: sie kennen sie auch von innen, denn
nur von Romanen lässt es sich schwer leben. Viele Schriftsteller schreiben im
20. Jahrhundert Kritiken, Glossen, Kommentare, seltener Reportagen für Zeitungen oder Zeitschriften. Damit ist
die Zeitung eine der wenigen gesellschaftlichen Institutionen, die ein
Schriftsteller aus eigener Anschauung beschreiben kann. Aber beileibe nicht die
einzige: Schule, Universität und das Militär wurden ebenso von vielen erlebt,
erlitten und erschrieben. Und wenn gar nichts mehr hilft, eröffnet der seit
Freud unumgängliche Familienroman den Zugang zu einer Wirklichkeit, die von
fast allen beurteilt werden kann. Die Zeitung aber ist die einzige Institution,
die in Konkurrenz zu einer literarischen Form, dem Roman getreten ist. Wenn
dieser, wie Stendhal bemerkt hat, ein Spiegel sei, der eine Landstraße entlang
spaziert, kommt die Zeitung einfach durch mehr Straßen.
Jenseits der Schlagzeilen. Auf diese Konkurrenz reagieren Literaten entweder
polemisch oder affirmativ. Karl Kraus führte Zeit seines Leben einen Kampf
gegen das Zeitungsklischee - unter weitgehenden Verzicht auf ein eigenes Werk.
Anders geartet ist die bewusste Abkehr von Zeitungswirklichkeiten, um
unbelastet etwas Neues zu erfahren. Hier wäre natürlich der heimgekehrte Peter
Handke zu nennen sowohl mit seinen Romanen als auch in seinen Versuchen die
Massenmedien in Serbien vor Ort zu widerlegen. Doch auch hierfür muss er viele
Zeitungen lesen und viele Journalisten beschimpfen. Trotzdem: spätestens seit
Ende der 70er Jahre versucht Handke, Luhmann zu widerlegen: ""Was wir
über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, wissen wir
durch die Massenmedien." Zumindest über die Welt, vermutet Handke, wissen
wir aus den Massenmedien gar nichts.
Die gedruckte Realität. Der andere, ebenso folgenreiche Umgang mit der
Beschreibungskonkurrenz durch die Zeitung ist affirmativ. Hier gibt es zwei
Spielarten: eine eher naive Affirmation, wie sie zum Beispiel Tom Wolfe und
seine deutschen Adepten vertreten. Journalismus ist für sie die bestmögliche
Wirklichkeitsbeschreibung, weil nur er mit der blöden Innerlichkeit Schluss
macht und auch andere mal zu Wort kommen lässt. Schön wär's und manchmal wird
aus diesem Ideal auch Realität. Aber in der Regel endet man auf diesem Weg bei
der nun wieder in allen Zeitungen abgefeierten Form von selbstbewusster
Dummheit, wie sie gerade für Tom Wolfe typisch ist: meine Klischees sind so
wirklich wie mein Weltbild verengt.
Die Zeitung vom nächsten Tag. Vielversprechender ist die kritisch-affirmative
Aneignung der Zeitung für den Roman. Der beste deutsche Roman nach 1945 heißt Jahrestage und jedes Kapitel dieses
Roman handelt von einem Tag aus dem Leben von Gesine Crespahl in New York. An
den meisten dieser Tagen liest sie Zeitung, die New York Times. Manchmal
erinnert sie sich an eine Kindheit im Krieg, im Kontrast dazu: die Kindheit ihrer
Tochter in New York. Und dazwischen soviel Alltag und Lebenswirklichkeit wie in
keinem anderen Roman dieser Jahre. Was soll die Zeitung in diesem Roman, in dem
sich Familien- und politische Geschichte spiegeln. Johnson ist sicherlich näher
bei Luhmann als Handke. Für ihn ist Gesine Crespahl nicht außerhalb ihrer Zeit
zu verstehen. Was in den Zeitungen steht, in einer Sprache, die ihrem von
Deutschland geprägten Bewusstsein fremd bleiben muss, kehrt als unerwartetes
Ereignis zurück in ihre Biografie. Der Roman endet an einem Ostseestrand am
Vorabend des Einmarschs der russischen Truppen nach Prag. Gesine Crespahl
sollte im Auftrag ihrer Bank mit der Dubcek-Regierung über einen Kredit
verhandeln. Indem er die Innerlichkeit, die Erinnerungen und oft nur angedeuteten
Gefühle seiner Hauptfigur dem Kältestrom der Zeitungsnachrichten aussetzt,
zeigt Johnson, was dem traditionellen Roman fehlt: die Unabgeschlossenheit des
Zeitungsromans, der jeden Tag ein neues Kapitel schreibt. Die Zeitung ist hier
nicht der bessere Roman, sondern das, was ihn irritiert.
Die Feier des Jetzt. In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts muss ein junger Mann in
bayerischen Biergärten gesessen haben, in der Hand einen der Bände von Johnsons
Jahrestagen. Rainald Goetz ist der größte Zeitungsjunkie unter Deutschlands
Schriftstellern, eine Abhängigkeit, die er wie ein Stigma ausstellt. In seiner
Humboldt-Vorlesung waren nicht nur Zeitungsfotos im Stile Warhols (Guttenberg,
Amy Winehouse, Charlotte Roche), sondern auch der Kassenzettel über die vielen
Presserzeugnisse zu sehen, die trotz Internet noch tagtäglich in gedruckter
Form gekauft werden müssen. Wie Johnson, der seinen Roman mit Hilfen von
Zeitungsarchiven und von Rudolf Augstein großzügig zur Verfügung gestellten
Jahrgangsbänden des Spiegels schrieb, ist die Prosa von Goetz ohne täglichen
Zeitungskonsum kaum denkbar. Dabei gibt es genug Äußerungen, in denen er die
Zeitung als besseren Roman feiert. Und so wie Johnson, sich bei Augstein einmal
sogar als Journalist bewarb, war Goetz mehrfach für Zeitschriften wie Tempo
oder Vanity Fair als Reporter unterwegs. Nur lesen sich seine Romane nun gar
nicht so wie die Gebrauchsprosa eines Tom Wolfe. Es ist weniger die Sprache,
die Goetz an der Zeitung fasziniert, sondern ihre Aktualität. Denn anders als
Johnson oder Handke geht es in Irre, Kontrolliert und auch in der Rückkehr
zum Roman namens Johann Holtrop
niemals nie um die Vergangenheit, sondern immer um Momentaufnahmen. Das
Schreiben steht zwar notwendigerweise im Zeichen des Saturns und kommt
melancholisch zu spät. Die Zeitung ist für Goetz eine anti-melancholische
Medizin, nicht interessant als Chronik der Zeit, sondern als Aufzeichnung von
Gegenwart, die dem Schreiber in seiner Klause entgehen muss. Es geht seriell um
die Aufzeichnung von Gegenwarten, die auch in ihrer Aneinanderreihung keine
stabile Vergangenheit ausbilden. Manchmal als Aufzeichnung des laufenden
Schwachsinns (1989) oder Dokument
unserer Debilität (der Wirtschaftsseiten-Jargon in Johann Holtrop). Logisch müsste eigentlich das Internet noch viel
besser der Ästhetik von Goetz entsprechen, da es Minuten- und
Sekundenprotokolle ermöglicht. Wer aber suchtartig auf Neuheiten wartet, wird
durch das Internet zum Fall für die Krankenkasse: der tägliche Nachrichtendruck
ermöglicht immerhin eine tägliche Reflexionspause. Das ist im kontinuierlichen
Nachrichtenstrom des Internet vorbei. Hier wechseln sich Aktion und Reaktion
jedesmal ab, wenn wir auf "erneuern" klicken. Daher bleibt Goetz dem
gedruckten Wort treu, auch wenn es ihm nicht heilig ist: als einzige Möglichkeit,
die eigene Sucht nach Zeitung zu regulieren. In seinen Internetexperimenten
Abfall für alle und Klage blieb die Kommentarfunktion folgerichtig
ausgeschaltet. Zeitungen und Fernsehen irritieren die Literatur von Goetz, aber
nur als Aufzeichnung werden sie produktiv. Soziale Medien dagegen sind für
diesen Mönch der Mediengesellschaft die Hölle.
I recall that when I visited Handke in Berlin in 1969 to discuss my translation of KASPAR and picked him up at the rather somber apartment he had rented from some prince at the Uhland Strasse the apartment was noticeabley full of stacks upon stacks of newspapers. There is that one volume of fond poetry that derives from his then pre-occupation and one or the other text in INNENWELT.
AntwortenLöschenAs to Uwe Johnson's JAHRESTAGE, I value Johnson's first three novels MUTMASSUNGEN, ACHIM, ZWEI ANSICHTEN as nothing else. But living in New York and knowing Johnson - see my interview in the Suhrkamp interview volume - and living in New York at the same time, and seeing how Johnson personally did not involve himself in the life there aside his job as editor at Harcourt Brace, and as a daily consumer of the New York Times myself, the appearance of daily excerpts from that paper in the book, struck me more as evidence of Johnson's personal estrangement than anything else. Goetz I am afraid remains a sheet of blank paper by and large for me so far.
http://handke-magazin.blogspot.com/2010/06/handke-magazine-is-over-arching-site.html
Thank you very much for sharing your impressions and experiences.
LöschenIn a way, I believe. the fascination or even the addiction to newspapers is often a sign for an estrangement, an opportunity (for men?) not to involve himself in "real life" or let´s say in "society". They like to keep the position of a pure observer (and very often praise himself even therefor, for being n o t involved). (Well, I can´t express myself in English as precise as I´d wih to).
But probably Morel´s view is very different from mine. I´m looking forward to his response.
No, my view isn't all so different from Melusine's: die Zeitung ersetzt das Gespräch, aber das Leben ist nicht leicht zu finden, wenn man nur ein Jahr in New York ist. Handke versucht es zu Fuss, das ehrt ihn. Morel
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