Dienstag, 26. April 2022

Sentimentale und sensible Schlächterseelen.


1983 war ich bei der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten. Ich war überzeugt, dass der NATO-Doppelbeschluss, durch den mit Atomwaffen bestückte Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden sollten, die Gefahr eines Atomkrieges heraufbeschwor. Nächtelang diskutierte ich das Thema mit meinem Vater, der mir 1:1 die Argumentation Helmut Schmidts vorhielt. Auch im Morgengrauen kamen wir noch zu keinem Konsens. Aber er fuhr mich dann zur Haltestelle des Busses nach Bonn. 

Unter meinen engeren Freunden haben fast alle den Wehrdienst verweigert. Die zur Bundeswehr gingen, berichteten von sinnlosen erscheinenden Manövern ("Fulda Gap") und nervtötenden Diensten. Anfang und Mitte der 80er Jahre prägte die Angst vor einem Atomkrieg meine Generation. In den Schulen erhielten wir Einweisungen des Katastrophenschutzes, wie wir uns im Falle eines Atombomben-Abwurfs zu verhalten hätten: in Ackerfurchen werfen und möglichst mit einer Folie bedecken, den atomwaffensicheren Bunker aufsuchen. Auf Nachfragen ("Woher Folie nehmen?", "Hier gibts keinen Bunker, wohin also?") reagierte das Personal gereizt. Uns blieb nach solchen Stunden die Gewissheit: Wenn es soweit kommt, gibt's kein Entrinnen. Am besten ist noch dran, wer sofort tot ist. 

Pazifistin war ich nicht. Ich weiß über mich, dass ich zurückschlagen will, wenn ich angegriffen werde und ich empfinde dabei keine Schuld. In den Diskussionen mit meinem Vater ging es nicht darum, auf Abschreckung durch Atomwaffen zu verzichten, sondern darum, welche Abschreckung funktioniert. Meine Position war vereinfacht: Je durchführbarer und begrenzbarer ein Atomkrieg erscheint, desto wahrscheinlicher wird er.  Deshalb müsse man auf totale Abschreckung setzen, was bedeute: Atomkrieg = totale Vernichtung beider Seiten. Mein Vater, auf der Linie Helmut Schmidts, argumentierte: Abschreckung werde unglaubwürdig, wenn sie  auf totale Vernichtung setze, der Gegner könne dann annehmen, dass man nicht zu antworten wage, wenn er "nur" Raketen mit kleinerer Sprengkraft und geringerer Reichweite einsetze. Daher: Man müsse auf demselben Level antworten können. 

Mein Vater (und Helmut Schmidt) hatten Recht. Denke ich heute. Abschreckung muss glaubwürdig sein. Nur dann funktioniert sie. (Olaf Scholz, indes, scheint das noch immer anders zu sehen.)

Nur wenige Jahre nach der Demonstration im Bonner Hofgarten brach die Sowjetunion zusammen. Schon unter dem Zarenreich kolonialisierte Völker erlangten die staatliche Selbstständigkeit. Russischstämmige wurden nicht selten unter fürchterlichen Umständen vertrieben. Im Westen nahm man davon nur wenig Notiz. Genauso wenig, wie man die Geschichte der Unterdrückung dieser Völker unter den Zaren oder später unter Stalin und unter deutscher Besatzung jemals wirklich zur Kenntnis genommen hatte. In Deutschland hat man sich bei der Aufarbeitung der eigenen verbrecherischen Geschichte immer nur auf eine Schuld gegenüber "Russland" bezogen. Ehemals dem Warschauer Pakt angehörenden Staaten drängten in den Folgejahren in die NATO. Für Litauen, Lettland, Estland, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, die ihre Erfahrungen mit sowjetischer Besatzung hatten, war dies die einzig vorstellbare Bestandsgarantie eigener staatlicher Souveränität. (Die europäischen Ex-Warschauer Pakt-Staaten, die nicht der NATO beitraten, sind seit Putins Machtübernahme systematisch destabilisiert worden: Georgien, Moldavien, Ukraine). Von westlicher Seite wurde eine "Sicherheitspartnerschaft" mit Russland angestrebt, ein neues Gleichgewicht, dass nicht mehr auf Abschreckung beruhen sollte.

Ich gebe zu: Von alledem bekam ich recht wenig mit. Das Land, in dem ich aufgewachsen war, existierte nicht mehr: die BRD. Es gab jetzt: DEUTSCHLAND. Schon das fühlte sich falsch und unwirklich an. Ich beendete am Ende des Jahres 1989 mein Studium, Mitte der 90er Jahre wurde ich zweimal kurz hintereinander Mutter. Mein Blog (dessen erster Eintrag im Februar 2010 veröffentlicht wurde), wie ich im Geleitwort schrieb, hat zwar "als Fluchtpunkt" das Jahr 1989. Aber es war eine sehr selbstbezügliche Suche nach der "verlorenen Zeit", auf die ich mich machte. Verloren waren die Jahre des "verantwortungslosen Zahlens und Stillhaltens", schrieb ich, mir selbst verbergend, dass ich genau darin, in dem noch verantwortungsloseren Festhalten an dieser Haltung, mich doch recht gut eingerichtet hatte.

Mein Land, jetzt also Deutschland, gab sich überall als geläutert, der Gewalt abhold, vermittelnd. Personifiziert geradezu durch einen bescheiden im Hintergrund agierenden Kanzleramtsminister, den späteren Außenminister und jetzigen Bundespräsidenten Steinmeier. Stets moralingetränkte, sonor vorgetragene Sprüche auf den Lippen, wurden hinter verschlossenen Türen die Waffenlieferungen in alle Welt abgewickelt, wo's heikler wurde, setzte man auf Dual-Use-Klassifizierung, man war zugänglich und umgänglich gegenüber jedem und jede/r Diktatoren-RepräsentantIn, trank Tee mit faschistischen Schlächtern im Eigenheim,  tätschelte sich mit den Folterern, fühlte sich aber stets vor allem den US-amerikanischen Imperialisten moralisch um Längen überlegen. Die eigene Hochanständigkeit wurde dann noch erheblich gebolstert durch den mit offensichtlichen Lügen begründeten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak. "Wir" wirkten in alle Richtungen ausgleichend, mäßigend und geschäftstüchtig mit. Zu einer grotesken Parodie ihrer selbst wurde die Steinmeiersche (Nicht-)Haltung endgültig in Gestalt seines Amtsnachfolgers und Parteikollegen "WirrufenbeideSeitenzurMäßigungauf"-Maas. 

Wir hatten die Regierungen, die wir verdienten. Berauschten uns an unserer Willkommenskultur und unserer "Wirschaffendas-Alternativlos"-Kanzlerin, die uns Politik, Entwicklung und Veränderung ersparte, Zeit kaufte, wo sie sich mit Geld kaufen ließ, und ansonsten, wiederum eher hinter verschlossenen Türen, die Interessen der deutschen Auto- und Chemieindustrie und des deutschen Bankensystems auch dann vertrat, wenn es gegen EU-Regeln verstieß (umso energischer die Verstöße anderer Länder anprangernd). Um die Transformation des Landes in ein Niedriglohn-Paradies, die vom Brioni-Kanzler begonnen worden war, fortsetzen zu können und der wahlentscheidenden Mittelklasse nichts zumuten zu müssen, brauchten wir billige Energie und die Männerfreundschaftsbünde, die sie uns verschafften, waren und blieben intakt. Der "lupenreine Demokrat" im Kreml lieferte und unsere politische Klasse ließ sich aushalten. 

Die Zeit ist abgelaufen. Um Demokratie haben wir als Gesellschaft nie gekämpft. Sie wurde uns geschenkt. Ein paar tapfere Demokraten und Demokratinnen schrieben uns 1948  ein Grundgesetz, die beste Verfassung der Welt. Wir ehrten sie kaum. Ihre Namen sind in unseren Städten nicht präsent, wir bauten ihnen keine Denkmäler. Unter dem Schutz amerikanischer, französischer und britischer Atomraketen und mit der Hilfe des Marshall-Plans konnten wir ökonomisch prosperieren. Wir hatten uns so gut daran gewöhnt, die externen Kosten unseres Geschäftsmodells nicht zu tragen.

Die Zeit ist abgelaufen. Sie war im Grunde schon 1989 abgelaufen. Wenn ich mein "Geleitwort" lese, wird mir klar, dass ich es wusste, aber eben nicht wahrhaben wollte. Selbstbezüglich wollte ich mich lieber mit Identitätsfragen und meiner Befindlichkeit befassen, als nach dem Preis zu fragen, den der Luxus, das überhaupt zu können, kostete. Ich habe erst sehr spät nach Osteuropa geschaut. Unter anderem die Bücher Swetlana Alexjewitschs machten mir klar, was ich übersehen hatte. 

Nie hatte ich, wie viele andere Linke, mit der Sowjetunion sympathisiert, nie wäre es mir in den Sinn gekommen, die Nachfolge-Partei der SED zu wählen. Meinen Solschenizyn hatte ich schon gelesen, auf die Idee, wie Gregor Gysi noch 2022 (und dann enttäuscht wie ein kleiner Bube), die Sowjetunion als "Friedensmacht" zu bezeichnen, wäre ich nie gekommen. Und doch: Ich hatte an das Ende der Abschreckung geglaubt. Und kaum wahrgenommen, dass die Kolonialreiche, deren problematische Abwicklung im "Westen" ganze universitäre Theorie-Schulen kritisch analysierten, eben nicht nur von "westlichen" Staaten errichtet worden waren. 

Ja, wir waren geblendet von "Gorbi" und "unserer" friedlichen "Revolution" in der DDR, abgelenkt durch Selbstbeschäftigung und Identitätspolitiken. Parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat waren gleichzeitig so selbstverständlich für uns und so kritikwürdig, dass wir in ihrem Schutz wie in einem Suppenteller saßen und nicht mal Anstalten machten, über den Tellerrand zu blicken. Die Zeit war abgelaufen, doch wir wählten Politikerinnen und Politiker in führende Ämter, die uns die Illusion verschafften und erkauften, es noch ein bisschen hinauszögern zu können. 

Und jetzt ist Schluss.

Der Preis wurde immer schon gezahlt, nur nicht von uns. Wer in der DDR Plakate hochhielt, auf denen stand "Schwerter zu Pflugscharen", landete in Bautzen. "Ein bisschen Frieden", war ein blödes und naives Lied, aber im Grunde beschreibt es ziemlich exakt, wie wir uns benahmen. Wir wollten die Guten sein und uns gut fühlen, Urlaubsflüge, Auto und Eigenheim inklusive, aber bitte mit Sahne und ohne schmutzige Finger. 

Am 24.Feburar 2022 hat der russische Autokrat Wladimir Wladimirowitsch Putin einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine angeordnet. Seither sterben Ukrainerinnen und Ukrainer, werden vergewaltigt, gefoltert, ermordet, verlieren ihre Wohnorte und Infrastruktur, ihre Lebensgrundlage, müssen zu Millionen fliehen. Doch eine Melange aus "alten" Linken und jungen "Woken", SPD-Granden, korrupten Fossilenergie-Händlern, Gewerkschaften und Industriebossen, AfD-Anhängern und Alt-Feministinnen will unbedingt und auf Deubel komm raus noch einmal Zeit schinden und den Schlächter in Moskau nicht provozieren. Krude wird gemixt: Der Schlächter hat berechtigte koloniale ("Sicherheits"-)Interessen (besonders anrührend von Linken vorgetragen), dem Schlächter wurde der Respekt versagt ("Regionalmacht"), der Schlächter liefert zuverlässig (man kann nicht nur mit Leuten Geschäfte machen, die "unsere" Idee von Menschenrechten teilen), der Schlächter hat eben, was wir brauchen, nämlich fossile Billigenergie (ansonsten Massenarbeitslosigkeit und "Hyperinflation"), der Schlächter hat Atomwaffen und er wird sie suizidal einsetzen, wenn man ihm nicht gibt, was er verlangt. Der Schlächter ist also gleichzeitig bedrohtes, diskriminiertes Opfer oder Psychopath, er ist zuverlässiger Verhandlungs- und Geschäftspartner und wahnsinniger Erpresser, man muss vertrauensvoll mit ihm "Gespräche und Verhandlungslösungen suchen" und kann ihm ALLES zutrauen. 

Die "Friedensfreunde", zuletzt die abgehalfterten "Intellektuellen" mit ihrem unsäglichen Appell, entlarven sich selbst. Denn wären sie im Ernst Pazifisten, müssten sie die härtesten Sanktionen, die denkbar wären, fordern: den vollständigen Abbruch aller Handelsbeziehungen zur Russischen Föderation, Energieembargo SOFORT, die Sperrung des Skagerraks und aller Häfen für russische Schiffe, Sanktionen gegen alle, die noch mit dem Aggressor handeln. (Ja, das ist  in der gegenwärtigen geopolitischen Situation nicht realistisch, aber immerhin wäre es "idealistisch".) Davon ist aber in ihren ekelerregenden Aufrufen NICHTS zu lesen. Es geht immer nur darum, den Schlächter zu besänftigen, seine Lügen als Argumente aufzuwerten und ihm den "Respekt" zu erweisen, den er einfordert. Man will sich nicht die Finger schmutzig machen, aber als ehemalige (und offenbar immer noch gefühlte) Kolonialmacht mit der anderen Kolonialmacht über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg "einen Kompromiss" aushandeln. Wie ärgerlich und abscheulich, dass die Opfer sich nicht einfach fügen wollen. Sind halt Militaristen, von toxischer Männlichkeit angestachelte Kriegstreiber und/oder Marionetten des ewigen Teufels USA (man kann da ganz bequem von islamofaschistischen Seiten abschreiben, passt!). 

Das ist alles ekelerregend. Der Würgereiz wird unerträglich, wenn dieses Gesindel sich dann auch noch für seine Sensibilität und Sentimentalität selbst beweihräuchert. Man wolle ja nur das "Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer" verkürzen. Deshalb: Weder harte Sanktionen, noch Waffen zur Selbstverteidigung. "Frieden schaffen ohne Waffen" (und ohne knallharte Sanktionen freilich auch, bloß mit guten Worten, Respekt und Freundlichkeit gegenüber dem Schlächter). Man hat das doch immer schon skandiert, das muss doch heute wieder gelten. Man lässt sich doch nicht in eine "militärische Logik" hineintreiben, das ist ja "menschenfeindlich". Ja, man will einfach weiter die Dividende einstreichen, mögen andere bezahlen. Davor die Augen zuzukneifen, das hat man doch schließlich schon ein ganzes Leben über geschafft. Jetzt erst mal einen Flug in die Sonne buchen, so stressig ist das alles hier, die ganze Kriegstreiberei, der Kapitalismus und so...,also...

"Mea Culpa", sagt der Alt-Kanzler, dessen Name nicht genannt werden soll, sei nicht sein Ding. Meines schon. Ich habe nicht genügend wahrgenommen und wahrnehmen wollen, wer für die Stabilität im Kalten Krieg, während dem ich Freiheiten genoss (zum Beispiel die Reisefreiheit), zu zahlen hatte, ich habe mich nicht genug eingesetzt für die Freiheit derjenigen hinter dem "Eisernen Vorhang" als ich jung war, ich habe mich nicht genügend interessiert für die Schuld, die Deutsche in der Ukraine und im Baltikum im 2. Weltkrieg auf sich geladen haben, ich war nicht dankbar genug den Tausenden US-amerikanischen Soldaten, die Europa befreiten und von denen viele ihr Leben ließen, ich habe nicht demonstriert gegen die Kriegsführung Putins in Tschetschenien und Syrien, ich habe nicht genügend getan, um die demokratischen Kräfte in Georgien, Moldau, Belarus und Ukraine zu unterstützen. 

Wer in Putin und der Russischen Föderation unter seiner Führung keinen Feind erkennen kann, muss selber eine Schlächterseele sein. Die Russische Föderation führt einen brutalen Angriffskrieg, im staatlich kontrollierten russischen Fernsehen wird der Genozid an den Ukrainerinnen und Ukrainern verherrlicht, Menschen werden deportiert, in Lagern "gefiltert" und gefoltert, Vergewaltigungen sind in den besetzten Gebieten an der Tagesordnung. Wer den Opfern das Recht auf Selbstverteidigung und die Unterstützung dabei (mit "schweren" Waffen, selbstverständlich ) verweigert, wer ein anderes Ziel verfolgt, als die möglichst weitreichende und nachhaltige Entwaffnung des Aggressors, der soll seine schäbigen Krokodilstränen um das "Leid der anderen" ganz leise verdrücken. 

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