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Mittwoch, 17. November 2021

Canan Topçu: „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“


 

Von sich und ihrer Biographie ausgehend setzt sich Canan Topçu in „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“ mit ihrem intuitiven Unbehagen am antirassistischen Diskurs der Gegenwart auseinander. Topçu macht sich gleich in der Einleitung kenntlich: „eine akkulturierte Frau türkischer Herkunft, die ihr Zuhause in Hanau gefunden hat.“ Sie spricht nicht für „Migrantinnen“, „Türkinnen“ oder „Musliminnen.“ Topçu spricht für sich selbst. Sie stellt ihren Lebenslauf dem gegenüber, was - in ihrer Wahrnehmung - zu vereinfachend als kollektive migrantische Erfahrung dargestellt wird.

"Ich war wissensdurstig. Ich wollte verstehen, was mir unverständlich erschien. Geschichte überforderte mich, überfordert mich immer noch. Geschichten aber nicht. Ich möchte immer noch verstehen. Die anderen und auch mich."

Topçu beginnt in der Einleitung mit vielen Fragen, die auch ich mir stelle: Über die Trag- und Leistungsfähigkeit aus dem Amerikanischen übernommener Begriffe und Theorien wie "People of Color" und "Critical Race Theory", darüber wie effektiv es für gesellschaftliche Veränderungsprozesse ist, wenn der Rassismusvorwurf - wie sie meint - inflationär gebraucht wird, dazu, dass es auch in migrantischen Communities Nationalismus und Rassismus gibt und wie damit umzugehen sei, dazu, ob die sogenannte "Identitätspolitik" nicht das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen will, indem sie bestimmte Unterschiede dramatisiert und andere ausblendet... 


Topçu gibt in ihrem Buch auf diese Fragen keine endgültigen Antworten. Was manche als die Schwäche dieses Buches auslegen könnten, betrachte ich als seine Stärke: Die Autorin versucht nicht, von ihrem eigenen Standpunkt zu abstrahieren oder gar eine alternative "Rassismustheorie" vorzulegen, sondern bleibt bei sich selbst und ihren eigenen Erfahrungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. 


Somit wird aus diesem Essay mehr und mehr eine berührende Autobiographie, die, so der Titel des ersten Kapitels, erzählt „Wie ich geworden bin, wer ich bin.“ Topçu wuchs in einer kleinen Hafenstadt am Marmarameer auf. Sie berichtet über erste Erinnerungen an den Garten, an die Hühner, an das erste Schwimmen. Die Erinnerung weckt in der 55jährigen Autorin, die nun in Hanau lebt, Sehnsucht nach der verlorenen Heimat.


Und während ich das lese, entdecke ich, dass diese Erfahrung gar nicht so weit weg ist von der meinen, wie man annehmen könnte, da ich doch nie emigriert bin. Doch die Welt meiner Kindheit, in der es Holzöfen gab, tagelang eingemacht wurde, das Schlachtfest von der Großfamilie gefeiert wurde, ist genauso untergegangen, wie jene Welt, die Canan Topçu beschreibt. Auch ich bin nicht in dem Dorf geblieben, in dem ich aufgewachsen bin, und wenn ich es heute besuche (was praktisch kaum mehr vorkommt, da auch meine Eltern längst nicht mehr dort leben), kann ich die Welt meiner Kindheit nicht wiederfinden. Es gibt sie nicht mehr. 


Zweifellos ist die Entfernung, die Topçu zurücklegen musste, um anzukommen in Hanau, in ihrem gegenwärtigen Leben, nicht nur räumlich viel größer als jene, die ich bewältigt habe. Dennoch gibt es Parallelen, wie ich sie auch in späteren Kapiteln feststellen konnte, Parallelen, die damit zu tun haben, dass wir beide derselben Generation angehören, dass wir aus Elternhäusern stammen, in denen zwar Bildung geschätzt und unterstützt wurde, uns aber unsere Eltern nur bedingt bei der Vorbereitung auf ein Studium unterstützen konnten. Uns beiden war ein geisteswissenschaftliches Studium nicht „in die Wiege“ gelegt. Die Welt der Universität, das „Studentenleben“ war für uns beide fremd und faszinierend. Es ging mir da ganz ähnlich wie ihr: „Als ich mich entschied, Geschichte und Literaturwissenschaft zu studieren, hatte ich null Ahnung davon, was am Ende aus mir werden sollte. Rückblickend empfinde ich es mal als sehr naiv, mal als sehr mutig von mir, mich so gar nicht mit Karriereplanung befasst zu haben.“


Während ich über dieses Parallelen unserer Biographien nachdenke und schreibe, beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. Darf ich das überhaupt? Ich habe es doch zweifellos so viel leichter gehabt als „Biodeutsche“ - keine Probleme mit der Sprache, keine Diskriminierung in der Schule, kein Rassismus. Und dann denke ich - und hoffe es -, dass die Entdeckung solcher Gemeinsamkeiten jenseits der „Identitäten“ ganz im Sinne von Canan Topçu ist. Denn sie will ja, dass wir uns selbst als Individuen verstehen und auch andere als solche wahrnehmen - eben im Gegensatz zur Selbst- und Fremdwahrnehmung als Repräsentant_inn_en bestimmter Gruppen. 


"Damals ist sie die Tochter griechischer Gastarbeiter und ich die Kümmeltürkin. Das will ich aber nicht bleiben."


Topçu lebt in Hanau, der Stadt, die Schauplatz eines der fürchterlichsten rassistischen Verbrechen in unserem Land wurde und sie ringt schreibend, so lese ich das, auch darum, sich diese Stadt als Zuhause nicht wegnehmen zu lassen, weder von "biodeutschen" Rassisten noch von "neudeutschen Antirassisten", die z.B. proklamieren, dass "Eure Heimat, unser Alptraum" ist.


Canan Topçus Erfahrungen zeigen, wie das gelingen kann. Dass diesem Gelingen viele, auch strukturelle, Hindernisse entgegenstehen, bestreitet sie nicht und zeigt es auch auf. Jedoch entscheidet sie sich, ihr Augenmerk auf die Bedingungen des Gelingens zu legen. Das wirkt sicherlich verstörend und wohl auch verharmlosend auf jene, die gegen den zweifellos in unserer Gesellschaft vorhandenen strukturellen Rassismus kämpfen. Denn gegen dessen Wirksamkeit können die anekdotisch erzählten positiven Erlebnisse mit „alten weißen Männern“, von denen Topçu berichtet, wenig ausrichten. 


Indem Topçu ihre Lebensgeschichte als Gegengeschichte zu dem von amerikanischen Theorien geprägten Antirassismus erzählt, verteidigt sie auch den Anspruch, sich selbst als Subjekt dieser Geschichte wahrzunehmen. Hier scheint mir ein wesentlicher Grund für den intuitiven Widerstand gegen die neuen Deutungshoheiten zu liegen. Denn die Betonung des Strukturellen kann eben auch als Enteignung des Einzelnen von seiner Geschichte wahrgenommen werden. Auch hier erkenne ich Parallelen zu meiner eigenen Reaktion auf diese Theorien. Sie verlangen nichts weniger, als dass jene, die gerade erst die Chance für sich wahrzunehmen begonnen hatten, den Subjektstatus zu erlangen (die Frauen, die Migrant_innen, die Homosexuellen, die Nicht-Akademiker_innen…) diesen, indem sie ihn als dem Konzept „weißer Mann“ inhärenten entlarven, insgesamt kompromittieren und abwickeln. Die Anerkennung und der Respekt, den diese Form des Antirassismus einfordert, gilt dann eben dem Gruppen-(Opfer)-Status, nicht den Leistungen und Erfolgen der Einzelnen. Für viele aus „unserer“ (Topçus und meiner) Generation sind diese aber identitätsstiftend und ihre Infragestellung verletzt unser Selbstbild. Es widerspricht unserer (Selbst-)Wahrnehmung und - nach meiner Überzeugung  - auch der Evidenz, dass das liberale, auf Individualität bezogene Menschenbild sein Emanzipationspotential nur für „Weiße“ oder „Männer“ oder „Heterosexuelle“ entfalten könne.


"Es ist doch ein Unterschied, ob jemand aufgrund meines Namens und Aussehens mich mit einem anderen Land verbindet oder ob ein dunkelhäutiger Mensch in der Straßenbahn bespuckt und getreten wird."


Canan Topçus Buch regt zum Nachdenken darüber an, wie die verschiedenen Generationen, theoretisch-akademischen und pragmatisch-kommunalen Gruppen und Gruppierungen, die verschiedenen Menschen, die aufrichtig Rassismus bekämpfen wollen, wieder miteinander ins Gespräch kommen können.Während der Lektüre habe ich mir auch die Frage gestellt, wodurch sich Vorurteil und Rassismus unterscheiden und ob die Schärfung eines Bewusstseins für den Unterschied zwischen beiden dazu beitragen könnte, manche Brücken zwischen den Lagern zu schlagen. Das N-Wort z.B. ist für mich eindeutig rassistisch, weil durch es eine bestimmte Gruppe als minderwertig klassifiziert wird. Daher finde ich es absolut richtig, es nicht mehr zu verwenden. Die Frage: „Woher kommst du?“ dagegen, halte ich für weiterhin legitim, auch wenn ich verstehe, dass sie manchmal verletzen kann. Denn ihr wohnt nicht zwingend eine Abwertung inne. Vorurteile kann man durch gemeinsame Erfahrungen, durch Austausch und Gespräch überwinden, wie Topçu es vorschlägt. Rassismus dagegen muss man meiner Meinung nach bekämpfen, auch durch Verbote, Tabus und Ächtung. 


Canan Topçu: „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“ , Quadriga Verlag 2021 € 16,90

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