Freitag, 29. Oktober 2010

EINE SIZILISCHE REISE von Alban Nikolai Herbst

"Sie hat in mir den falschen gewählt, ich bin zu schwach für eine wie sie."

Wenn eine im August 1994 um halb neun Uhr abends mit der Fähre übergesetzt wäre von Neapel, hätte am Morgen vor ihren Augen der Hafen von Palermo ganz so erscheinen können: „Links die Burg, die den Hafen bewacht. Es ist zwar warm, 27 Grad, aber ich dächte, es müsste zum August heißer sein im Süden. Die Sonne steht ganz dicht über dem weißen Palast, der, hoch auf dem Berg und also weithin sichtbar, wie ein Perlmuttjuwel zu mir herunterleuchtet. Ziemlich viel Lärm und Betrieb.“ Der erste Blick auf das Inselland, den der fantastische Realist Alban Nikolai Herbst den Ich-Erzähler werfen lässt, zeigt, wie der die sizilische Landschaft auf seiner Reise sehen wird. Zunächst bildet er  einen objektivierenden Kamera-Blick durch die Linse nach, einen angedeuteten Panorama-Schwenk von links nach rechts, im Leuchten der Burg aber erscheint jetzt das imaginierte Bild des Perlmuttjuwels, bis schließlich die Landschaft selbst den Blick des Betrachters als Subjekt zurück wirft. Doch Herbst  - und auch das ist typisch - endet die Landschaftsdarstellung nicht schauend. Vielmehr wird der - asynchrone - Ton eingeschaltet: „Lärm und Betrieb.“

Fontane schrieb einmal, dass bei einem guten Aufbau der Erzählung „der Keim des Ganzen“ in der ersten Seite stecken müsse. Was also enthüllt die erste Seite des fantastischen Berichts „Eine Sizilische Reise“, den Herbst 1995 vorlegte?  Die Beschreibung der Ankunft im Hafen von Palermo macht klar, dass dieser Erzähler die sizilische Landschaft nicht romantisch, als ein versunkener und stillgestellter Betrachter wahrnehmen wird. Es ist stets eine von Menschen gestaltete Landschaft, Kulturlandschaft also, die in den Blick genommen und in Bussen und Zügen durchfahren wird. Darum geht es auch in diesem fantastischen Bericht: um die Interaktion zwischen Mensch und Land, um die Geschichte einer Jahrtausende währenden Beziehung und ihre kulturelle Formung, gerade hier an dieser Südspitze Europas, wo sich sämtliche Mittelmeerkulturen begegneten, bekämpften, befruchteten. 

Die„Sizilische Reise“ beginnt der Ich-Erzähler mit dem Satz: „Ich habe viel Glück.“  Er freut sich, dass es ihm gelungen ist, noch einen Platz auf der als „Ausgebucht“ ausgeschilderten Fähre zu ergattern. Er sucht sich auf Kisten an Achterdeck ein Nachtquartier und: „Denke zurück, aber meine Erinnerungen sind irgendwie gebleicht.“ Was dem Erzähler geschieht, erzählt er konsequent im Präsens. Dabei verwendet er lapidare Selbstanreden, in denen er sich Handlungen anbefiehlt: „Also Rucksack und mich die breite Treppe rauf zum ersten Stock des Gebäudes wuchten...“, aber auch maritimes Fachvokabular; er spricht fließend Italienisch; er kennt sich an Bord und mit den Gepflogenheiten des Eincheckens aus. Was dem Erzähler an Erinnerungen fehlt, offenbar, gleicht er durch Wissen aus. Auch, dass am übernächsten Tag „Ferragosto“ (Maria Himmelfahrt) gefeiert wird, d e r italienische Feiertag, ist ihm bekannt. Es ist ein eigenartiger Erzähler, der hier eingeführt wird, einer, der keine Erinnerungen hat, aber jeweils exakt über das Fachwissen verfügen wird, das die Situation erfordert. Er erzählt aus einer unbedingten Gegenwart, durch die er hetzt, kaum mit den Worten nachkommend, so dass er das Subjekt des Satzes (das „Ich“ des Ich-Erzählers) bisweilen verschluckt. Man könnte vermuten, er sei auf der Flucht. 


Was also keimen wird in dieser Erzählung sind Elemente des Krimis und des Agententhrillers, die sich auf eigentümliche Weise mischen werden mit Mythen des Mittelmeerraumes und deren katholischer Überformungen. Durch diesen Mix aus Gegenwart und Alltag, realistischem Schwitzen und verpassten Zügen, flirrender Augustsonne, schillernden Mythenfiguren und Untoten wird die Leserin der sonderbare „Ich-Erzähler“ führen, der Wissen abrufen kann, aber keine eigene Substanz, keinen Gestaltungswillen hat, der reagiert, nicht agiert, obgleich derjenige, der ihn als Figur führt, lange nicht sichtbar wird. Am Ende stellt sich die Frage: Hat er tatsächlich Glück gehabt, der Ich-Erzähler mit seinem Erzähler Herbst und mit der Erzählung, in die dieser ihn geworfen hat?

Kreuz und quer durch Sizilien treibt den Erinnerungslosen sein Autor, auf den Spuren eines gewissen Arndt, den Herbst-Leser schon aus anderen Erzählungen kennen, in Begegnungen mit schönen und weniger schönen Frauen, gefährlichen und weniger gefährlichen sizilischen Eingeborenen, Toten und Untoten, Menschen und Göttinnen. Der Ich-Erzähler ist in einen Kampf gestellt, dessen Frontlinien ihm und der Leserin lange unklar bleiben. Es ist, scheint es, ein Kampf um die Deutungshoheit über Ursprung und Erde, Natur und Kultur, Wissen und Erinnerung, ein Kampf, der fiktiv geführt wird, ein Kampf der Fiktionäre also, dessen Auswirkungen sich der Kulturlandschaft jedoch real aufprägen: „Golfo di Augusta. Selbst durchs geschlossene Fenster quillt der Gasfackelgeruch der petrotechnischen Werke. Das Meer ein Friedhof, in dem Schiffe verwesen. Die Tanker kommen zum Sterben hierher. Rauchschwaden in schillernden synthetischen Farben, Dampfwolken aus Schloten, Metallwerke und Stahlgitterlabyrinthe und die Pipelines zu den Raffinerien blitzen im Sonnenlicht aus einer biomechanischen Welt herüber. Die Vegetation ist abgesiecht. Es gibt nur braunkrankes, strohiges, in schütteren Büscheln stehendes Gras. In den Kleinbussen am Strand harrt Prostitution auf Matrosen und Heuer. Eichenwälder, Buchen, Pinien, Kastanien und Tannen sollen diesen zugrunde kontaminierten Landstrich einst überzogen haben.“ Gegen den Endsieg des patriarchalischen  Prinzips, den monotheistischen Gottesglauben, der die Göttin als reinliche Jungfrau gen Himmel sendet, die lineare Geschichte, die alles Leben unter die Drohung des Jüngsten Tages stellt, gegen die Ausbeutung der Natur und des Menschen durch den Menschen im Namen der Vernunft kämpft der Ich-Erzähler, häufig fast besinnungs- und bewusstlos, im Auftrag Arndts für eine geheimnisvolle Dame mit den sprechenden Namen Jörsdòttir/Tanit und schließlich, wie sich herausstellt, als Stellvertreter seines Schöpfers Herbst („Welch ein Spinner!“), der ihm (und der Leserin) schließlich eröffnet, es habe ihn, den Ich-Erzähler, vor dem 13. August 1994 gar nicht gegeben. Einmal in die Welt gesetzt, offenbar, verliert jedoch auch der Schöpfer die Kontrolle über seine Geschöpfe; der Kampf ist offen, es kann auch alles schief gehen, die Figur versagen. Es scheint darum zu gehen, die Teile eines zerbrochenen Venussiegels wieder zusammenzufügen und um ein Opfer, das Herbst nicht zu bringen bereit ist: Der Ich-Erzähler verwandelt sich im Laufe der Erzählung, er verpelzt, er wird zum Wolf. Am Ende, das Opfer vollzogen, der erste Bock gerissen, starren Mensch Herbst und Wolf-Erzähler einander noch einmal an. Gereizt. Doch lässt der Wolf ihn gehen, die Spuren des Menschen zu tilgen, der Herbsts Fiktion war. „An diesem Tag auf Sizilien alle Brände gelöscht. Das Verkehrsnetz zusammengebrochen: sämtliche Züge stehengeblieben. Die elektrische Versorgung über Stunden wie tot. Es regnet und regnet. Ein Unwetter ist das nicht, sind keine reißenden Güsse. Sondern gut fällt das Wasser. Und mitten im Sommer begrünt sich das Land.“

Ein Happy End? Hat er also Glück  – und wir, die Leserinnen, mit ihm – der Ich-Erzähler? Er hat seinen Zweck erfüllt, offenbar. Die Reise zum Ende geführt, das Opfer vollzogen, die Verwertungsmaschinerie zum Innehalten gezwungen, den Kreislauf belebt, das Land befruchtet, die Wiederkehr ermöglicht. Doch etwas stimmt hier nicht. Die Leserin sah verwickelt in den Kampf nur Männer (im Auftrag von Tanit/Jörsdòttir zwar, der Ur-Fruchtbarkeitsgöttin): den Ich-Erzähler, Arndt und Autor Herbst. Doch Herbst, wird auf den letzten Seiten der „Sizilischen Reise“ beschrieben, betrinkt sich am Abend vor der Abreise und träumt schlecht von Halbtoten, die ihm befehlen, einen Wasserbottich zu schleppen, der keinen Boden hat: Verschwendung, Vergeblichkeit. Was in der Erzählung aufgeht, löst die Alpträume des Autors nicht, dessen „traurige feuchte mattgrüne Augen“ den Ich-Erzähler angeschaut hatten, aus dem „Antlitz eines vorgealterten Sechsjährigen, den niemand lieb hat.“ Diese Männer kämpfen aus Einsicht in die Notwendigkeit auf der Seite der Fruchtbarkeit: „Weil ich Frau Jörsdòttir recht geben muß. Weil sie das Lebensprinzip vertritt. Indessen die anderen nichts tun als zerstören. Deshalb. – Aber Sie werden diese Antwort wahrscheinlich lächerlich finden.“ Er m u s s ihr recht geben, der Göttin. Muss. Die Ur-Mutter ist im Recht gegen das Prinzip der Männlichkeit, gegen den allmächtigen Vater, sagt der traurige Autor, der sich einen Stellvertreter erfand, der keine Erinnerung hat, keine Kindheit, keine Mutter. Eine Kopf-Geburt des männlichen Autors, der den Vater-Namen abwarf und – metaphorisch – sich selbst „gebar“. Das weibliche Prinzip des Werdens und Vergehens, die Herkunft aus der Mutter, die ehemals erfahrene Einheit mit ihr:  Wofür der Ich-Erzähler geopfert wird, hat ihm gerade sein Autor verweigert. Die Mütter bleiben dunkel im Schattenreich. Und ganz wie die Erinnerung an die Mutter, so verweigert er ihm auch die Vereinigung mit dem Mädchen, der bezaubernden Ciane. Als die Kindfrau sich ihm hingeben will, schlafft er ab: "´Ach, liebe mich doch´, sagt sie, und ihr Gesicht wird zunehmend traurig. Die ganze Person ist traurig, Gesicht, Haare, Haut." Und sie läuft weinend regelrecht aus, verdunstet vor seinen Augen, zurück bleibt nur ein "dünner pfütziger Film." Der fantastische Bericht der „Sizilischen Reise“ trennt zwischen Mädchen und Müttern: „Ein jedes Mädchen durchwittert die Abkunft von der, die den Granatapfel trägt. Eine jede Frau wirft Blicke, in denen die der Ceres glühen. Jenseits der Dreißig indessen, verheiratet und zur Mutter geworden, verfetten sie in der Monogamie.“ Darum darf der Ich-Erzähler die Hingabe des Mädchens nicht annehmen, weil die Vereinigung das Opfer für die Ur-Mutter verhindern würde. Es ist der Autor Herbst, der seinen Ich-Erzähler im entscheidenden Moment impotent macht, gesteht er diesem später. 


Diese strikte Trennung im Blick des Mannes zwischen den (fruchtbaren) Mädchen, die ihn anziehen, und der zur Mutter gewordenen Frau, die ihn befremdet, ist der Produktionsmodus vieler männlicher Kunst, sein mythisches Vorbild: Pygmalion. „Das Mädchen“, „die junge Frau“, die der Mann sich schafft und heranzieht zur Geliebten und Muse, belebt sein Werk. Die Frau, die selber Leben gibt, indessen, die Mutter, ist unheimlich, weil sie als Konkurrenz erfahren wird und zur Einsicht zwänge, nicht selbstgeschaffen zu sein. Also muss sie zur mythologischen Göttin verklärt werden. Damit schreibt sich – gegen alle Absicht und als Traurigkeit – in das so geschaffene männliche Werk eine tiefe Fremdheit der Geschlechter ein, die in der Abwehr der Mutter (der nur als Göttin gehuldigt wird) als Frau gründet.

„Ein glühender Dreifuß tut dir endlich kund
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.
Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn,
Die einen sitzen, andre stehn und gehen,
Wie´s eben kommt. Gestaltung. Umgestaltung.
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.
Umschwebt von Bildern aller Kreatur.“

(Faust II: Finstere Galerie)

In diese finstere Galerie hinab traut sich Autor Herbst in der „Sizilischen Reise“ (noch) nicht. Dahin schickt er den schon fast Wolf gewordenen Anderen. Kein Mann verkehrt dort unten mit den Müttern. Der Autor liegt stattdessen schlecht träumend zu Bette. Denn wer die Welt neu schöpfen will, muss einsam sein und bleiben in diesem Produktionsmodus. Nur so, scheint es, kann er sich selbst ermächtigen.

Der „reale“ Autor Herbst, glaube ich, hat diesen Produktionmodus spätestens mit „Meere“ überschritten und die Mütter zur Erscheinung gebracht. Damit wird nicht alles „gut“ zwischen den Geschlechtern, keineswegs, auch dafür steht "Meere". Aber es bedeutet, dass die andere Seinsweise nicht mehr nur behauptet und als mythischer Urgrund benutzt wird, dass, was geschaffen werden kann, nicht mehr aus der Entleibung der Mütter (ihrer Entsexualisierung zur Matrone) oder ihrer Erhöhung zur Göttin entsteht, sondern aus ihrer Anerkennung, dieser anderen Form des Schöpfens, die sich nicht aus Ich-Behauptung, Wille,  Selbstermächtigung bildet.

So erst werden Verse wie die der AEOLIA (2008) möglich:

„Höre mich, Schwester, das Frauengeschlecht trägt noch immer
Leben lebendig, empfängnisvoll, aus und kein Mann
Nicht seines Gottes Erhebung, bis heute nicht hat er´s
der er dich derart verriet, ob er´s auch wollte
abändern können, uns die Bedeutung zu nehmen
daß wir das Leben bewahren als das, was es ist –
fließender Austausch und schöpfende Metamorphose
selbst schöpferisch, die keines Erlösers bedarf
der es zum ewigen Standbild, wie dich macht und festsetzt
Schwester, zu Tränen, gemalten, auf Holz.“


5 Kommentare:

  1. Liebe Melusine,

    das freut mich ja, dass Sie Ihr Versprechen wahr machen! Und danke noch für die Komplimente.

    In der Sache sind Sie ja nicht gerade einfach. Das hier werde ich mehrmals lesen müssen. Spontan fühle ich mich an „Rom, Blicke“ erinnert. „Lärm und Betrieb“ hat auch Brinkmann in die Betrachtungen der italienischen Kulturdenkmäler eingearbeitet – und damit eine für mich sehr überraschende und irritierende Perspektive eingenommen: Kulturlandschaft, die mit Bussen und Zügen durchfahren wird.

    Ansonsten erkenne ich viele Wolpertinger-Elemente wieder – ich schrieb das schon an anderer Stelle. Ihr: „Was also keimen wird, in dieser Erzählung sind Elemente des Krimis und des Agententhrillers, die sich auf eigentümliche Weise mischen werden mit Mythen des Mittelmeerraumes und deren katholischer Überformungen“ gilt dort auch, meine ich. Und die „Verwandlung“ des Fiktionärs Herbst (Deters) in ein Tier als eine von mehreren Möglichkeiten.

    Überraschend ist Ihre Pygmalion-Assoziation. Darüber muss ich nachdenken. Vielen Dank einstweilen!

    Beste Grüße

    NO

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  2. Ohne das Buch zu kennen, bewundernswert tiefsinnig rücken Sie den Alpha-bet-Wölfen auf den Pelz.

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  3. @NO Ich halte meine Versprechen. Es dauert nur manchmal etwas länger:-). Und es wird anders, als ich selbst erwartete: Ich wollte über die Landschaften schreiben und schrieb über die Mütter. --Ja, es gibt viele Verbindungen zum Wolpertinger. Zu Pygmalion: Das ist m e i n e Lesart. Im Text immerhin ist drin: die Parteinahme für das matriachale Prinzip durch die Autor-Figur Herbst, aber auch deren Traurigkeit und schlechte Träume n a c h der Opferung. Man könnte dies als Schuldgefühl gegenüber der (männlichen) Erzählfigur, die stelltvertretend zum Tier werden muss, deuten. Dagegen habe ich mich entschieden. Stattdessen lese ich es als Einsicht und Trauer darüber, dass auf dem "Opfer-Weg" (der, wie gesagt wird, auch immer wiederholt werden muss) keine Versöhnung, keine Balance im Kampf zwischen beiden Prinzipien dauerhaft hergestellt werden kann.

    @Bücherblogger Es ist ein sehr verlockendes Buch, das Lust macht auf ein Sizilien jenseits der ausgetretenen Touristenpfade. Ich war noch nie dort. Und habe jetzt ein wenig Angst, dass ein wirkliches Sizilien meinem durch die Lektüre "erfahrenen" phantastischen nicht standhalten könnte. "Auf den Pelz", wenn Sie so wollen, so lese ich das, rückt der Autor Herbst dem "männlichen" Gestaltungswillen Im Namen der Mütter, aber "mutterlos", sozusagen.

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  4. Liebe Melusine,

    das hat ein wenig gedauert, bis ich einen Kommentar fabriziert habe.

    Sie hatten angekündigt, eine Besprechung machen zu wollen, die sich an der Landschaft orientiert (Orient – tiert) und haben es dann nur teilweise so ins Werk gesetzt. Ich wollte ursprünglich eine an Mythen orientierte Auseinandersetzung vorlegen; und habe das auch nicht gemacht. Ich denke, beides hat einen ähnlichen Grund: dass die anderen Dinge und Umstände einfach fruchtbarer sind, wie beispielsweise die seltsame Instanz des Erzählers, natürlich im Präsenz, da ihm andere Zeitforman ja nicht möglich sind. Die an der Landschaft orientiere Besprechung wäre möglicherweise interessant geworden, aber letztlich, glaube ich, so fruchtbar nicht gewesen.

    Was Sie mit „Interaktion von Mensch und Geschichte“ ansprechen, das finde ich, ist dem Autor sehr gut gelungen, eine Metamorphose - das ist ein sehr moderner Begriff, ich höre kaum mal einen Vortrag, ohne das Wort Metamorphose – eine produktive Aneignung abstrakter Vergangenheit; abstrakt, weil es nicht die individuelle ist, sondern die kollektive.

    Was Sie zur Trennung von Kindfrau und Mutter sagen, fand ich sehr erhellend, das ist mir bei meiner eigenen Lektüre entgangen: dass sich hier auch ein männlicher Produktions- und Künstlermythos verbirgt, war mir nicht aufgefallen. Ich fand das bis zu dieser Lektüre auch unverständlich, warum der Erzähler im Angesicht von Ciane eine Potenzstörung erleidet. In wieweit ANH darüber, über seine hier erreichte erzählerische Position, nicht die Potenzstörung, hinauswächst (sic!), in Meere wie Sie sagen, das habe ich noch vor mir. Möglicherweise auch weit vor mir, da schiebt sich immer wieder anderes davor.

    Ich bin, das aber nur nebenbei, keine Anhängerin der Fontaneschen Auffassung, dass etwas im Kern bereits auf der ersten Seite zu finden sein muss. Ich halte das für eine Auffassung, die sehr gut in die Erzähltheorie des 18. oder 19. Jahrhunderts passt, aber nicht applizierbar ist auf moderne und postmoderne Texte. Da kann man froh, sein, ich meine das nicht ironisch, wenn sie den Kern auf der letzen Seite enthalten. Anders ausgedrückt: die Vorstellung von Kern oder roter Faden – also Handlungsaufbau - ist heut eine ganz andere als zu Zeit Fontanes.

    Aléa

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  5. Liebe Aléa!

    Vielen Dank für diese Überlegungen. Über das, was Sie zu Fontanes "Keim" auf der ersten Seite sagen, muss ich noch einmal nachdenken. Ich bin nicht sicher, ob ich es nicht doch sinnvoll finde, hier schon die losen Enden - verschlungen - "herumliegen" zu lassen. Es geht weniger um den "Kern" des Ganzen, d.h. um die "Bedeutung", sondern um den "Keim", also den "Ursprung von allem" (in gewisser Weise ist dies ja auch wieder das/ein Thema der "Sizilischen Reise"). In der Sizlischen Reise finde ich all dies bereits auf der ersten Seite: die Erinnerungslosigkeit des Erzählers, die Mischung aus Mythen, Katholizismus, Krimi und Agententhriller, der "hohe Ton" der Bildung und die lapidar-laxe Art des Erzählers, die vom Menschen gestaltete Landschaft, Natur und Maschine, das Mittelmeer und eben auch diesen ersten Satz: "Ich habe Glück." Man versteht dann erst spät, dass es darum geht, ob er (der Ich-Erzähler) Glück hat mit "seinem" Erzähler, mit dem, der ihn stellvertretend in dieses Geschehen schickt. Ihren Einwand gegenüber einer Konstruktion des Romanes, die auf Geschlossenheit abzielt, verstehe ich dennoch. Ich glaube aber, dass der "Keim" ein Bild ist, dass offen genug ist auch für moderne und postmoderne Konstruktionen. Ich zumindest mag es, wenn die verschiedenen und auch widersprüchlichen Ebenen gleichzeitig präsent sind, auch schon auf der ersten Seite, die auf diese Weise einen Klang anschlägt, der mich einstimmt, durchaus auch einen dissonanten (und darin sähe ich den Unterschied zum Roman des 19. Jahrhunderts: keinen roten Faden, sondern ein Gewebe loser Fäden, die weiter gesponnen werden, sozusagen).

    Herzliche Grüße
    Melusine

    PS. Allerdings: Ich würde nie eine Regel daraus machen wollen: dass der Keim enthalten sein müsse auf der ersten Seite. Das nicht!

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