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Sonntag, 12. Juni 2022

DIE GESÄNGE DER SARAH MALDOROR


Elisa Andrade als Maria in Sarah Maldorors "Sambizanga" (1972)

Unter diesem Titel findet zur Zeit in Frankfurt und Umgebung eine Filmreihe statt, die das Werk der französischen Regisseurin einem Publikum vorstellen soll, das dieses nicht (mehr, noch nicht?) kennt. Sarah Maldorors Vater stammte aus Guadeloupe, ihre Mutter war Französin. Den Vater, der früh in einer Psychiatrie verstarb, lernte Sarah jedoch kaum kennen. Sie wuchs in Gers auf. Später nahm sie den „Kampfnamen“ Maldoror an. Sie ging nach Paris und gründete die Theatergruppe „Griots“, in der ausschließlich schwarze Theatermacher wirkten. Dort traf sie auf Mario de Andrade, der aus Guinea stammte. Mit ihm zusammen engagierte sich Sarah Maldoror für die Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde. Die Begegnung mit dem afrikanischen Kontinent wurde zum einschneidende Erlebnis. In Moskau ließ sie sich zur Regisseurin ausbilden. Später lebten Andrade und Maldoror in Algerien. Algerien wurde in den 60er Jahren zur Heimat der jungen Familie und finanzierte auch das revolutionäre Kino, an dem Maldoror mit ihren Filmen mitwirken wollte. Ihre Filme thematisieren die kolonialen Befreiungskämpfe dieser Zeit, aber sie weichen ästhetisch und erzählerisch oft vom Genre des militanten Antikolonialismus-Kinos ab. Sarah Maldoror starb 2020 im Alter von 90 Jahren. 

Ich hatte Gelegenheit im Kino des Frankfurter DFF den Film „Sambizanga“ zu sehen, der 1972 entstand. „Sambizanga“ erzählt die Anfänge der angolanischen Befreiungsbewegung im Jahre 1961. (Sambizanga ist ein Viertel der angolanischen Bezirkshauptstadt Luanda). Der Film geht auf eine Erzählung des angolanischen Schriftstellers Vieira zurück, in der es um die Verhaftung, Folterung und den Tod des angolanischen Mechanikers Domingo Xavier im portugiesischen Polizeigewahrsam geht. In Frankfurt war bei der Vorführung des Films Sarah Maldorors Tochter Annouchka de Andrade anwesend. Sie arbeitet derzeit an der Restaurierung der Filme ihrer Mutter, um deren kinomatographisches Erbe zu sichern. 

Der Film beeindruckt vor allem durch seine visuelle und poetische Kraft. Annouchka de Andrade betont daher auch: „Zwar war sie Filmemacherin, Frau und Mutter, doch vor allem war Sarah ein von Grund auf poetischer Mensch.“ Anders als in der Erzählung steht im Film nicht vor allem Domingo Xavier im Mittelpunkt, sondern seine Frau Maria, die sich, nachdem Domingo von der portugiesischen Geheimpolizei verschleppt worden ist, aus der Provinz auf den Weg nach Luanda macht, um herauszufinden, was mit ihm geschehen ist. Der Weg der Frau zu Fuß auf verstaubten Straßen und durch den Dschungel, ihr Baby auf dem Rücken, wird zu einer Metapher für den Leidensweg des angolanischen Volkes, genauso sehr, wie die Qualen Domingos im Gefängnis, der für seine Weigerung, Kameraden der Bewegung zu verraten, von den portugiesischen Kolonialbeamten zu Tode geprügelt wird. Eine der berührendsten Szenen des Filmes ist jene, in der der Leichnam des gepeinigten Mannes zurück in die überbelegte Zelle gebracht wird. Die Insassen richten den toten Körper auf, tupfen das Blut von der Stirn des toten Kameraden und stimmen leise, aber schließlich immer kräftiger werdend ein angolanisches Volkslied an. Die Zärtlichkeit der Berührungen unter den Männern, die Sanftheit ihrer Trauer und die Entschlossenheit, mit der sie dem Toten die Würde zurückgeben, ist sorgfältig choreographiert. Die Kamera wechselt zwischen Nahaufnahmen, die die liebevollen Gesten der Männer, die Trauer in ihren Augen in den Blick nehmen, zu Totalen, die die Gemeinschaft umfangen und ihre Solidarität beschreiben. Der tiefe Eindruck, den diese Szene hinterlässt, steigert sich noch, wenn de Andrade nach der Vorführung erzählt, dass die Szene im Gefängnis in Brazzaville mit realen Gefangenen gedreht wurde. Der ganze Film wurde, überwiegend mit angolanischen Freiheitskämpfern als Laiendarstellern, in Brazzaville, der Hauptstadt des Kongo, gedreht, weil zur Zeit seiner Entstehung in Angola noch der Befreiungskampf gegen die portugiesische Besatzung stattfand.

Sarah Maldorors Film stellt nicht den bewaffneten Kampf in den Mittelpunkt und auch nicht das Terrorregime der portugiesischen Kolonialmacht (auch wenn die Darstellung der Folterszenen schwer zu ertragen ist), sondern das Alltagsleben und die Solidarität der angolanischen Bevölkerung. Nachdem Marias Mann gefangengenommen und abtransportiert worden ist, versammelt sich die Dorfgemeinschaft in ihrer Hütte, sie wird getröstet, in den Arm genommen, man bringt ihr Essen. Eine ältere Frau gibt ihr Ratschläge, wie sie ihren Mann wiederfinden kann. Als sie sich auf den Weg nach Luanda macht, begleiten sie die Frauen aus dem Dorf hinaus. In Luanda kommt sie mitten in der Nacht an, die Verwandten nehmen die erschöpfte Frau sofort auf, eine andere Frau stillt ihr hungriges Baby. Maldoror nimmt sich viel Zeit, Straßenszenen zu filmen, spielende Kinder, Frauen am Brunnen, Feiernde und Tanzende in Cafés. Parallel zu Marias Geschichte, ihren Mann wiederzufinden, wird erzählt, wie die Befreiungsbewegung zusammenarbeitet. Ein Junge sieht, wie der gefesselte Domingo in die Polizeiwache gebracht wird. Er unterrichtet seinen Großvater, der in einer Hängematte döst. „Old Half Ass“, wie die Kinder der Umgebung den alten Mann hänseln, bricht mit seinem Enkel humpelnd auf, um einen jungen Mann aus der Befreiungsbewegung zu informieren. Obwohl sie nicht wissen, wer der verhaftete Mann ist, fühlen sie alle sich verpflichtet, herauszufinden, um wen es sich handelt und was weiter mit ihm geschieht. Die Befreiungsbewegung wird von Maldoror vor allem als eine Bewegung der Solidarität dargestellt, des wechselseitigen Beistands, der gemeinsamen Sorge und unbedingten Hilfsbereitschaft. Selten habe ich im Kino so zärtliche Männer agieren sehen. 

Großartig ist auch die Szene, in der die Bewegung vom Tod Domingos im Gefängnis erfährt. Es wird ein Gartenlokal mit Lampions gezeigt, eine Band spielt rhythmische Tanzmusik, Stimmung ist ausgelassen, als der Junge und sein Großvater, die es zuerst erfahren haben, mit der Nachricht hinzukommen. Im Kreis stehen die Mitglieder der Bewegung, junge und alte, auf den Gesichtern, die nacheinander in langen Großaufnahmen gezeigt werden, spiegelt sich das Grauen und die Trauer wieder. Im Hintergrund aber läuft weiter das Fest, die Tanzmusik ist zu hören. Es ist ein langer Moment des Innehalten, doch dann entscheidet sich ein junger Schneider, den wir zuvor schon kennengelernt haben, auf die Bühne zu treten. Die Musik wird unterbrochen, er unterrichtet das Publikum vom Tod Domingo Xavier. Doch er schließt seine Rede damit, dass die Feier weitergehen müsse, denn das nächste Leben Domingo Xavier habe begonnen, sein Leben für die Befreiung Angolas. Die Band nimmt das Spiel wieder auf und es wird weitergetanzt. Der Film endet schließlich mit einem konspirativen Treffen, bei dem sich die Männer zum Auftakt des bewaffneten Aufstands verabreden.

Annoucka de Andrade erzählte nach der Vorführung im Frankfurter DFF, dass ihrer Mutter seinerzeit vorgeworfen worden sei, „unrealistische“ Afrikanerinnen und Afrikaner vorzuführen, sie seien zu gut aussehend, zu fröhlich, zu wenig Opfer. Doch genau dies sei das Anliegen ihrer Mutter gewesen: schwarze Menschen in ihrem Alltag zu zeigen, in ihren Gemeinschaften, beim Feiern und Singen und Trauern, beim Planen und Lernen und Hoffen. Das Wort, dass die Zuschauerinnen und Zuschauern in Frankfurt am häufigsten wählten, um zu beschreiben, wie der Film auf sie wirkte, war: Dignity/Würde. Sarah Maldoror sagte, nach Aussage ihrer Tochter, immer: „Wir sind verantwortlich, niemand anderer ist schuld.“ Das relativiert nicht die Schuld der Kolonialmächte, sondern beschreibt, so verstehe ich es, eine Haltung, die sich die Autorschaft über das eigene Leben nicht aus der Hand nehmen lässt. So erzählt Maldoror auch ihre Figuren: Zwar werden sie Opfer der Kolonialmacht, aber sie nehmen diese Opferrolle zu keinem Zeitpunkt an. Sie behaupten sich in ihrem Alltagsleben genauso, wie Domingo unter der Folter. Die Würde dieses Lebens in Gemeinschaft und Solidarität selbst ist Ausdruck des Widerstandes. Im Untertitel heißt die Filmreihe in Frankfurt: „Ein Kino der Nähe, der kollektiven Verantwortung und des Teilens“.

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Die Gesänge der Sarah Maldoror. Ein Kino der Nähe, der kollektiven Verantwortung und des Teilens, 10.-25. Juni 2022 im Kino des DFF, Kino CinéMayence im Institut Francais, Mainz und Open Air Kino in der Platenstiftung Frankfurt und im Juli im tba ada_hinterhof_kino, www.ada-kantine.org

Veranstaltet von Kinothek Asta Nielsen 

Programm: www.kinothek-asta-nielsen.de

Die Kinothek hat auch einen liebevoll gestalteten Reader zur Reihe herausgegeben, mit Interviews von Maldoror und ihren Töchtern.

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