Mittwoch, 5. Juni 2013

KEIN WAHRER SATZ ("Ihnen kann ich nicht helfen.") (Entwurf)


Sie sprach so leicht hin. „Ihnen kann ich nicht helfen.“ Das war etwas anderes als: „Ich kann Ihnen nicht helfen.“ Er begriff es, ohne danach greifen zu wollen. Die Zeiten, zu denen er noch symbolisch die Hand ausgestreckt hatte, waren lange vorbei. Sie wirkte frisch und roch rosig. Er hätte ihr jetzt gerne ein hässliches Wort an den Kopf geworfen, aber ihm fiel nichts anderes ein als „Dösboddel.“ und darüber hätte sie nur gelacht, dieses glucksende Lachen, das tief aus ihrem Bauchraum kam und kleine Perlchen an ihre Lippen spülte. 

Er konnte sich nicht erinnern, wie er in diese Situation komfortabler Gefangenschaft geraten war. Sie hielten ihn nicht mit Gewalt fest, soviel stand fest. Sie gaben ihm Hoffnung. Das war mehr, als er sich selbst verschaffen konnte. Wie hatte es soweit kommen können? Der Auftrag, der ihm erteilt worden war, hatte sich so simpel angehört: „Schreiben Sie niemals die Wahrheit.“ Als ob die die Wahrheit erkennen würden, wenn er sie ihnen zu lesen gäbe. Aber so hatten sie es formuliert: „Kein wahrer Satz. Alles erfunden.“ Da hatte er sich noch überlegen gefühlt, sicher, beinahe gelangweilt. Nicht einmal den Unterschied zwischen Lüge und Fiktion hatten die verstanden. Ohne Zögern hatte er angenommen, da noch ganz selbstbewusst: „Nichts leichter als das.“ Sie hatte gelächelt. Sie und sie. Er dachte immer im Plural an sie. Obwohl er nie eine von den anderen gesehen hatte. „Schreiben Sie alles auf, aber kein Satz darf stimmen.“ Er hatte das für einen Witz gehalten oder für eine bodenlose Dummheit.

Ich wurde im Jahre 1883 als Tochter eines Pfannengießers geboren.“, schrieb er. „Meiner Mutter war ich eine schwere Geburt, die Wehen zogen sich über mehrere Tage hin, sie keuchte unter ihrem Leinen, ihre Haare klebten an ihrem Schädel, sie schrie nach meinem Vater und schrie ihn weg.“

So fing er an. Das floss ihm leicht aus der Feder. Er nahm Korrekturen vor, immer wieder, von Anfang an, mühte er sich, dem erfundenen Leben eine Gestalt zu geben, die wahrer sein sollte als die  plumpen Fakten über seine geflügelte Gestalt.

Ich wurde im Jahre 1893 von einer Marta Antonia Brodelos geborene Niemand aus dem geschundenen Leib gepresst. Meine Mutter lag stundenlang in den Wehen mit mir, sie warf sich über die strohene Matratze, die sie sonst nächtens mit dem Vater teilte, der verbannt worden war von diesem Lager durch das strenge Regiment der Tante Marie, das sie zu Geburt und Tod jeweils  unangefochten übernahm, herbeigeeilt aus dem nahen Fredenbach in unsere Kate im Lehm.“

Das war schön altbacken daher gequasselt, dachte er. Das würden sie nicht aushalten, bildete er sich ein, so einen Sermon, Seite für Seite, ohne voranzukommen, denn er gedachte schon gleich dem ersten Lebensjahr dieser Tochter der Marta Antonia Brodelos, deren Eigennamen er noch gar nicht genannt hatte, keinesfalls weniger als hundert Seiten abzutrotzen. Doch schon auf Seite 7 seines vielfach überarbeiteten Entwurfs unterstrichen sie ihm einen Satz zweifach und sie legte die sorgfältig abgetippte und ausgedruckte Seite mit gerunzelter Stirn vor ihm auf den Tisch.

„Was soll das?“ Er beugte sich über das Blatt und las: „Man erzählte mir später, ich sei ein ´rechter Racker´ gewesen und habe schon im ganz zarten Alter vom Schoße der Mutter nach allem geschlagen, was mir in Reichweite gestellt worden sei.“ „Und?“, gab er sich unschuldig.

Sie setzte sich neben ihn und legte ihr Tablet vor ihm auf den Tisch. Das Kennwort tippte sie so schnell ein, dass er es nicht erkennen konnte. Es erschien das bekannte Logo mit dem aufgerissenen roten Drachenmaul zwischen den weitgespreizten grünen Flügeln. Sie öffnete mit wenigen Fingertipps eine Datei und las ihm vor: „Wir beobachteten schon bald, nachdem F. geschlüpft war, ein Verhalten bei ihm, dass sich als charakteristisch erweisen sollte. Mit seine Krallen versuchte er nach allem zu grabschen, was in seine Reichweite geriet, auch wenn die Gegenstände in jenen frühen Monaten ihm nur als verschwommene Schemen erschienen sein können.“ Er schluckte.

Selbstverständlich hatten sie ihm davon erzählt; davon wie er immer alles zu ergreifen versucht hatte, von seinem schon so früh erkennbaren Verlangen, die Dinge in den Griff zu kriegen. Was ihn erstaunte und erschreckte aber waren die Worte, die in dem Bericht der Beobachter, den er nie zuvor gelesen oder gehört hatte, verwendet wurden: „grabschen“ und „Reichweite“. Das hatte in seinen Gehörgängen geklungen, während sie vorlas, als hätte er selbst beschrieben, was an ihm beobachtet worden war.

Sie sah ihn an, verwundert, fast ein wenig traurig. „Wir wollen Ihnen helfen. Aber wir können es nicht. Solange Sie sich nicht wahrhaftig erfinden können.“ Er hätte am liebsten nach ihr gegrabscht, sie zwischen seinen Klauen zerrissen, doch diese Zeiten waren, wie schon gesagt, vorüber. „Wahrhaftig erfinden.“ Was ahnte sie? Sie wusste nichts. Sie können keinen Spuren lesen. So war es ihm eingetrichtert worden. Wie aber hatte er hierhin gelangen können, wenn das wahr war? 

Er senkte den Kopf, um ihrem Blick auszuweichen. Die Tischplatte, weiches Holz, schimmernd poliert. Was ist ein Tisch? Das ist kein Tisch. Sein Kopf schlug auf.

(Fortsetzung zu der Serie: Fabelwesen)



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(Noch stellt sich keine Fügung ein, wie diese Teile je zusammen finden können. Wer erzählt hier? Ich weiche diesen Problemen jetzt aus. "Fabelwesen" ist ein Geschichten-Konvolut, in dem ich meine Figuren kenne, aber nicht ihre Beziehung zu e i n e r Erzählung. Die Verknüpfung muss später gelingen  - oder nie.)

5 Kommentare:

  1. Das gefällt mir.
    (Und es fügt ein Mosaiksteinchen hinzu zu meiner momentanen Schreibnachdenkerei.)

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    1. @"Schreibnachdenkerei" - dieses Verhältnis zwischen Erfindung und Abbildung, Fiktion und Vor-Bild, Phantastik und Realismus ist immer wieder neu zu bestimmen. Ich glaube nicht, dass es e i n e Regel gibt, die für alle Schreibvorhaben gilt, aber ich glaube, dass es für jedes einzelne eine zwingende Relation gibt. Wenn zum Beispiel die Orte ganz "realistisch" dargestellt werden, mit einer fast zwanghaften Treue zu geografischen Fakten, dann kann sich eine viel mehr skizzenhaftes Darstellen leisten. Dracula wohnt in den Karpaten und freilich sind es nicht jene, die auf einer Landkarte des Balkans eingezeichnet sind und andererseits könnte er nicht dort hausen, gäbe es diese Landkarten und die mit ihnen verbundenen Assoziationen und Reiseerfahrungen nicht. Je phantastischer aber die ganze fiktive Welt ist, desto reicher und detailgenauer müssen dagegen die erfundenen Landkarten ausgestaltet werden, wie etwa bei Tolkien. Irgendeine Verlinkung mit der Wirklichkeit braucht es immer. Manchmal ist es für den Leser offensichtlich, manchmal nicht. Manchmal sind es Sätze aus dem realen Erleben, die Figuren in den Mund gelegt werden, manchmal ist es die schonungslose Offenbarung einer peinlichen und auch peinigenden Situation, die - eingebaut in die Erzählung eines fiktiven Geschehens - diesem "Tiefe" und "Wahrheit" verleiht, manchmal ist es etwas ganz Banales: der Geschmack von Zitruseis, eine Geste, eine Farbenspiel. Weil deine Geschichte sehr symbolisch ist, sehr traum-haft, könnte es sein, dass die Szenen "aus dem Inneren" sehr viel Konkretisierung brauchen. Aber sicher weiß ich es nicht. Du wirst es schon merken, wenn es "stimmt". LG

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    2. Das ist ein guter Hinweis, und ich vermute, dass es stimmt, dass diese speziellen Szenen der Konkretisierung bedürfen. Ich glaube sogar, dass es genau das ist - die Notwendigkeit der Konkretisierung und das Wissen um diese Notwendigkeit -, was es mir so schwer macht, über die Schwelle zu treten. Als müsste ich noch einmal zurück an einen ungeliebten Ort, um dann darauf zeigen zu können und zu sagen 'Seht her, so war es, ganz genau so'. Und natürlich "erfinde ich dann, um zu erzählen, wie es war" (um meinen momentanen Lieblingssatz noch einmal zu zitieren), aber ich habe die Gerüche wieder und die Geräusche, die unbequemen Stühle, die durchdringenden Blicke, die Rituale ...
      In mir streiten gerade zwei Seelen, die eine drängt hinaus, die andere bittet um Geduld.
      Danke, dass Du darauf eingegangen bist, obwohl es hier um Deinen Text gehen sollte.

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  2. Großartiger Text. Die Unklarheit darüber, wer da eigentlich erzählt, verstärkt nur seine halb märchenhafte, halb beklemmende Atmosphäre. Kluge, der Meister des Geschichten-Konvoluts, hat mal gesagt, die Geschichten kämen aus der Spitze des Bleistifts. Wie sie aber zusammenhängen und als Teile dann später ein Ganzes bildeten, das würden die Geschichten selbst machen beim Zusammenstellen zum Buch, da müsse der Autor sich möglichst zurücknehmen. (Tschuldigung, dass ich in letzter Zeit ständig mit Kluge daherkomme. Ich werd immer so obsessiv, wenn mich etwas begeistert.)

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    1. Danke.
      Ach, Kluge. Es gibt kaum einen lebenden deutschsprachigen Schriftsteller, den ich mehr schätze!
      Alexander Kluge zum 80. Geburtstag
      Also: Kein Grund für eine Entschuldigung. Die Neigung zur Obsession teile ich. Siehe Barbara Pym oder Ford Madox Ford - wenn ich einmal Feuer gefangen habe, muss ich immer gleich das Gesamtwerk "verschlingen". :-).

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