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Freitag, 28. Mai 2021

BITTERBÖSE ENTTEUSCHUNG. (WORT-SCHATZ 24)

Diese Müdigkeit.

Und nicht allein. "Mütend", schrieb eine auf Twitter und es trendete gleich. Das geht offenbar vielen so. Es trifft meine Stimmung und bleibt doch eine unvollständige Bestandsaufnahme. 


ENTTEUSCHT


"ex errore rapere, aus der teuschung ziehen"

"emachte, indem er entteuscht ward, die wunderlichsten geberden." (Göthe)


Ich bin aus meiner Täuschung gezogen, unsanft, unerwartet, ungeschützt. Liege nun ramponiert und verdreckt am schlammigen Ufer des Teuschungssees und schäme mich meiner Entstellung. Versuche, vergebens, die Entblößung zu verbergen. 

Man macht halt irgendwie weiter. Muss ja. (Es sagt ja schon alles, diese Verwendung des "man", hinter dem sich das "Ich" verbirgt und unkenntlich und verantwortungslos zu machen sucht.)

Was schrieb ich im im April 2020 noch so naiv: "... ich bin dankbar dafür, in einer Gesellschaft zu leben, die sich in ihrer Mehrheit (bis jetzt) anders entschieden hat: Der Schutz des Lebens ist uns was wert. Auch des Lebens jener, die - vielleicht - nicht mehr so lange zu leben haben wie andere. "

Im Mai 2021 ist klar: In einer solchen Gesellschaft lebe ich nicht. Der Schutz des Lebens älterer und vorerkrankter Menschen war uns nicht so viel wert. Am heutigen Tag verzeichnet das RKI, dass in Deutschland bisher 88167 Menschen an Covid 19 gestorben sind. Am Ende der Pandemie werden es mit hoher Wahrscheinlichkeit über 100 000 Tote sein. Weltweit sind offiziell bisher mehr als 3,5 Millionen Menschen an dem neuartigen Corona-Virus gestorben. Der "Economist" weist in einer groß angelegten Recherche nach, dass diese Zahl bei Weitem zu niedrig angegeben ist. Die Redaktion geht eher von über 10 Millionen Toten weltweit aus. Dabei handelt es sich um den niedrigsten Schätzwert. Es könnten durchaus deutlich mehr Tote sein. Aus vielen Ländern liegen keine genauen Zahlen vor. Allein in Russland, zum Beispiel, ist die Übersterblichkeit 6 bis 7fach höher, viel mehr als die offizielle Zählung der Corona-Toten annehmen lässt. 

Die Pandemie dauert nun anderthalb Jahre. Auch wenn Hoffnung besteht, dass sie durch die Impfkampagnen in Nordamerika und Europa dort abklingt, geht sie rund um den Globus weiter. Es sieht so aus, als werde auch diese Pandemie, wie die "Spanische Grippe", am Ende um die 20 Millionen Menschen das Leben kosten.  

Ich hatte mich also getäuscht, als ich vom Fortschritt ausging. Davon, dass eine entwickeltere Gesellschaft eine solche Todesrate nicht zulassen werde. Wir werden so viel Tote zu beklagen haben (aber eben kaum beklagen, davon später), obwohl es gelang, in Rekordgeschwindigkeit Impfstoffe zu entwicklen. Der technologische Fortschritt wird uns als Gesellschaften retten, aber er wird ganz offensichtlich nicht begleitet von einem gesellschaftlichen Fortschritt, der es ermöglicht hätte, ihn solidarisch zu nutzen, um die Todesrate niedrig zu halten, um Menschenleben zu retten. 

Vielmehr hat sich gezeigt: Unsere Gesellschaften in Europa sind so organisiert, dass es möglich ist, für fast alle das komplette persönliche Leben über viele Monate brutal einzuschränken, sie auf Arbeitsleben und Kernfamilie zu reduzieren, aber unmöglich die Produktion und den Handel mit Gütern auch nur für wenige Wochen einzuschränken, um allen diese Grundrechtseingriffe auf Dauer zu ersparen. Überraschend auch: Offensichtlich funktioniert auch der entwickelte Kapitalismus so, dass wir als Arbeitskräfte gebraucht werden, weniger jedoch als Konsumenten. Denn es war vertretbar, den Einzelhandel, Gastronomie, Tourismus und Kultur langfristig dicht zu machen, nicht aber Fabriken und Büros. 

Man könnte das auch so ausdrücken (wenn es auch ein wenig simpel gedacht ist): Dieses "System" (politisch und ökonomisch) funktioniert offenbar ohne jede menschliche Lebensfreude. (Sicher hätte man Einzelhandel und Kultur vor der Digitalisierung nicht ganz so krass einschränken können, doch kann Digitales reale Begegnungen eben nicht ersetzen, wie sich je länger desto deutlicher zeigt.) Dass die Menschen durch diese Entleerung ihres Lebens, durch diese Reduktion auf ihren Wert als Arbeitskraft ausgelaugt sind, wird von der Politik dann noch als Begründung herangezogen, sogenannte "Lockerungen" jeweils überhastet zu verkünden, durch die Einschränkungen im Privaten immer weiter verlängert werden müssen. 

Ich bin bitter und böse. 

Entteuscht.

Was mich am meisten überrascht dabei, ist, dass es so tief sitzt und geht. Denn das zeigt mir, wie sehr ich - trotz aller Kritik - an diese Gesellschaft und ihre Optionen noch geglaubt habe. 

Das wäre jetzt vielleicht der Moment, radikal zu werden. Revolutionen zu fordern. Den Kapitalismus abschaffen. Oder so. 

Aber nein. 

Nicht nur, weil ich müde bin.

Ich glaube nicht daran. Das kommt nicht. Kein gutes Leben für alle. 

Man sorgt für sich selbst und die seinen. Zuerst und zuletzt. 

Biedermeier mit und ohne Brandstifter.

Max Stirner ist jetzt mein Mann: "Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht." 

Genau. "Man muss sehen, wo man bleibt." So Sprüche.

So geht "Entteuschung".

Ich kann das. 

Ich übe. 

Ich habe fertig.


Wir machen weiter. Optimismus macht sich breit. Die Sonne scheint, manchmal. Wir werden die Toten nicht beklagen. Diese Toten werden vergessen werden, verdrängt, von uns, so gut es geht, wie jene damals, die an der Spanischen Grippe starben. Denn es sind unsere Toten. Sie gehen auf unser Konto. Das muss man verdrängen. 

"Der Sommer wird gut."




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