Sonntag, 20. Oktober 2013

DIE MACHT UND DAS KIND (noch einmal: Königliche Körper)


Um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert erhielt der Hofmaler Francisco Goya den Auftrag, die spanische Königsfamilie um Karl IV. zu malen. Goya hatte vorbereitend eine Reihe von Einzelporträts angefertigt, um sie schließlich zu einem großformatigen Gruppenbildnis zusammenzufügen. Unverkennbar orientiert er sich hierbei an Las Meninas von Velázquez, seinem berühmten Vorgänger als Hofmaler am spanischen Hof. Velázquez Beispiel folgend stellt er die Figuren in einem Raum des Palastes auf und sich selbst auf der linken Seite des Bildes vor seiner Staffelei dar.



Velázquez, wie Swetlana Alpers gezeigt hat, entwickelt in Las Meninas ein faszinierendes Spiel unterschiedlicher Ebenen der Repräsentation von Familie und Herrschaft, in dem die ausgeklügelten höfischen Machtstrukturen durch die Überschneidung der Blickachsen von Betrachtern und Dargestellten sichtbar werden. Velázquez kleine Infantin wird durch den elterlichen Blick aus dem Spiegel in den Blick der Betrachterin gerückt, dem sie unverwandt begegnet. Sie ist das königliche Kind, in dem und durch das die Einheit von Herrschaft und königlicher Familie sich herstellt, vor dessen selbstverständlicher Würde und Bedeutung die Hofdame kniet und die Betrachterin sich verneigt. Seitlich hinter ihr steht der Maler, der die Betrachterin in den Blick nimmt, als jene Instanz, vor der die Macht und die Familie inszeniert werden und durch deren Anerkennung zugleich die Ausnahmestellung der mächtigen Familie  konstituiert wird. Die Herrschaft der königlichen Familie wird in Stand gesetzt als selbstverständliches Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten. Die königlichen Körper sind Träger der Macht, ohne dadurch ihre „Besitzer“ im Stich zu lassen. Die Familie des Königs ist auch im Inneren des Palastes durch und durch königlich. Dass der Maler und die Betrachterin, die Hofdamen und das Königspaar sich der Mittel dieser Inszenierung bewusst werden, wird noch nicht zu deren Denunziation. Denn: Die königliche Familie hat kein „Privatleben“.

Velázquez: Las Meninas

Anders als sein Vorgänger versteckt sich Goya auf dem Gemälde beinahe hinter der dargestellten Königsfamilie, stellt sich hinter der prunkvollen Inszenierung im Wortsinn "in den Schatten". Von hier aus nimmt er Blickkontakt zur Betrachterin vor dem Bild auf, eine heimliche Übereinkunft zwischen Betrachterin und Maler, von der die königliche Familie ausgeschlossen bleibt. Goyas Gemälde erscheint auf den ersten Blick simpler, schlichter konstruiert als Velázquez´ komplexe Komposition. Die Familie steht aufgereiht vor der Wand, Goya hat sie kaum in die Tiefe gestaffelt. Nur der König selbst und sein Thronfolger treten ein wenig hervor, bilden auch durch die spiegelbildliche Körperhaltung einen Rahmen für die Königin und ihrer jüngsten Kinder. Die beiden Männer, die die dynastische Erbfolge verkörpern, werden von hinten durch die weniger bedeutenden Familienmitglieder geradezu gestützt, aufrecht gehalten: der Kronprinz durch seinen jüngeren Bruder, der König durch seinen Schwiegersohn, den Fürsten von Parma.

Die Enge der Situation, die Goya herstellt, lässt die königliche Familie in diesem Bild „wie an die Wand“ gedrückt erscheinen. Trotz des Prunkes, den ihre Kleidung ausstrahlt, beherrscht die Familie die Bildsituation nicht, sondern muss sich ihr gleichsam „stellen“, wird gestellt durch den Maler und die Betrachterin, zwischen denen sie wie eingeklemmt erscheint. Während die beiden männlichen Stützen der Dynastie sich links und rechts behaupten, weil sie durch die Verwandtschaft noch den Rücken gestärkt bekommen, steht die Königin Maria Luisa prachtvoll geschmückt mit ihren beiden jüngsten Kindern im Zentrum isoliert. Goya liefert die spanischen Bourbonen dem Blick einer Betrachterin aus, die in ihren prächtigen Königskostümen das Schlichte, das Hässliche, das Hochmütige, das Schüchterne, kurz: das Private der Figuren entdecken kann und soll.

Schon zu Lebzeiten Goyas ist darüber gerätselt worden, warum die Königin dieses sie beinahe entstellende Porträt akzeptiert hat. Doch Goyas Darstellung ist nicht karikierend und verletzend; er stellt die königlichen Körper lediglich so dar, wie sie sind: Kostümierte Menschen, die eine Rolle spielen, die Rolle der königlichen Familie. Diese Familie, zeigt das Bild,  steht (noch) zusammen und zerfällt zu gleich in drei Gruppen: die Gruppe um den Thronfolger, die Gruppe um den König, die Königin mit ihren Jüngsten.Die Familiensituation ist konfliktreich und problematisch. Das Private und das Politische kreuzen sich in diesen Körpern, kommen aber nicht mehr zur Deckung. Keine der Figuren nimmt die andere in den Blick. Sie schauen ostentativ an einander vorbei, einige auf die Betrachterin, andere über sie hinweg oder an ihr vorbei. Goyas Bild, indem es die königliche Familie als Privatfamilie zeigt, mit ihren familiären Ähnlichkeiten, ihren Störungen und Entstellungen, kündigt das Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten auf und verwandelt es zu einem Einverständnis zwischen Maler und Betrachterin. Es ist das neue Wissen darum, dass die Träger der königlichen Körper „auch nur Menschen“ sind.

In den frühen Nuller-Jahren dieses Jahrtausends saß ich wegen einer Arbeit über Goyas Gruppenbild der Königsfamilie am Esstisch, den Katalog aufgeschlagen vor mir. Amazing, mein älterer Sohn, damals etwa 8 oder 9 Jahre alt, trat hinzu und betrachtete die Abbildung im großen Bildband. Nach einer Weile beobachtete ich, wie er sich eigentümlich hinstellte, seine Haltung immer wieder korrigierte, bis er zufrieden war. Ich fragte ihn: „Was machst du?“ Er deutete auf den schönen, kleinen Prinzen in Rot auf dem Gemälde. „Ich probiere aus, wie der Junge dasteht.“  „Und?“ Der Amazing sagte: „Er hat Angst. Er will nicht so dastehen.“ Ich war erstaunt. Aber der Amazing zeigte mir, wie der Oberkörper des Jungen leicht nach hinten kippte und wie fest er die Beine in den Boden stieß. „Und seine Mutter?“ „Hält ihn fest.“ Ich verstand, was der Amazing sagen wollte. Das Festhalten der Mutter, der Königin, war beides: Stütze und Fessel.

Auch Goya, sah ich, hatte wie vor ihm Velázquez ein königliches Kind ins Zentrum des Interesses der Betrachterin gestellt. Zwar steht auf Goyas Gemälde in der Bildmitte die Königin, doch der Blick wird auf den kleinen Jungen in hellen Rot zwischen seinen Eltern gelenkt, der die Verbindung und die Trennung zwischen beiden anzeigt, ausgeschnitten gleichsam aus dem Familienzusammenhang zeichnet sich sein schönes Gesicht vor dem dunklen Hintergrund der Wand ab. Überbetont hat Goya auch den starken Arm der Königin, mit dem sie das Kind an der Hand hält. Wie Velázquez kleine Infantin schaut der Junge den Betrachter direkt an. Aber es ist nicht mehr der selbstbewusste Blick eines königlichen Kindes, das sich seiner Ausnahmestellung von Anfang an bewusst ist, unterstützt durch die Unterwerfung erwachsener Hofdamen unter seine auf der Verwandtschaft zu König und Königin beruhende Autorität. Goyas Knabe wird von seiner Mutter gehalten, die auch Königin ist und ihre Macht inmitten ihrer Familie demonstrieren will. Doch die Macht der königlichen Mutter allein kann dem Kind die Ausnahmestellung nicht mehr sichern, denn an der Mutter selbst wird das Auseinanderfallen von Rolle und Person sichtbar.

Das königliche Kind, der Amazing hat es am Körper gespürt, will sich nicht präsentieren lassen und nicht repräsentieren. Es erfährt, unbewusst, die Gefährdung, die das Auseinanderbrechen von Privatheit und Öffentlichkeit für die Macht der königlichen Familie bedeutet, am eigenen Körper. Nach diesem historischen Umbruch wird der königliche Körper nicht mehr seinem Träger gehören und zugleich dessen Machtstellung repräsentieren, sondern öffentliches Eigentum werden, Paparazzi-Gut. Der Träger des königlichen Körpers wird durch das schauende Publikum von seinem Körper enteignet werden.

An Goyas Bild lässt sich jene bis heute wirkende Veränderung von Präsentation und Repräsentation der Körper der Mächtigen ablesen, die durch die Trennung von Privatem und Öffentlichem im bürgerlichen Zeitalter hervorgerufen wurde. Das Private ist nun zwingend unpolitisch. Die Mächtigen müssen daher auf der Hut sein, nicht zuviel von sich zu präsentieren und die Repräsentanten werden ohnmächtig, wie die bloß noch repräsentativen Monarchen unserer Tage. Mit dieser Veränderung verlässt das Kind die Bühne der Macht. Wo die Macht gemeint ist, kann das Kind nicht mehr erscheinen. Das Kind wird zum bloßen Repräsentanten der Privatheit der Mächtigen: Bilder mit Kindern und Enkeln unterstützen nun nicht mehr den Machtanspruch der Mächtigen und drücken ihn aus, sondern sollen zeigen, dass auch die Mächtigen „menschlich“ sind.

Von unserer Gegenwart her betrachtet ist an diesem Wandel auch noch etwa Anderes interessant: Die Macht hat, indem sie sich nicht mehr mit und durch das Kind repräsentieren ließ, auch aufgehört, sich auf die nächste Generation zu beziehen. Die Repräsentation enthüllt das Dilemma einer Macht-Perspektive, die sich in keiner Zukunft erkennen kann. Die Macht zeigt sich in unserer Zeit im Gruppenbild der gerade aktuell Mächtigen. Morgen schon können andere an dieser Stelle stehen, auf dem Gipfel der 20 oder 8, der EU oder des transatlantischen Bündnisses. DieTräger der Macht sind im Bild austauschbar geworden. Dass das Private nicht mehr politisch ist und sein darf, hat die Macht zugleich von der Verpflichtung auf die Zukunft und der Bindung an die Vergangenheit abgeschnitten. In den Bildern kann dieser Verlust sichtbar werden.

(Es gibt aus diesem Dilemma keinen anderen Ausweg als die Einsicht darein, dass Macht und Politik nicht dasselbe sind.)


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3 Kommentare:

  1. Zu Goya kann ich auch Paul Nizons gleichnamiges Buch von 2011, erschienen im Insel-Verlag, empfehlen.

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    1. Danke für den Tipp! Leider scheint es das nicht als ebook zu geben. Da ich den Umzug plane, versuche ich möglichst wenig weitere gedruckte Bücher, die zu schleppen sein werden, anzuhäufen. Aber das klingt sehr spannend.

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  2. Dass und weshalb Goya beim Malen von Händen mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte ist bei einem so großen Meister immerhin noch erwähnenswert und bleibt ewig ein Rätsel (er verlangte für die Darstellung von Händen Sonderzahlungen. Ansonsten verbarg er Hände weitgehend). Ihre Ausführungen sind sehr aufschlussreich.

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