Donnerstag, 7. November 2013

DIE LAST DER JUGENDLICHEN UNSCHULD (oder: Istanbul - eine komplizierte Beziehung)

Orhan Pamuks "Museum der Unschuld"
Begegnungen, wenn sie zum Austausch werden, verlangen danach, nicht überschrieben zu werden, zugedeckt mit Schrift, die sie in eine (End-)Gültigkeit zwingen will, durch die ihnen verloren geht, wodurch sie leben. Eindrücke, stattdessen, Druckstellen, die sich in einem Augenblick bilden, aufleuchten, verblassen, selten entzünden. (Aber dann...)

Eine Woche Istanbul: Musik in Halbtonschritten bleibt meinem Ohr also fremd. "Wie kommt es, dass das hier funktioniert?", fragt später der Kollege. Es ist auch dies politisch, verstehe ich erst ganz zum Schluss, selbst die meinem Ohr schwülstig erscheinenden Lieder über die vergängliche Liebe. Mit ausgreifenden Handbewegungen und verzehrender Mimik wird beschworen, woran keine glaubt. Umso leichter, denkt das sarkastische westliche Hirn, gelingt der Selbstbetrug. Die Liebe ist sowieso immer vergeblich und traurig. Alles ausdrücken, statt Eindrücke zulassen. Raki wird nachgegossen. Man tanzt sich ein. Aber... Diese Musik ist so kunstvoll und künstlich "türkisch", wie der Staat, der 1923 gegründet wurde. Personenkult und Nationalismus untermalen ihre verlogene Gehirnwäsche mit melancholischen akustischen Arabesken. Der Blick des Staatsgründers, dessen Bild noch den kleinsten Laden schmücken muss, richtet sich sehnsuchtsvoll stets über die Betrachtenden hinweg in die unerreichbare Ferne und jedes Misslingen wird mit Stolz geschwellter Brust besungen: "Sieh wie ich leide, noch schöner als du." Zeit vergeht, sowieso. Heißblütig ist nur, wer nichts vergisst und sich beweint. Oder? Kaltblütige Menschen des Nordens grüßen ihre Nachbarn mit "Guten Tag" auf der Straße und gehen sich achtsam aus dem Weg. 

"Was ist Ehre?", war eine andere Frage, die sich ergab. Wovor gilt es sich zu schützen: Dem Urteil der anderen oder der Selbstverachtung? Gibt es den typischen türkischen Mann? (Selbstverständlich nicht.) Ist Eifersucht ein Beweis der Liebe? Warum ich passion und possesion für unvereinbar halte, konnte ich nicht gut genug erklären. Mancher mediterrane Mann hält sich für einen Gentleman, solange er keine Probleme hat, sondern welche macht. Das gilt allerdings für gewisse nordische Typen genauso. (Eh klar.) 

So viele Wunder, trotzdem. Kulturelle Differenzen. Der Unterschied zwischen Respekt und Angst. Alles Klischees. Manche stimmen. Dagegen setzten die jungen Menschen, die ich begleiten durfte, ihren Eigensinn:: B., die so schön ist, das einer der Atem stockt. D., eine reizende Braut auf der Bühne, im engen weißen Minikleid zu Turnschuhen und Lederjacke. Zwei junge Mütterliche, jede anders: tränennah und kritikfest. Zwangsjacke oder Schutzraum? Bewährte brustbewehrte Bewahrung. (Manche Männer lassen sich gern bemuttern. Andere nicht.) Einen verschleierten Blick auffangen, dessen Zielrichtung unklar bleiben soll: Verhängnis. Verhangen. Blaue Augen werden angebetet. (Da geht irgendwie irgendwas ab, das nicht zu greifen ist.) Zurückweisungen und Verletzungen. Eine kann nicht aufhören einen zu lieben, wenn sie in seiner Nähe ist. (Es bleibt offen, was durch Entfernung geschieht/geschehen wird.) Pärchen-Bildung. Brotherhood. Melancholy Man. Diese sanfte Geduld und Aufmerksamkeit des dunkelsten Jungmannes. Das Stille und Beharrliche: O. muss ich zum Abschied noch einmal extra umarmen, unbedingt. Mir ist etwas aufgefallen, was sich noch nicht in Worte kleiden lässt. Ich habe eine Zukunft gesehen, die vielleicht niemals zur Möglichkeit wird. Jemand ist offen gewesen und über seinen Schatten gesprungen. "Dafür will ich dir danken." Gruppen-Dynamiken. Wenn eine den Beobachterinnen-Status einnehmen kann, sieht sie gelegentlich mehr, als ihr lieb ist. Andersrum: Mittun schränkt das Blickfeld ein. M. habe ich zu lange unterschätzt. Worüber ich mich am meisten gefreut habe: Ein Gespräch, das lange nachklingen wird, am Rande einer lauten Straße mit B. über Religion und Werte. Warum ist es so selten möglich so warmherzig darüber einig zu sein, uneins zu sein? H. liest Dostojewski. Ist die Freiheit eine unbarmherzige Zumutung? (Diese Frage wird am Flughafen im Gespräch mit D., der sie, seine Freiheit, liebt, wie er sagt, aber die Freizügigkeit provokant findet, noch einmal anders gestellt werden.) Wer hätte gedacht, dass dieser Austausch so tief greifen wird? Ich muss lernen: Weniger urteilen, mehr zuhören. Jede und jeden hätte ich gerne viel besser kennengelernt. S. fragt mich, ob sie D. ähnlich sehe. "Manche halten uns für Schwestern." Sie sind so verschieden wie Tag und Nacht, die in einander übergehen. Auf dem Heimflug höre ich ein Lied, das mich an beide erinnert: "Where do you go, my lovely?" So viele Entscheidungen sind zu treffen in diesem Alter. So wenig Spielraum, scheinbar. Sie eröffnen ihn sich, trotzdem. Erklärungsversuche über die Liebe, Gott und die Welt. Ursache-Wirkungs-Modelle. Immer falsch oder gefälscht. Vieles hat halt keinen Grund und keine Gründe. Scherzhaft-ernste Heiratsanträge. L ´amour. L´amour. Wer mit 23 jungen Menschen unterwegs ist, muss damit rechnen. Aber auch: Innige Männerfreundschaften (Eine Parallelwelt?) "Du bist so typisch deutsch und doch wie eine Schwester für mich.", schreibt D. an L.

"Was ich über mich gelernt habe..." (Ich kann sehr freundlich wirken, wenn ich sehr traurig bin.) Ganz bei mir bin ich nur in Augenblicken ohne Plan und Gruppe. In der Sonne in einem kleinen Park unter lauter lauten Familien sitzen und Cola aus der Dose trinken. Ein Gespräch mit Händen und Füßen in einer Bäckerei mit einer wunderschönen, Kopftuch tragenden Verkäuferin. Sich auf dem Bosporus den kalten Wind ins Gesicht blasen lassen, wenn alle anderen unter Deck verschwunden sind. 

Istanbul - eine komplizierte Beziehung. Wie alle Lieben.




2 Kommentare:

  1. Das klingt schön und reich und auch so, als müsstest Du Dir mit dem Zurückkommen Zeit lassen, damit nichts davon verlorengeht. Aber das ist meine Interpretation. Ich freu mich, dass Du wieder da/ hier bist. :-)
    Liebe Grüße,
    Iris

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    1. Ja, dass war es: Reich, vielfältig, schön, aber auch kompliziert, in unterschiedlichen Formen und Dimensionen. Leider habe ich keine Zeit, sondern muss/soll gleich wieder DA sein. Ich werde noch etwas ganz anderes darüber/dazu schreiben, vielleicht ohne, dass ganz offensichtlich wird, dass es auch dabei um Eindrückliches aus Istanbul geht. LG (bei Dir melde ich mich auch ganz bald, Notizen habe ich schon einige gemacht)

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