Montag, 4. Februar 2013

DEMOKRATIE ALS THRILLER. Stephen Spielbergs LINCOLN




Der erste und der letzte Blick auf den 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten, den dieser Film uns werfen lässt, nimmt die Perspektive schwarzer Männer ein. Zwischen diesen beiden Blicken entfaltet sich ein spannender Thriller, der ganz überwiegend im Repräsentantenhaus und im Weißen Haus spielt, ein Kammerspiel über den Kampf weißer, männlicher Politiker um die Durchsetzung des 13. Zusatzartikels zur Verfassung der USA, der die Sklaverei verbieten soll. 

Auf den Schlachtfeldern des ersten modernen Krieges der Geschichte, des amerikanischen Bürgerkrieges, starben Hunderttausende, darunter viele Schwarze in den Reihen der Union. Mütter verloren ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Schwestern ihre Brüder und Tausende von Frauen wurden durch marodierende Truppen vergewaltigt, während in der Vertretung des Volkes allein weiße Männer über Krieg oder Frieden, Sklaverei oder Freiheit, Gleichberechtigung oder Diskriminierung entschieden. Stephen Spielberg zeigt die Volksvertreter, wie sie ihre hochtrabenden Reden schwingen, rhetorisch kunstfertig oder plump populistisch, während die, über deren Zukunft sie auch entscheiden, auf der Tribüne bleiben müssen, aufs bloße Beobachten beschränkt: die Frau des Präsidenten Mary Todd Lincoln (Sally Field), die auf einem Papier die Stimmen zählt, und ihre Zofe, Elisabeth Keckley (Gloria Reuben), eine ehemalige Sklavin, der die Tränen in die Augen steigen, als der „radikale“ Verfechter der Gleichheit Thaddäus Stevens (Tommy Lee Jones) im Kreuzverhör seiner Gegner leugnet, dass die Schwarzen den Weißen gleich seien, sondern wie ein Mantra sich den Satz abringt, es gehe in diesem Verfassungszusatz allein um „Gleichheit vor dem Gesetz“.

Spielbergs Epos erzählt eine Geschichte, deren Parallelen zur Gegenwart geradezu erschütternd sind. Um den 13. Zusatzartikel durch das Repräsentantenhaus zu bringen, muss der Präsident kein doppeltes Spiel spielen, sondern ein drei-, ein vierfaches. Er muss seine getreuen Außenminister William S. Seward (David Strathairn), der ihm die nötigen Stimmen  unter dem Demokraten durch den skrupellosen und geschickten Strategen William Bilbo (James Spader) zusammenkaufen lässt, belügen, indem er ihm das Friedensangebot der Südstaaten verheimlicht und er betrügt den konservativen Flügel der eigenen Partei, der diesen Frieden so schnell wie möglich und ohne den Verfassungszusatz zu verabschieden, herbeiführen will und er muss die sogenannten „Radikalen“ um Thaddäus Stevens überzeugen, sich zurückzuhalten und keine anderen Forderungen zur Gleichstellung der Schwarzen zu erheben, bevor der Verfassungszusatz „durch“ ist. Politik ist ein schmutziges Geschäft und Spielbergs Film lässt darüber keine Illusionen zu. Politik ist aber nicht nur ein schmutziges Geschäft, das zeigt der Film auch: Politik kann der Durchsetzung von großen Zielen dienen, für die Mehrheiten erst gefunden werden müssen.

Präsident Lincoln, wie Spielberg ihn zeigt, ist kein leidenschaftlicher Überzeugungstäter, aber auch kein Zauderer, sondern einer, der die Gelegenheit, den historischen Moment, erkennt und ergreift und dann volles Risiko geht. Lincoln hat diesen Krieg nicht begonnen, um die Sklaverei abzuschaffen und die Schwarzen zu befreien, aber er lehnt die Sklaverei ganz grundsätzlich als Verbrechen ab und als sich durch den Kriegsverlauf die Gelegenheit eröffnet, ein schmales Zeitfenster, um die Vereinigten Staaten von Amerika von dieser Geisel endgültig zu erlösen, will er die Chance unbedingt nutzen. Dafür ist ein hoher Preis zu bezahlen: Die Fortsetzung eines verheerenden Krieges; die langen Listen der Gefallenen in den Zeitungen, die Amputierten in den Hospitalen, ein verwüsteter, auf Jahre hinaus zerstörter Süden. Lincoln weiß, was er auf sich nimmt und er trägt schwer daran. Als er am Ende des Films, kurz vor dem Attentat, Ulysses Grant (Jared Harris) auf den Schlachtfeldern trifft, sagt er ihm: „Wir beide haben einander die Möglichkeit gegeben, grässliche Dinge zu tun.“ Und Grant stellt fest, dass der Präsident, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hat, um ein Jahrzehnt gealtert ist.

Daniel Day-Lewis´ Darstellung des Abraham Lincoln in diesem Film ist brilliant, ohne das Bild eines übermenschlichen Heldens zu entwerfen. Day-Lewis´ Lincoln ist hinterhältig, verschlagen, als Politiker selbst ein unübertroffener Schauspieler vor dem Herrn, der seine innere Komplexität geschickt hinter äußerlicher Schlichtheit, auch der Sprache, zu verbergen weiß. Dieser Lincoln ist charmant und witzig; ein Mann, der seine Stärken kennt und einzusetzen weiß und dessen Schwäche, die Unfähigkeit, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, in der historischen Situation, in der er sich befindet, zwar privat tragisch ist, aber politisch zielführend, denn nur ein so ambivalenter, sich selbst mit Recht misstrauender Mensch kann im vertrackten, verminten und versumpften Geländer des Washingtoner Politikbetriebs einen krummen Weg ausfindig machen, um das Ziel zu erreichen. 

Ein Höhepunkt des Films ist die Szene, in der Lincoln und Stevens aufeinander treffen und die Lage im Weinkeller des Weißen Haus unter vier Augen besprechen. Diese beiden Männer, wiewohl vereint in ihrer Ablehnung der Sklaverei, könnten einander nicht unähnlicher und auch unsympathischer sein. Der eine verschmitzt, seine Ungelenkheit kokett ausstellend, taktierend, lavierend, mit großem rhetorischem Geschick stets die richtigen Worte für sein Publikum findend, der andere verbissen, rechthaberisch, energisch mit seinem Klumpfuss durch die Menge polternd und überall Freund und Feind voneinander scheidend, so treffen sie aufeinander. Stevens verachtet den Präsidenten, dem nach seiner Auffassung eine klare Linie fehlt, er findet dafür das Bild des Kompasses, der immer nach Norden zeige. Und Lincoln gibt dem Rechthaber recht: Der Kompass zeigt immer nach Norden, Sklaverei ist falsch; aber der Kompass zeigt nicht die Sümpfe an zwischen hier und dem Norden und wer geradeaus marschiert, der kommt in ihnen um. Stevens wird sich das – widerwillig – zu Herzen nehmen. Als ihm ein Mitstreiter nach dem Kreuzverhör durch die rassistischen Demokraten vorwirft, er habe die gemeinsame Sache verraten, indem er nicht offen für die Gleichheit der Schwarzen eingetreten sei, weiß er, dass er nicht das Rechte, aber das Richtige getan hat. Ein Leben lang, sagt er, habe er für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft, das sei der Preis gewesen und der sei es ihm wert: Einmal nicht „die Wahrheit“ sagen.

Sie gehen ein hohes Risiko ein, Lincoln und sein Stab, als sie in diesem rassistischen Umfeld, in dem selbst die weißen Gegner der Sklaverei sich nicht vorstellen können und wollen, dass Schwarze einmal das Wahlrecht haben könnten (Am Ende, so ein Zwischenrufer im "Hohen Haus", käme es gar noch so weit, dass auch die Frauen wählen dürften, und hat damit die Lacher auf seiner Seite.) den Krieg verlängern, um die Zweidrittelmehrheit für das Verbot der Sklaverei in der Verfassung zusammenzubringen. Spielbergs Film wirft dabei mehr als eine demokratietheoretische Frage auf. Nicht nur, was es für die Legitimität des Staats und seiner Institutionen bedeutet, wenn Entscheidungen nur von einem Teil der Bevölkerung (hier: weiße Männern) für alle anderen getroffen werden, sondern auch die Frage, ob Vordenker in einer Demokratie das Recht haben, eine Entscheidung voranzutreiben, die die Mehrheit (noch) nicht will. Von seinen Gegnern wird Lincoln vorgeworfen, wie ein Diktator zu handeln und tatsächlich wäre, so wie es der Film zeigt und die meisten Historikerinnen bestätigen, der 13. Zusatzartikel nicht in die Verfassung aufgenommen worden, wenn „Transparenz“ geherrscht hätte, d.h. wenn der Präsident allen Mitgliedern des Repräsentantenhauses alle relevanten Informationen (insbesondere das Friedensangebot des Südens) zur Verfügung gestellt hätte. 

Was bedeutet dieses historische Wissen um die Mechanismen des demokratischen Prozesses für die Gegenwart? Welche Rückschlüsse für aktuelle Akteure in politischen Konflikten ergeben sich daraus? Darüber regt dieser Film zum Nachdenken an und daher ist er mehr als eine Selbstreflexion der US-amerikanischen Nation über ihre historischen Wurzeln, sondern von Interesse für alle, denen die Demokratie am Herzen liegt.

Es wäre „LINCOLN“ aber kein Spielberg-Film, wenn es ihm nicht auch gelänge, große Emotionen darzustellen und auszulösen und sein Thema nicht bloß über Worte, sondern auch in überzeugenden Bildern zu formulieren. Abraham Lincoln sitzt am Anfang des Filmes so statuarisch da, wie wir ihn als Washingtoner Monument kennen. Er, der geniale Redner, dem Daniel Day-Lewis so eine verzaubernde Stimme verleihen kann, spricht nicht. Er hört zu. Er hört seinen eigenen berühmten Worte aus der Gettysburg Adress zu, die ein junger schwarzer Soldat der Union ihm vorträgt. Darin liegt gleichermaßen Selbstironie wie Pathos: „...the government of the people, by the people, for the people, shall not perish from earth“. Aus dem Munde eines Schwarzen erhalten diese Worte eine Bedeutung, der Lincoln nachlauscht, die ihm selbst noch fremd ist und der er durchaus ambivalent, zwischen Zuversicht und Sorge, entgegenschaut. Die Mienen der jungen Schwarzen sind freundlich, aber skeptisch. Dieser Mann, vor dem sie stehen, ist (noch) nicht ihr Präsident. Sie kämpfen für das Ende der Sklaverei, für ihre Freiheit, aber noch nicht für ihr Recht, Bürger jener Nation zu sein, die er repräsentiert. In hundert Jahren, so glaubt der junge Mann, der zurück in die Schlacht geht, vielleicht, werden schwarze Männer wie er auch wählen dürfen. 

In der Politik, so zeigt Spielbergs Film, kommt es in den entscheidenden Momenten auf die Persönlichkeit individueller Menschen an, auf ihre Bereitschaft und ihre Fähigkeiten, auf ihre Überzeugungen und ihre Flexibiltät, nicht auf das richtige Programm oder die messerscharfe Analyse. In Kontinentaleuropa wird über die „Personalisierung“ von Politik meistens abfällig gesprochen. Auf „die Person“ soll es nicht ankommen, es zählt allein „die Sache“. Das ist ein Verständnis von Politik, das diese als Umsetzung von theoretischen Programmen begreift. Das US-amerikanische Verständnis von Politik, das sich auch in Spielbergs Film ausdrückt, ist anders: Es geht nicht um die Umsetzung von Theorien, sondern um das Annehmen aktueller und größtenteils unvorhersehbarer Herausforderungen, denen sich vor dem Hintergrund von Wertvorstellungen zu stellen ist. Deshalb kommt es auf den „Charakter“, auf die Persönlichkeit von Politikern und Politikerinnen sehr wohl und vor allem an. (Ich selbst halte diese Sichtweise nicht nur für pragmatisch, sondern schlicht für realistisch.) Stephen Spielbergs Lincoln träumt in einer Eingangssequenz davon, als Steuermann auf einem Schiff zu stehen, das er durch einen undurchdringlichen Nebel führen muss.

Abraham Lincolns Ermordung zeigt der Film nicht. Den lebenden Lincoln sehen wir zum letzten Mal mit den Augen seines schwarzen Kammerdieners, der feststellen muss, dass der Präsident die Handschuhe, die er ihm gerade noch in die Hand gedrückt hat, wieder hat liegen lassen. In dieser kleinen Achtlosigkeit zeigt sich die ganze Ambivalenz der Figur noch einmal: die Nonchalance, der Charme, die ausgestellte Einfachheit und Bescheidenheit, die Ignoranz gegenüber der kleinen, der „privaten“, der nicht-politischen Welt. Abraham Lincoln wäre gerne noch geblieben unter den Kollegen in seinem Kabinett, aber er muss gehen. Der schwarze Diener ruft ihn im Auftrag von Mrs. Lincoln, der Frau. 

Wie in einen Traum oder einem Erinnerungsbild wird zuletzt doch noch einmal weich von der Leiche des Präsidenten auf den Redner Lincoln geblendet, wie er jene zweite Rede hält, die im Lincoln Memorial neben der Gettyburg Adress steht, seine Inaugural Speech für die zweite Amtszeit: „bind up the nation´s wounds.“

Die Narben dieser Wunden im Fleisch der modernen Demokratie: die Sklaverei, die Vertreibung und Ermordung der indianischen Urbevölkerung, die Unterdrückung und Entmündigung der Frauen – sie sind immer noch sichtbar, sie schmerzen weiterhin, sie heilen mühsam, wenn überhaupt.

***

1870 erhielten männliche Schwarze formal das Wahlrecht. Aber es dauerte beinahe ein Jahrhundert bis sie dieses Recht in allen Bundesstaaten auch faktisch in Anspruch nehmen konnten.

Ein weiterer Krieg war nötig, damit 1920 schließlich auch Frauen das Wahlrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika erhielten.

Heute wäre Rosa Parks hundert Jahre alt geworden, die sich 1955 in Montgomery, Alamba weigerte, für einen Weißen im Bus ihren Platz zu räumen. 

***

Stephen Spielberg´s LINCOLN ist für 12 Oscars nominiert. Schwer vorstellbar, dass der Oscar für den besten männlichen Hauptdarsteller an einen anderen als Daniel Day-Lewis geht. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen