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Freitag, 14. April 2023
Hossa! - Homosexualität begründet keine (politische) Identität, sondern ist eine sexuelle Orientierung. Über Rosa v. Praunheims Film "Rex Gildo - der letzte Tanz"
Freitag, 28. Oktober 2022
SONST NICHTS. Über Najat El Hachmis Roman "Am Montag werden sie uns lieben"
Sonntag, 12. Juni 2022
DIE GESÄNGE DER SARAH MALDOROR
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Elisa Andrade als Maria in Sarah Maldorors "Sambizanga" (1972) |
Unter diesem Titel findet zur Zeit in Frankfurt und Umgebung eine Filmreihe statt, die das Werk der französischen Regisseurin einem Publikum vorstellen soll, das dieses nicht (mehr, noch nicht?) kennt. Sarah Maldorors Vater stammte aus Guadeloupe, ihre Mutter war Französin. Den Vater, der früh in einer Psychiatrie verstarb, lernte Sarah jedoch kaum kennen. Sie wuchs in Gers auf. Später nahm sie den „Kampfnamen“ Maldoror an. Sie ging nach Paris und gründete die Theatergruppe „Griots“, in der ausschließlich schwarze Theatermacher wirkten. Dort traf sie auf Mario de Andrade, der aus Guinea stammte. Mit ihm zusammen engagierte sich Sarah Maldoror für die Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde. Die Begegnung mit dem afrikanischen Kontinent wurde zum einschneidende Erlebnis. In Moskau ließ sie sich zur Regisseurin ausbilden. Später lebten Andrade und Maldoror in Algerien. Algerien wurde in den 60er Jahren zur Heimat der jungen Familie und finanzierte auch das revolutionäre Kino, an dem Maldoror mit ihren Filmen mitwirken wollte. Ihre Filme thematisieren die kolonialen Befreiungskämpfe dieser Zeit, aber sie weichen ästhetisch und erzählerisch oft vom Genre des militanten Antikolonialismus-Kinos ab. Sarah Maldoror starb 2020 im Alter von 90 Jahren.
Ich hatte Gelegenheit im Kino des Frankfurter DFF den Film „Sambizanga“ zu sehen, der 1972 entstand. „Sambizanga“ erzählt die Anfänge der angolanischen Befreiungsbewegung im Jahre 1961. (Sambizanga ist ein Viertel der angolanischen Bezirkshauptstadt Luanda). Der Film geht auf eine Erzählung des angolanischen Schriftstellers Vieira zurück, in der es um die Verhaftung, Folterung und den Tod des angolanischen Mechanikers Domingo Xavier im portugiesischen Polizeigewahrsam geht. In Frankfurt war bei der Vorführung des Films Sarah Maldorors Tochter Annouchka de Andrade anwesend. Sie arbeitet derzeit an der Restaurierung der Filme ihrer Mutter, um deren kinomatographisches Erbe zu sichern.
Der Film beeindruckt vor allem durch seine visuelle und poetische Kraft. Annouchka de Andrade betont daher auch: „Zwar war sie Filmemacherin, Frau und Mutter, doch vor allem war Sarah ein von Grund auf poetischer Mensch.“ Anders als in der Erzählung steht im Film nicht vor allem Domingo Xavier im Mittelpunkt, sondern seine Frau Maria, die sich, nachdem Domingo von der portugiesischen Geheimpolizei verschleppt worden ist, aus der Provinz auf den Weg nach Luanda macht, um herauszufinden, was mit ihm geschehen ist. Der Weg der Frau zu Fuß auf verstaubten Straßen und durch den Dschungel, ihr Baby auf dem Rücken, wird zu einer Metapher für den Leidensweg des angolanischen Volkes, genauso sehr, wie die Qualen Domingos im Gefängnis, der für seine Weigerung, Kameraden der Bewegung zu verraten, von den portugiesischen Kolonialbeamten zu Tode geprügelt wird. Eine der berührendsten Szenen des Filmes ist jene, in der der Leichnam des gepeinigten Mannes zurück in die überbelegte Zelle gebracht wird. Die Insassen richten den toten Körper auf, tupfen das Blut von der Stirn des toten Kameraden und stimmen leise, aber schließlich immer kräftiger werdend ein angolanisches Volkslied an. Die Zärtlichkeit der Berührungen unter den Männern, die Sanftheit ihrer Trauer und die Entschlossenheit, mit der sie dem Toten die Würde zurückgeben, ist sorgfältig choreographiert. Die Kamera wechselt zwischen Nahaufnahmen, die die liebevollen Gesten der Männer, die Trauer in ihren Augen in den Blick nehmen, zu Totalen, die die Gemeinschaft umfangen und ihre Solidarität beschreiben. Der tiefe Eindruck, den diese Szene hinterlässt, steigert sich noch, wenn de Andrade nach der Vorführung erzählt, dass die Szene im Gefängnis in Brazzaville mit realen Gefangenen gedreht wurde. Der ganze Film wurde, überwiegend mit angolanischen Freiheitskämpfern als Laiendarstellern, in Brazzaville, der Hauptstadt des Kongo, gedreht, weil zur Zeit seiner Entstehung in Angola noch der Befreiungskampf gegen die portugiesische Besatzung stattfand.
Sarah Maldorors Film stellt nicht den bewaffneten Kampf in den Mittelpunkt und auch nicht das Terrorregime der portugiesischen Kolonialmacht (auch wenn die Darstellung der Folterszenen schwer zu ertragen ist), sondern das Alltagsleben und die Solidarität der angolanischen Bevölkerung. Nachdem Marias Mann gefangengenommen und abtransportiert worden ist, versammelt sich die Dorfgemeinschaft in ihrer Hütte, sie wird getröstet, in den Arm genommen, man bringt ihr Essen. Eine ältere Frau gibt ihr Ratschläge, wie sie ihren Mann wiederfinden kann. Als sie sich auf den Weg nach Luanda macht, begleiten sie die Frauen aus dem Dorf hinaus. In Luanda kommt sie mitten in der Nacht an, die Verwandten nehmen die erschöpfte Frau sofort auf, eine andere Frau stillt ihr hungriges Baby. Maldoror nimmt sich viel Zeit, Straßenszenen zu filmen, spielende Kinder, Frauen am Brunnen, Feiernde und Tanzende in Cafés. Parallel zu Marias Geschichte, ihren Mann wiederzufinden, wird erzählt, wie die Befreiungsbewegung zusammenarbeitet. Ein Junge sieht, wie der gefesselte Domingo in die Polizeiwache gebracht wird. Er unterrichtet seinen Großvater, der in einer Hängematte döst. „Old Half Ass“, wie die Kinder der Umgebung den alten Mann hänseln, bricht mit seinem Enkel humpelnd auf, um einen jungen Mann aus der Befreiungsbewegung zu informieren. Obwohl sie nicht wissen, wer der verhaftete Mann ist, fühlen sie alle sich verpflichtet, herauszufinden, um wen es sich handelt und was weiter mit ihm geschieht. Die Befreiungsbewegung wird von Maldoror vor allem als eine Bewegung der Solidarität dargestellt, des wechselseitigen Beistands, der gemeinsamen Sorge und unbedingten Hilfsbereitschaft. Selten habe ich im Kino so zärtliche Männer agieren sehen.
Großartig ist auch die Szene, in der die Bewegung vom Tod Domingos im Gefängnis erfährt. Es wird ein Gartenlokal mit Lampions gezeigt, eine Band spielt rhythmische Tanzmusik, Stimmung ist ausgelassen, als der Junge und sein Großvater, die es zuerst erfahren haben, mit der Nachricht hinzukommen. Im Kreis stehen die Mitglieder der Bewegung, junge und alte, auf den Gesichtern, die nacheinander in langen Großaufnahmen gezeigt werden, spiegelt sich das Grauen und die Trauer wieder. Im Hintergrund aber läuft weiter das Fest, die Tanzmusik ist zu hören. Es ist ein langer Moment des Innehalten, doch dann entscheidet sich ein junger Schneider, den wir zuvor schon kennengelernt haben, auf die Bühne zu treten. Die Musik wird unterbrochen, er unterrichtet das Publikum vom Tod Domingo Xavier. Doch er schließt seine Rede damit, dass die Feier weitergehen müsse, denn das nächste Leben Domingo Xavier habe begonnen, sein Leben für die Befreiung Angolas. Die Band nimmt das Spiel wieder auf und es wird weitergetanzt. Der Film endet schließlich mit einem konspirativen Treffen, bei dem sich die Männer zum Auftakt des bewaffneten Aufstands verabreden.
Annoucka de Andrade erzählte nach der Vorführung im Frankfurter DFF, dass ihrer Mutter seinerzeit vorgeworfen worden sei, „unrealistische“ Afrikanerinnen und Afrikaner vorzuführen, sie seien zu gut aussehend, zu fröhlich, zu wenig Opfer. Doch genau dies sei das Anliegen ihrer Mutter gewesen: schwarze Menschen in ihrem Alltag zu zeigen, in ihren Gemeinschaften, beim Feiern und Singen und Trauern, beim Planen und Lernen und Hoffen. Das Wort, dass die Zuschauerinnen und Zuschauern in Frankfurt am häufigsten wählten, um zu beschreiben, wie der Film auf sie wirkte, war: Dignity/Würde. Sarah Maldoror sagte, nach Aussage ihrer Tochter, immer: „Wir sind verantwortlich, niemand anderer ist schuld.“ Das relativiert nicht die Schuld der Kolonialmächte, sondern beschreibt, so verstehe ich es, eine Haltung, die sich die Autorschaft über das eigene Leben nicht aus der Hand nehmen lässt. So erzählt Maldoror auch ihre Figuren: Zwar werden sie Opfer der Kolonialmacht, aber sie nehmen diese Opferrolle zu keinem Zeitpunkt an. Sie behaupten sich in ihrem Alltagsleben genauso, wie Domingo unter der Folter. Die Würde dieses Lebens in Gemeinschaft und Solidarität selbst ist Ausdruck des Widerstandes. Im Untertitel heißt die Filmreihe in Frankfurt: „Ein Kino der Nähe, der kollektiven Verantwortung und des Teilens“.
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Die Gesänge der Sarah Maldoror. Ein Kino der Nähe, der kollektiven Verantwortung und des Teilens, 10.-25. Juni 2022 im Kino des DFF, Kino CinéMayence im Institut Francais, Mainz und Open Air Kino in der Platenstiftung Frankfurt und im Juli im tba ada_hinterhof_kino, www.ada-kantine.org
Veranstaltet von Kinothek Asta Nielsen
Programm: www.kinothek-asta-nielsen.de
Die Kinothek hat auch einen liebevoll gestalteten Reader zur Reihe herausgegeben, mit Interviews von Maldoror und ihren Töchtern.
Mittwoch, 4. Mai 2022
Die hyperbolischen, handgehäkelten, herrlichen Riffe der Wertheims in Baden-Baden
Crosspost von: https://www.bzw-weiterdenken.de/2022/05/die-hyperbolischen-handgehaekelten-herrlichen-riffe-der-wertheims-in-baden-baden/
Die Schwestern Christine und Margaret Wertheim (*1958 in Australien) verstehen ihre Häkel-Korallen-Riffe als „Wartungsarbeit“. Sie beziehen sich dabei auf die feministische Künstlerin Mierle Laderman Ukeles, die zwei verschiedene Arten von „Arbeit“ unterscheidet: „Entwicklung“ als rein individueller Schöpfungsakt und „Wartung“ als Bewahrung der individuellen Schöpfungen, um ihre Fortsetzung, Erneuerung und Erweiterung zu ermöglichen.
Durch diesen Bezug auf die Traditionen feministischer Kunst stellen die Wertheims drei Aspekte ins Zentrum ihrer Arbeit: (1) das Sichtbarmachen bisher unsichtbar gebliebener Arbeiten und Kunstformen, (2) eine alternative Sicht auf das Verhältnis zwischen Kunst und Natur und (3) eine Intervention gegenüber den ökologisch zerstörerischen Praktiken der Gegenwartskultur.
Das Baden-Baden-Riff wird dabei von den Wertheims als ein „Satellit-Riff“ zu ihren ersten gehäkelten Korallen-Riffen verstanden. Im Erdgeschoss in Baden-Baden sind diese Korallen-Riffe, die seit 2005 entstanden sind, ausgestellt. 2019 stellten die Wertheims ihr Crochet Coral Reef auch bei der Kunstbiennale in Venedig vor. Ein riesiges Forstgebiet aus Korallenwälder ist in Baden-Baden zu bestaunen, gehäkelt aus Videobändern, Lametta, verschiedenen Garnen, Absperrbändern, Reißverschlüssen, Kabelbindern.
Einzelne Schaukästen geben Einblick in Pod Worlds, kleine Miniatur-Korallenwelten. Ein toxisches Riff aus überwiegend schwarzem Plastikmüll erhebt sich neben einem weißen Bleech Reef, das den Prozess der Ausbleichung nachbildet, dem die Korallenriffe in den Ozeanen zum Opfer fallen. An den Wänden finden sich Briefzuschriften von Kolloborateurinnen, die an den Riffen mitgewirkt haben, durch ein aufwendig besticktes Tuch werden Mitwirkende, darunter die Mutter der Wertheims, geehrt. Eine Sammlung der Etiketten der unterschiedlichen Garne, die verwendet wurden, dokumentiert, aus wievielen Teilen der Welt die Materialien für die Häkelriffe zusammengetragen wurden. Auf einer überdimensionierten Schultafel wird die hyperbolische Geometrie, die das Häkeln wie die Gestalt der Korallen beschreiben kann, der euklidischen Geometrie, die die meisten von uns in der Schule gelernt haben, gegenübergestellt.

Die Betrachterin ist schon im Erdgeschoss überwältigt. Überwältig von der Vielfalt an Informationen, Eindrücken, Einblicken, vor allem aber von der Schönheit der hyperbolischen Formen und Farben, vom gewaltigen Überfluss des Wucherns der Unterwasserscheinwelten, die hier entworfen werden. Alle Aspekte, die den Wertheims wichtig sind, verbinden sich beim Betrachten:
-> die Idee von einer Kunst, die nicht den - meist männlich konnotierten - einzelnen „Schöpfer“ und sein "Werk" in den Mittelpunkt stellt, sondern das kollektive Arbeiten an Gemeinschaftswerken, und die nicht den geschlossenen „Werkcharakter“ ausstellt, sondern sich zu ihrer Umgebung in Beziehung setzt, die unmittelbar zugänglich ist für jederfrau; Anschlussfähigkeit sucht und herstellt zum Alltagsleben der Besucherinnen, zu den - meist weiblich konnotierten und als "Kunsthandwerk" abgetanen - Häkelarbeiten.
-> die Häkelriffe sind gleichermaßen traditionelle Mimesis, also „Nachbildung der Natur“ durch die Kunst, als auch deren Reflexion. Denn die Arbeit der Wertheims setzt nicht auf Illusion, sondern schließt an popkulturelle Praktiken der Übertreibung an. Die Präsentation macht den Prozess ihrer Gestaltung und die Verwendung nicht-natürlicher Materialien sichtbar. Die Häkelriffe, die auf die Gefährdung der natürlichen Riffe aufmerksam machen sollen, sind selber künstliche, d.h. menschliche Schöpfungen und erstellt mit eben jenen Materialien, die zur Vernichtung der natürlichen Riffe beitragen. In einer Pod World erwächst aus einer Müllplastikflasche ein neues, künstliches kleine Miniaturriff.
-> die politische Intervention, die das Projekt sein will und ist, appelliert nicht billig an Moral und bietet keine simplen Lösungen für das ökologische Verhängnis an, auf das sie aufmerksam machen will. Die menschlichen Praktiken, die die Weltmeere verschmutzen und die Korallenriffe vernichten, die von Menschen hergestellten Materialien, die diesen Prozess auslösen, sind eben jene, die die Schönheit (auch die bisweilen schreckliche Schönheit) der Häkelriffe ermöglichen, sie recyceln diese Materialien, um etwas zu schaffen, was die Zerstörung - mindestens - für den Zeitraum eines Ausstellungsbesuchs - zu transzendieren scheint.
Denn das ist die Dissonanz, denen die Häkelkorallenriffe der Wertheims, zumindest mich ausgesetzt haben: Sie wollen auf eine Tragödie aufmerksam machen, aber zugleich lösen sie Glücksgefühle aus, nämlich die Freude über das Gelingen des Gemeinschaftswerkes und über die überwältigende Schönheit der farbenfrohen Häkelarbeiten.
Im ersten Stock trifft die Besucherin auf das sagenhafte Baden-Baden-Riff, an dem über 4000 Beiträgerinnen, deren Namen an einer Wand aufgeführt sind, mitgehäkelt haben. Man kann sich kaum sattsehen an den vielen Details, die Christine Wertheim hier aus den eingesandten Häkelkorallenarbeitenzu Riffen zusammengestellt hat.
Ich empfehle den Besuch der wunderbaren Ausstellung in Baden-Baden, die noch bis zum 26.Juni anzuschauen ist.
Dienstag, 26. April 2022
Sentimentale und sensible Schlächterseelen.
1983 war ich bei der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten. Ich war überzeugt, dass der NATO-Doppelbeschluss, durch den mit Atomwaffen bestückte Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden sollten, die Gefahr eines Atomkrieges heraufbeschwor. Nächtelang diskutierte ich das Thema mit meinem Vater, der mir 1:1 die Argumentation Helmut Schmidts vorhielt. Auch im Morgengrauen kamen wir noch zu keinem Konsens. Aber er fuhr mich dann zur Haltestelle des Busses nach Bonn.
Unter meinen engeren Freunden haben fast alle den Wehrdienst verweigert. Die zur Bundeswehr gingen, berichteten von sinnlosen erscheinenden Manövern ("Fulda Gap") und nervtötenden Diensten. Anfang und Mitte der 80er Jahre prägte die Angst vor einem Atomkrieg meine Generation. In den Schulen erhielten wir Einweisungen des Katastrophenschutzes, wie wir uns im Falle eines Atombomben-Abwurfs zu verhalten hätten: in Ackerfurchen werfen und möglichst mit einer Folie bedecken, den atomwaffensicheren Bunker aufsuchen. Auf Nachfragen ("Woher Folie nehmen?", "Hier gibts keinen Bunker, wohin also?") reagierte das Personal gereizt. Uns blieb nach solchen Stunden die Gewissheit: Wenn es soweit kommt, gibt's kein Entrinnen. Am besten ist noch dran, wer sofort tot ist.
Pazifistin war ich nicht. Ich weiß über mich, dass ich zurückschlagen will, wenn ich angegriffen werde und ich empfinde dabei keine Schuld. In den Diskussionen mit meinem Vater ging es nicht darum, auf Abschreckung durch Atomwaffen zu verzichten, sondern darum, welche Abschreckung funktioniert. Meine Position war vereinfacht: Je durchführbarer und begrenzbarer ein Atomkrieg erscheint, desto wahrscheinlicher wird er. Deshalb müsse man auf totale Abschreckung setzen, was bedeute: Atomkrieg = totale Vernichtung beider Seiten. Mein Vater, auf der Linie Helmut Schmidts, argumentierte: Abschreckung werde unglaubwürdig, wenn sie auf totale Vernichtung setze, der Gegner könne dann annehmen, dass man nicht zu antworten wage, wenn er "nur" Raketen mit kleinerer Sprengkraft und geringerer Reichweite einsetze. Daher: Man müsse auf demselben Level antworten können.
Mein Vater (und Helmut Schmidt) hatten Recht. Denke ich heute. Abschreckung muss glaubwürdig sein. Nur dann funktioniert sie. (Olaf Scholz, indes, scheint das noch immer anders zu sehen.)
Nur wenige Jahre nach der Demonstration im Bonner Hofgarten brach die Sowjetunion zusammen. Schon unter dem Zarenreich kolonialisierte Völker erlangten die staatliche Selbstständigkeit. Russischstämmige wurden nicht selten unter fürchterlichen Umständen vertrieben. Im Westen nahm man davon nur wenig Notiz. Genauso wenig, wie man die Geschichte der Unterdrückung dieser Völker unter den Zaren oder später unter Stalin und unter deutscher Besatzung jemals wirklich zur Kenntnis genommen hatte. In Deutschland hat man sich bei der Aufarbeitung der eigenen verbrecherischen Geschichte immer nur auf eine Schuld gegenüber "Russland" bezogen. Ehemals dem Warschauer Pakt angehörenden Staaten drängten in den Folgejahren in die NATO. Für Litauen, Lettland, Estland, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, die ihre Erfahrungen mit sowjetischer Besatzung hatten, war dies die einzig vorstellbare Bestandsgarantie eigener staatlicher Souveränität. (Die europäischen Ex-Warschauer Pakt-Staaten, die nicht der NATO beitraten, sind seit Putins Machtübernahme systematisch destabilisiert worden: Georgien, Moldavien, Ukraine). Von westlicher Seite wurde eine "Sicherheitspartnerschaft" mit Russland angestrebt, ein neues Gleichgewicht, dass nicht mehr auf Abschreckung beruhen sollte.
Ich gebe zu: Von alledem bekam ich recht wenig mit. Das Land, in dem ich aufgewachsen war, existierte nicht mehr: die BRD. Es gab jetzt: DEUTSCHLAND. Schon das fühlte sich falsch und unwirklich an. Ich beendete am Ende des Jahres 1989 mein Studium, Mitte der 90er Jahre wurde ich zweimal kurz hintereinander Mutter. Mein Blog (dessen erster Eintrag im Februar 2010 veröffentlicht wurde), wie ich im Geleitwort schrieb, hat zwar "als Fluchtpunkt" das Jahr 1989. Aber es war eine sehr selbstbezügliche Suche nach der "verlorenen Zeit", auf die ich mich machte. Verloren waren die Jahre des "verantwortungslosen Zahlens und Stillhaltens", schrieb ich, mir selbst verbergend, dass ich genau darin, in dem noch verantwortungsloseren Festhalten an dieser Haltung, mich doch recht gut eingerichtet hatte.
Mein Land, jetzt also Deutschland, gab sich überall als geläutert, der Gewalt abhold, vermittelnd. Personifiziert geradezu durch einen bescheiden im Hintergrund agierenden Kanzleramtsminister, den späteren Außenminister und jetzigen Bundespräsidenten Steinmeier. Stets moralingetränkte, sonor vorgetragene Sprüche auf den Lippen, wurden hinter verschlossenen Türen die Waffenlieferungen in alle Welt abgewickelt, wo's heikler wurde, setzte man auf Dual-Use-Klassifizierung, man war zugänglich und umgänglich gegenüber jedem und jede/r Diktatoren-RepräsentantIn, trank Tee mit faschistischen Schlächtern im Eigenheim, tätschelte sich mit den Folterern, fühlte sich aber stets vor allem den US-amerikanischen Imperialisten moralisch um Längen überlegen. Die eigene Hochanständigkeit wurde dann noch erheblich gebolstert durch den mit offensichtlichen Lügen begründeten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak. "Wir" wirkten in alle Richtungen ausgleichend, mäßigend und geschäftstüchtig mit. Zu einer grotesken Parodie ihrer selbst wurde die Steinmeiersche (Nicht-)Haltung endgültig in Gestalt seines Amtsnachfolgers und Parteikollegen "WirrufenbeideSeitenzurMäßigungauf"-Maas.
Wir hatten die Regierungen, die wir verdienten. Berauschten uns an unserer Willkommenskultur und unserer "Wirschaffendas-Alternativlos"-Kanzlerin, die uns Politik, Entwicklung und Veränderung ersparte, Zeit kaufte, wo sie sich mit Geld kaufen ließ, und ansonsten, wiederum eher hinter verschlossenen Türen, die Interessen der deutschen Auto- und Chemieindustrie und des deutschen Bankensystems auch dann vertrat, wenn es gegen EU-Regeln verstieß (umso energischer die Verstöße anderer Länder anprangernd). Um die Transformation des Landes in ein Niedriglohn-Paradies, die vom Brioni-Kanzler begonnen worden war, fortsetzen zu können und der wahlentscheidenden Mittelklasse nichts zumuten zu müssen, brauchten wir billige Energie und die Männerfreundschaftsbünde, die sie uns verschafften, waren und blieben intakt. Der "lupenreine Demokrat" im Kreml lieferte und unsere politische Klasse ließ sich aushalten.
Die Zeit ist abgelaufen. Um Demokratie haben wir als Gesellschaft nie gekämpft. Sie wurde uns geschenkt. Ein paar tapfere Demokraten und Demokratinnen schrieben uns 1948 ein Grundgesetz, die beste Verfassung der Welt. Wir ehrten sie kaum. Ihre Namen sind in unseren Städten nicht präsent, wir bauten ihnen keine Denkmäler. Unter dem Schutz amerikanischer, französischer und britischer Atomraketen und mit der Hilfe des Marshall-Plans konnten wir ökonomisch prosperieren. Wir hatten uns so gut daran gewöhnt, die externen Kosten unseres Geschäftsmodells nicht zu tragen.
Die Zeit ist abgelaufen. Sie war im Grunde schon 1989 abgelaufen. Wenn ich mein "Geleitwort" lese, wird mir klar, dass ich es wusste, aber eben nicht wahrhaben wollte. Selbstbezüglich wollte ich mich lieber mit Identitätsfragen und meiner Befindlichkeit befassen, als nach dem Preis zu fragen, den der Luxus, das überhaupt zu können, kostete. Ich habe erst sehr spät nach Osteuropa geschaut. Unter anderem die Bücher Swetlana Alexjewitschs machten mir klar, was ich übersehen hatte.
Nie hatte ich, wie viele andere Linke, mit der Sowjetunion sympathisiert, nie wäre es mir in den Sinn gekommen, die Nachfolge-Partei der SED zu wählen. Meinen Solschenizyn hatte ich schon gelesen, auf die Idee, wie Gregor Gysi noch 2022 (und dann enttäuscht wie ein kleiner Bube), die Sowjetunion als "Friedensmacht" zu bezeichnen, wäre ich nie gekommen. Und doch: Ich hatte an das Ende der Abschreckung geglaubt. Und kaum wahrgenommen, dass die Kolonialreiche, deren problematische Abwicklung im "Westen" ganze universitäre Theorie-Schulen kritisch analysierten, eben nicht nur von "westlichen" Staaten errichtet worden waren.
Ja, wir waren geblendet von "Gorbi" und "unserer" friedlichen "Revolution" in der DDR, abgelenkt durch Selbstbeschäftigung und Identitätspolitiken. Parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat waren gleichzeitig so selbstverständlich für uns und so kritikwürdig, dass wir in ihrem Schutz wie in einem Suppenteller saßen und nicht mal Anstalten machten, über den Tellerrand zu blicken. Die Zeit war abgelaufen, doch wir wählten Politikerinnen und Politiker in führende Ämter, die uns die Illusion verschafften und erkauften, es noch ein bisschen hinauszögern zu können.
Und jetzt ist Schluss.
Der Preis wurde immer schon gezahlt, nur nicht von uns. Wer in der DDR Plakate hochhielt, auf denen stand "Schwerter zu Pflugscharen", landete in Bautzen. "Ein bisschen Frieden", war ein blödes und naives Lied, aber im Grunde beschreibt es ziemlich exakt, wie wir uns benahmen. Wir wollten die Guten sein und uns gut fühlen, Urlaubsflüge, Auto und Eigenheim inklusive, aber bitte mit Sahne und ohne schmutzige Finger.
Am 24.Feburar 2022 hat der russische Autokrat Wladimir Wladimirowitsch Putin einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine angeordnet. Seither sterben Ukrainerinnen und Ukrainer, werden vergewaltigt, gefoltert, ermordet, verlieren ihre Wohnorte und Infrastruktur, ihre Lebensgrundlage, müssen zu Millionen fliehen. Doch eine Melange aus "alten" Linken und jungen "Woken", SPD-Granden, korrupten Fossilenergie-Händlern, Gewerkschaften und Industriebossen, AfD-Anhängern und Alt-Feministinnen will unbedingt und auf Deubel komm raus noch einmal Zeit schinden und den Schlächter in Moskau nicht provozieren. Krude wird gemixt: Der Schlächter hat berechtigte koloniale ("Sicherheits"-)Interessen (besonders anrührend von Linken vorgetragen), dem Schlächter wurde der Respekt versagt ("Regionalmacht"), der Schlächter liefert zuverlässig (man kann nicht nur mit Leuten Geschäfte machen, die "unsere" Idee von Menschenrechten teilen), der Schlächter hat eben, was wir brauchen, nämlich fossile Billigenergie (ansonsten Massenarbeitslosigkeit und "Hyperinflation"), der Schlächter hat Atomwaffen und er wird sie suizidal einsetzen, wenn man ihm nicht gibt, was er verlangt. Der Schlächter ist also gleichzeitig bedrohtes, diskriminiertes Opfer oder Psychopath, er ist zuverlässiger Verhandlungs- und Geschäftspartner und wahnsinniger Erpresser, man muss vertrauensvoll mit ihm "Gespräche und Verhandlungslösungen suchen" und kann ihm ALLES zutrauen.
Die "Friedensfreunde", zuletzt die abgehalfterten "Intellektuellen" mit ihrem unsäglichen Appell, entlarven sich selbst. Denn wären sie im Ernst Pazifisten, müssten sie die härtesten Sanktionen, die denkbar wären, fordern: den vollständigen Abbruch aller Handelsbeziehungen zur Russischen Föderation, Energieembargo SOFORT, die Sperrung des Skagerraks und aller Häfen für russische Schiffe, Sanktionen gegen alle, die noch mit dem Aggressor handeln. (Ja, das ist in der gegenwärtigen geopolitischen Situation nicht realistisch, aber immerhin wäre es "idealistisch".) Davon ist aber in ihren ekelerregenden Aufrufen NICHTS zu lesen. Es geht immer nur darum, den Schlächter zu besänftigen, seine Lügen als Argumente aufzuwerten und ihm den "Respekt" zu erweisen, den er einfordert. Man will sich nicht die Finger schmutzig machen, aber als ehemalige (und offenbar immer noch gefühlte) Kolonialmacht mit der anderen Kolonialmacht über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg "einen Kompromiss" aushandeln. Wie ärgerlich und abscheulich, dass die Opfer sich nicht einfach fügen wollen. Sind halt Militaristen, von toxischer Männlichkeit angestachelte Kriegstreiber und/oder Marionetten des ewigen Teufels USA (man kann da ganz bequem von islamofaschistischen Seiten abschreiben, passt!).
Das ist alles ekelerregend. Der Würgereiz wird unerträglich, wenn dieses Gesindel sich dann auch noch für seine Sensibilität und Sentimentalität selbst beweihräuchert. Man wolle ja nur das "Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer" verkürzen. Deshalb: Weder harte Sanktionen, noch Waffen zur Selbstverteidigung. "Frieden schaffen ohne Waffen" (und ohne knallharte Sanktionen freilich auch, bloß mit guten Worten, Respekt und Freundlichkeit gegenüber dem Schlächter). Man hat das doch immer schon skandiert, das muss doch heute wieder gelten. Man lässt sich doch nicht in eine "militärische Logik" hineintreiben, das ist ja "menschenfeindlich". Ja, man will einfach weiter die Dividende einstreichen, mögen andere bezahlen. Davor die Augen zuzukneifen, das hat man doch schließlich schon ein ganzes Leben über geschafft. Jetzt erst mal einen Flug in die Sonne buchen, so stressig ist das alles hier, die ganze Kriegstreiberei, der Kapitalismus und so...,also...
"Mea Culpa", sagt der Alt-Kanzler, dessen Name nicht genannt werden soll, sei nicht sein Ding. Meines schon. Ich habe nicht genügend wahrgenommen und wahrnehmen wollen, wer für die Stabilität im Kalten Krieg, während dem ich Freiheiten genoss (zum Beispiel die Reisefreiheit), zu zahlen hatte, ich habe mich nicht genug eingesetzt für die Freiheit derjenigen hinter dem "Eisernen Vorhang" als ich jung war, ich habe mich nicht genügend interessiert für die Schuld, die Deutsche in der Ukraine und im Baltikum im 2. Weltkrieg auf sich geladen haben, ich war nicht dankbar genug den Tausenden US-amerikanischen Soldaten, die Europa befreiten und von denen viele ihr Leben ließen, ich habe nicht demonstriert gegen die Kriegsführung Putins in Tschetschenien und Syrien, ich habe nicht genügend getan, um die demokratischen Kräfte in Georgien, Moldau, Belarus und Ukraine zu unterstützen.
Wer in Putin und der Russischen Föderation unter seiner Führung keinen Feind erkennen kann, muss selber eine Schlächterseele sein. Die Russische Föderation führt einen brutalen Angriffskrieg, im staatlich kontrollierten russischen Fernsehen wird der Genozid an den Ukrainerinnen und Ukrainern verherrlicht, Menschen werden deportiert, in Lagern "gefiltert" und gefoltert, Vergewaltigungen sind in den besetzten Gebieten an der Tagesordnung. Wer den Opfern das Recht auf Selbstverteidigung und die Unterstützung dabei (mit "schweren" Waffen, selbstverständlich ) verweigert, wer ein anderes Ziel verfolgt, als die möglichst weitreichende und nachhaltige Entwaffnung des Aggressors, der soll seine schäbigen Krokodilstränen um das "Leid der anderen" ganz leise verdrücken.
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Wer helfen will:
https://kse.ua/support/donation
Dienstag, 8. März 2022
Patriarch Kyrill weist uns den rechten Weg - unfreiwillig, aber wirksam. Wer unsere Freunde sind und wer unser Feind ist
Patriarch Kyrill, Putin geistlicher Beistand, weist uns den rechten Weg.
"Der Westen", sagt er, will allen Schwulen-Paraden aufzwingen und dagegen müsse man sich rechtzeitig wehren - wie in der Ukraine.
Wie also kann und soll sie aussehen, unsere "wertegeleitete Außenpolitik"?
Ganz einfach:
Menschen, Gesellschaften, Staaten, in und mit denen keine fröhlichen Gay Paraden stattfinden können, sind NICHT unsere Partner. Mit ihnen pflegen wir nur sehr eingeschränkte Beziehungen, wo es nötig ist.
Menschen, Gesellschaften, Staaten, die andere angreifen, damit keine fröhlichen Gay Paraden stattfinden können, sind unsere FEINDE. Mit ihnen brechen wir alle Beziehungen ab.
Menschen, Gesellschaften, Staaten, in denen und mit denen fröhliche Gay Paraden stattfinden, können unsere Freunde sein.
Ganz schlicht. Passt.
Danke dem Patriarchen für diese Idee!
Samstag, 26. Februar 2022
Natascha Wodin: "Sie kam aus Mariupol" - Lasst Mariupol nicht im Stich! #IStandWithUkraine
Samstag, 26. Februar 2022, 16:26 Uhr
Die im Südosten der Ukraine liegende Hafenstadt Mariupol am Assowschen Meer wird in diesen Stunden von russischen Truppen eingekreist.
2017 erhielt Natascha Wodin für „Sie kam aus Mariupol“ den Preis der Leipziger Buchmesse. Eine Gattungsbezeichnung fehlt. Wodin schildert in diesem Buch, das kein Roman ist, aber auch keine (Auto-)Biographie, wie sie die Herkunft ihrer Mutter und deren Leidensweg von Mariupol an die Regnitz, in der sie sich mit nur 36 Jahren ertränkte, recherchiert, um zu verstehen, wer diese Frau war, die sie als klein, zart, hungrig und unendlich traurig und hoffnungslos in Erinnerung hat.
„Ukrainer, die den größten Teil der Ostarbeiter stellten, gelten als die minderwertigsten Slawen, noch niedriger als sie stehen in der Rassenhierarchie nur noch die Sinti und Roma und Juden. Sie werden auf den Straßen ergriffen, in Kinos, in Cafés, an Straßenbahnhaltestellen, auf Postämtern, überall, wo ihrer habhaft werden kann, sie werden bei Razzien aus ihren Wohnungen geholt, aus Kellern und Verschlägen, in denen sie sich verstecken. Man treibt sie zum Bahnhof und bringt sie in Viehwaggons auf den Transport nach Deutschland.“
Natascha Wodin war 10 Jahre alt, als ihre Mutter sich umbrachte. Das Kind hatte diese Tat längst erwartet, die Mutter sie viele Male angekündigt, oft auch so, als wolle sie ihre Kinder, Natascha und die jüngere Schwester, mitnehmen in den Tod. Die Ich-Erzählerin in „Sie kam aus Mariupol“ will als alte Frau begreifen, was die Mutter geprägt hat. Das Buch ist in drei Teile gegliedert.
Im ersten Teil erzählt Wodin, wie sie über Internet-Recherchen und mit Hilfe eines russischen Hobby-Genealogen immer mehr über die große Familie ihrer aus verarmtem russischem Adel stammenden Mutter erfährt. In Mariupol hatte ihr Großvater seine zweite Frau geheiratet, die Tochter eines italienischstämmigen Seefahrers und Großhändlers. Politisch hatte sich der Großvater entgegen seiner eigenen Herkunft gegen das Zarenreich eingesetzt und war für viele Jahre nach Sibirien verbannt worden. Mit der zweiten Familie lebte er im großbürgerlichen Haus der Schwiegereltern in Mariupol. Die Mutter der Erzählerin, Jewgenia, wird 1920 in die Revolutionswirren hineingeboren, von Anfang an ist ihr Leben durch Armut und Hunger geprägt, aber auf sonderbare Weise auch noch durch die adelige und großbürgerliche Herkunft der Eltern, was sie - nach Auffassung der Erzählerin - lebensuntüchtig macht, da sie keine praktischen Fähigkeiten vermittelt bekommt.
Im zweiten Teil des Buches steht die Geschichte der älteren Schwester der Mutter, Lidia, im Zentrum, auf deren lang verschollenes Tagebuch die Erzählerin stößt. Lidia schließt sich, als Bürgerliche geächtet, in ihrer Studienzeit in Odessa einer Widerstandsgruppe gegen die Kommunisten an, wird gefoltert und verschwindet für Jahrzehnte in einem Arbeitslager. Auch die Geschichten der anderen Familienmitglieder, die die Erzählerin nach und nach freilegt, verdeutlichen die traumatischen Verheerungen, denen die Menschen in der Ukraine und im gesamten Sowjetreich durch Revolution, Bürgerkrieg, Weltkrieg, Hungerkatastrophe in der Ukraine (Holodomor) und stalinistische Verfolgungen ausgesetzt waren.
„Was für eine Familie war das? Der Vater meiner Mutter ein bolschwestischer Revolutionär mit einer langen Verbannungsgeschichte, ihr Bruder ein dekoriertes Parteimitglied, ihre Schwester und sie selbst Renegatinnen, die eine verbannt in ein sowjetisches Arbeitslager, die andere Zwangsarbeiterin beim deutschen Kriegsfeind, eine potentielle Kollaborateurin.“
Wegen des großen Altersabstandes zwischen Lidia und der Mutter der Erzählerin und deren Deportation ins Arbeitslager, kann die Erzählerin nur wenig über ihre eigene Mutter aus dem Tagebuch erfahren. Im dritten Teil versucht sie, die Flucht und/oder Deportation der Mutter und ihres eigenen Vater aus Mariupol nach Westen zu rekonstruieren. Vater und Mutter der Ich-Erzählerin wurden in Zwangsarbeitslagern bei Leipzig von den Nazis ausgebeutet. In einem solchen Lager wurde die Erzählerin gezeugt und geboren. Nicht ganz sicher kann sie sich sein, ob die Eltern nach Deutschland wollten, weil sie Angst vor stalinistischer Verfolgung hatten oder ob sie zwangsverpflichtet wurden. Sie weiß nur, dass der Hass auf Stalin die Eltern verbunden hat. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gibt es für die Eltern der Erzählerin keinen Weg zurück ins Sowjetreich, wo sie mit Verfolgung und Stigmatisierung rechnen müssen. Im Deutschland der Nachkriegszeit werden die Zwangsarbeiter zu Displaced Persons, zusammengepfercht in Lagern und Ghettos. In einem solchen wächst die Ich-Erzählerin nördlich von Nürnberg auf. Das Kind erfährt die Ausgrenzung in der Schule, die bittere Armut der Familie und begreift nie ganz, was sie so vollständig von der Außenwelt, diesem Deutschland, trennt.
„Wenn ich mich an etwas genau erinnere, dann an den Hass meiner Eltern gegen die Sowjetmacht, gegen Stalin, dieser Hass war vielleicht ihre stärkste Gemeinsamkeit.“
„Sie kam aus Mariupol“ ist ein lesenswertes und lehrreiches Buch. Privilegierte wie ich, die ganz unverdient ein ganzes Leben lang die Friedensdividende eingestrichen haben, können hier verstehen lernen, wie in unseren östlichen Nachbarländern sich an die Verheerungen des Weltkriegs nahtlos der stalinistische Terror anschloss. Man kann sich vorstellen, wie, wer dem Terror der Schergen Stalins ausgesetzt war, zum radikalen und unversöhnlichen Antikommunisten werden konnte, auch anfällig für Nationalismus und Faschismus. Und wie umgekehrt mit den Opfern unter dem Faschismus noch die fürchterlichsten Verbrechen der Stalinisten gerechtfertigt wurden. Keine Familie ohne vielfältige Traumata, tödliche Feindschaft, Verrat, Angst.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird die ungeheure Leistung dieser Generation von Ukrainerinnen und Ukrainern erst begreiflich, die vor 8 Jahren auf dem Maidan sich das Recht auf Selbstbestimmung erstritten hat. Eine junge Demokratie, strauchelnd, auch ringend mit dem Versuch der Korrumpierung durch Oligarchen. Und doch: Hoffnungsvoll. Der einzige Staat in Europa mit einem frei gewählten jüdischen Präsidenten.
„Sie kam aus Mariupol“ - einer Stadt, die im 20. Jahrhundert schon so viel Leid und Vernichtung erfahren hat und die in diesem Moment, in dem ich das schreibe, vielleicht von russischen Truppen eingenommen wird.
Lasst Mariupol nicht im Stich! Ich appelliere an die Bundesregierung, die Bitten der frei gewählten Regierung der Ukraine in diesen Stunden zu erhören.
#IStandWithUkraine
Mittwoch, 17. November 2021
Canan Topçu: „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“
Von sich und ihrer Biographie ausgehend setzt sich Canan Topçu in „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“ mit ihrem intuitiven Unbehagen am antirassistischen Diskurs der Gegenwart auseinander. Topçu macht sich gleich in der Einleitung kenntlich: „eine akkulturierte Frau türkischer Herkunft, die ihr Zuhause in Hanau gefunden hat.“ Sie spricht nicht für „Migrantinnen“, „Türkinnen“ oder „Musliminnen.“ Topçu spricht für sich selbst. Sie stellt ihren Lebenslauf dem gegenüber, was - in ihrer Wahrnehmung - zu vereinfachend als kollektive migrantische Erfahrung dargestellt wird.
"Ich war wissensdurstig. Ich wollte verstehen, was mir unverständlich erschien. Geschichte überforderte mich, überfordert mich immer noch. Geschichten aber nicht. Ich möchte immer noch verstehen. Die anderen und auch mich."
Topçu beginnt in der Einleitung mit vielen Fragen, die auch ich mir stelle: Über die Trag- und Leistungsfähigkeit aus dem Amerikanischen übernommener Begriffe und Theorien wie "People of Color" und "Critical Race Theory", darüber wie effektiv es für gesellschaftliche Veränderungsprozesse ist, wenn der Rassismusvorwurf - wie sie meint - inflationär gebraucht wird, dazu, dass es auch in migrantischen Communities Nationalismus und Rassismus gibt und wie damit umzugehen sei, dazu, ob die sogenannte "Identitätspolitik" nicht das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen will, indem sie bestimmte Unterschiede dramatisiert und andere ausblendet...
Topçu gibt in ihrem Buch auf diese Fragen keine endgültigen Antworten. Was manche als die Schwäche dieses Buches auslegen könnten, betrachte ich als seine Stärke: Die Autorin versucht nicht, von ihrem eigenen Standpunkt zu abstrahieren oder gar eine alternative "Rassismustheorie" vorzulegen, sondern bleibt bei sich selbst und ihren eigenen Erfahrungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Somit wird aus diesem Essay mehr und mehr eine berührende Autobiographie, die, so der Titel des ersten Kapitels, erzählt „Wie ich geworden bin, wer ich bin.“ Topçu wuchs in einer kleinen Hafenstadt am Marmarameer auf. Sie berichtet über erste Erinnerungen an den Garten, an die Hühner, an das erste Schwimmen. Die Erinnerung weckt in der 55jährigen Autorin, die nun in Hanau lebt, Sehnsucht nach der verlorenen Heimat.
Und während ich das lese, entdecke ich, dass diese Erfahrung gar nicht so weit weg ist von der meinen, wie man annehmen könnte, da ich doch nie emigriert bin. Doch die Welt meiner Kindheit, in der es Holzöfen gab, tagelang eingemacht wurde, das Schlachtfest von der Großfamilie gefeiert wurde, ist genauso untergegangen, wie jene Welt, die Canan Topçu beschreibt. Auch ich bin nicht in dem Dorf geblieben, in dem ich aufgewachsen bin, und wenn ich es heute besuche (was praktisch kaum mehr vorkommt, da auch meine Eltern längst nicht mehr dort leben), kann ich die Welt meiner Kindheit nicht wiederfinden. Es gibt sie nicht mehr.
Zweifellos ist die Entfernung, die Topçu zurücklegen musste, um anzukommen in Hanau, in ihrem gegenwärtigen Leben, nicht nur räumlich viel größer als jene, die ich bewältigt habe. Dennoch gibt es Parallelen, wie ich sie auch in späteren Kapiteln feststellen konnte, Parallelen, die damit zu tun haben, dass wir beide derselben Generation angehören, dass wir aus Elternhäusern stammen, in denen zwar Bildung geschätzt und unterstützt wurde, uns aber unsere Eltern nur bedingt bei der Vorbereitung auf ein Studium unterstützen konnten. Uns beiden war ein geisteswissenschaftliches Studium nicht „in die Wiege“ gelegt. Die Welt der Universität, das „Studentenleben“ war für uns beide fremd und faszinierend. Es ging mir da ganz ähnlich wie ihr: „Als ich mich entschied, Geschichte und Literaturwissenschaft zu studieren, hatte ich null Ahnung davon, was am Ende aus mir werden sollte. Rückblickend empfinde ich es mal als sehr naiv, mal als sehr mutig von mir, mich so gar nicht mit Karriereplanung befasst zu haben.“
Während ich über dieses Parallelen unserer Biographien nachdenke und schreibe, beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. Darf ich das überhaupt? Ich habe es doch zweifellos so viel leichter gehabt als „Biodeutsche“ - keine Probleme mit der Sprache, keine Diskriminierung in der Schule, kein Rassismus. Und dann denke ich - und hoffe es -, dass die Entdeckung solcher Gemeinsamkeiten jenseits der „Identitäten“ ganz im Sinne von Canan Topçu ist. Denn sie will ja, dass wir uns selbst als Individuen verstehen und auch andere als solche wahrnehmen - eben im Gegensatz zur Selbst- und Fremdwahrnehmung als Repräsentant_inn_en bestimmter Gruppen.
"Damals ist sie die Tochter griechischer Gastarbeiter und ich die Kümmeltürkin. Das will ich aber nicht bleiben."
Topçu lebt in Hanau, der Stadt, die Schauplatz eines der fürchterlichsten rassistischen Verbrechen in unserem Land wurde und sie ringt schreibend, so lese ich das, auch darum, sich diese Stadt als Zuhause nicht wegnehmen zu lassen, weder von "biodeutschen" Rassisten noch von "neudeutschen Antirassisten", die z.B. proklamieren, dass "Eure Heimat, unser Alptraum" ist.
Canan Topçus Erfahrungen zeigen, wie das gelingen kann. Dass diesem Gelingen viele, auch strukturelle, Hindernisse entgegenstehen, bestreitet sie nicht und zeigt es auch auf. Jedoch entscheidet sie sich, ihr Augenmerk auf die Bedingungen des Gelingens zu legen. Das wirkt sicherlich verstörend und wohl auch verharmlosend auf jene, die gegen den zweifellos in unserer Gesellschaft vorhandenen strukturellen Rassismus kämpfen. Denn gegen dessen Wirksamkeit können die anekdotisch erzählten positiven Erlebnisse mit „alten weißen Männern“, von denen Topçu berichtet, wenig ausrichten.
Indem Topçu ihre Lebensgeschichte als Gegengeschichte zu dem von amerikanischen Theorien geprägten Antirassismus erzählt, verteidigt sie auch den Anspruch, sich selbst als Subjekt dieser Geschichte wahrzunehmen. Hier scheint mir ein wesentlicher Grund für den intuitiven Widerstand gegen die neuen Deutungshoheiten zu liegen. Denn die Betonung des Strukturellen kann eben auch als Enteignung des Einzelnen von seiner Geschichte wahrgenommen werden. Auch hier erkenne ich Parallelen zu meiner eigenen Reaktion auf diese Theorien. Sie verlangen nichts weniger, als dass jene, die gerade erst die Chance für sich wahrzunehmen begonnen hatten, den Subjektstatus zu erlangen (die Frauen, die Migrant_innen, die Homosexuellen, die Nicht-Akademiker_innen…) diesen, indem sie ihn als dem Konzept „weißer Mann“ inhärenten entlarven, insgesamt kompromittieren und abwickeln. Die Anerkennung und der Respekt, den diese Form des Antirassismus einfordert, gilt dann eben dem Gruppen-(Opfer)-Status, nicht den Leistungen und Erfolgen der Einzelnen. Für viele aus „unserer“ (Topçus und meiner) Generation sind diese aber identitätsstiftend und ihre Infragestellung verletzt unser Selbstbild. Es widerspricht unserer (Selbst-)Wahrnehmung und - nach meiner Überzeugung - auch der Evidenz, dass das liberale, auf Individualität bezogene Menschenbild sein Emanzipationspotential nur für „Weiße“ oder „Männer“ oder „Heterosexuelle“ entfalten könne.
"Es ist doch ein Unterschied, ob jemand aufgrund meines Namens und Aussehens mich mit einem anderen Land verbindet oder ob ein dunkelhäutiger Mensch in der Straßenbahn bespuckt und getreten wird."
Canan Topçus Buch regt zum Nachdenken darüber an, wie die verschiedenen Generationen, theoretisch-akademischen und pragmatisch-kommunalen Gruppen und Gruppierungen, die verschiedenen Menschen, die aufrichtig Rassismus bekämpfen wollen, wieder miteinander ins Gespräch kommen können.Während der Lektüre habe ich mir auch die Frage gestellt, wodurch sich Vorurteil und Rassismus unterscheiden und ob die Schärfung eines Bewusstseins für den Unterschied zwischen beiden dazu beitragen könnte, manche Brücken zwischen den Lagern zu schlagen. Das N-Wort z.B. ist für mich eindeutig rassistisch, weil durch es eine bestimmte Gruppe als minderwertig klassifiziert wird. Daher finde ich es absolut richtig, es nicht mehr zu verwenden. Die Frage: „Woher kommst du?“ dagegen, halte ich für weiterhin legitim, auch wenn ich verstehe, dass sie manchmal verletzen kann. Denn ihr wohnt nicht zwingend eine Abwertung inne. Vorurteile kann man durch gemeinsame Erfahrungen, durch Austausch und Gespräch überwinden, wie Topçu es vorschlägt. Rassismus dagegen muss man meiner Meinung nach bekämpfen, auch durch Verbote, Tabus und Ächtung.
Canan Topçu: „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“ , Quadriga Verlag 2021 € 16,90
Donnerstag, 19. August 2021
Die Macht kommt eben doch aus den Gewehrläufen!
https://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2021/07/die-schande-von-afghanistan-wir-lassen.html
Am 1. Juli, als ich den Post oben schrieb ("Die Schande von Afghanistan. Wir lassen die Helferinnen und Helfer der Bundeswehr ungeschützt zurück) , hat kaum eine/r sich aufgeregt. Auf Twitter z.B. - kein Thema! Jetzt sind aber alle ganz empört. Gefordert wird z.B. Aufnahme ALLER afghanischen Flüchtlinge in der EU SOFORT! (so und ähnlich).
Mich widert das an, wenn ich es lese. Denn nichts ist leichter, als solche Maximalforderungen zu erheben, ohne auch nur im geringsten aufzeigen zu müssen, wie sie umgesetzt werden könnten. Wer solches schreibt oder verbreitet (ganz ähnlich wie vor einigen Jahren Sprüche wie "JEDE/R soll WILLKOMMEN sein" - siehe weiter unten: auch die Gefolgschaft der dort Genannten* also? Ernsthaft?) offenbart damit nur seine oder ihre Verantwortungslosigkeit. In doppeltem Sinne nämlich: als Gesinnung und faktisch. Wer tatsächlich Verantwortung trägt oder zu übernehmen bereit ist, wird sich niemals so undifferenziert äußern können und auch niemals so wohl und bequem in seiner moralischen Haut fühlen.
Verantwortung kann nämlich niemand unbegrenzt übernehmen. Es sind nicht zufällig oftmals dieselben Leute, die schon seit Jahren den sofortigen Abzug aus Afghanistan gefordert haben, die jetzt am allerempörtesten auftreten.
Wahr ist aber: Es sind bewaffnete Fallschirmjäger und die Luftwaffe, die Menschen aus Afghanistan evakuieren. Anders geht es auch gar nicht. Mit Mörderbanden kann man nicht unbewaffnet "ins Gespräch kommen". Die Lage in Afghanistan hat sich auch so entwickelt, weil wir (fast) alle und ich schließe mich da ausdrücklich ein, nicht bereit waren und sind, den Preis zu zahlen, den es gekostet hätte, nicht nur die Taliban außer Landes zu drängen, sondern die Mörder-, Vergewaltiger- und Folterer-Banden von Warlords wie Gulbuddin Hekmatyar*, Abdul Rashid Dostum* oder des allzeit wendebereiten Abdullah Abdullah* zu entwaffnen. Die stehen, wie man hört, auch jetzt wieder in den Startlöchern, für "Verhandlungen" mit den neuen Herrschaften. Schon vor 20 Jahren sagte mir eine Afghanin: "Wenn diese Leute weiter mitmischen und in den Provinzen das Sagen haben, kann es keinen grundlegenden Wandel geben."
Denn die Macht, liebe Friedensfreundinnen und - freunde, in Afghanistan und anderswo, ja, sie kommt eben doch aus den Gewehrläufen.
Insofern ist das Versagen des sogenannten "Westens" in Afghanistan unser aller Versagen. Es ist die Botschaft an die Welt, dass wir nicht bereit sind, für Menschenrechte zu kämpfen (und das heißt eben auch: zu töten und zu sterben). Den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben wir trotzdem einen politisch und militärisch halbherzigen Einsatz (den wir niemals Krieg nennen wollten) über mehr als 20 Jahre zugemutet, der unter ihnen Opfer gefordert hat, die unsere Gesellschaft sich öffentlich wahrzunehmen verweigert hat. Auch dessen haben wir uns schuldig gemacht.
"Wir" (der "Westen", die USA oder die Bundesregierung) tragen nicht die Verantwortung für alle Entwicklungen in Afghanistan. Das anzunehmen, wäre Hybris. Wir hätten das früher erkennen müssen, ja. Der Streit darüber ist verschüttete Milch. Wir könnten höchstens Lehren ziehen für andere Einsätze, deren Ziele wir klarer definieren müssen. (Die Verteidigung gegen die Ausbreitung des islamistischen Terrors halte ich grundsätzlich für ein legitimes und notwendiges Ziel.)
Gegenwärtig aber haben wir (als Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland) die unmissverständliche Verantwortung, alle, die im Auftrag unserer Regierung, im Auftrag regierungsnaher Organisationen oder deutsche NGOs oder für deutsche Medien tätig waren und ihre Familien zu evakuieren. Weil "wir" sie gefährdet haben. Darüber hinaus sollten wir versuchen, jenen, die sich für Menschenrechte und Demokratie exponiert haben (Medienschaffende, Künstlerinnen und Künstler, Frauenrechtlerinnen) eine Ausreise zu ermöglichen und ihnen Asyl anbieten. Das ist das, was wir im Moment vielleicht erreichen können. Alle unsere Anstrengungen sollten sich darauf konzentrieren.
Wir müssen unsere Regierung drängen, bürokratische Hürden abzubauen und wir dürfen die Amtsträger nicht schonen, die ihre Verantwortung bisher nicht oder nur unzureichend wahrgenommen haben.
Und das heißt auch: "Wir" werden uns nicht ganz so angenehm und moralisch integer fühlen können, wie es die Maximalforderer sich wünschen. Es werden nicht ALLE ausgeflogen werden können, die das wünschen, sondern diejenigen, die "wir" gewissermaßen "auswählen". Denn das Zeitfenster und die Kapazitäten sind knapp. Die Alternative dazu wäre nämlich, jene an Bord der wenigen Kabul verlassenden Flugzeuge zu lassen, die sich am ehesten gegen andere körperlich durchsetzen können.
An der Stelle jener Beamtinnen und Beamten, Soldatinnen und Soldaten, die diese Aufgabe jetzt in Kabul übernehmen, möchten wohl nicht viele sein. (Ich denke, am wenigsten die, die jetzt das Maul am weitesten aufreißen.)
Mein Dank gilt den Soldatinnen und Soldaten der Luftwaffe, die die Flüge organisieren und durchführen, den Einsatztruppen der Fallschirmjäger, die den Zugang zum Flughafen ermöglichen und den wenigen verbliebenen Mitarbeiter_innen des Außenministeriums in Kabul. Sie übernehmen Verantwortung. Beschränkt. Begrenzt. Wo und wie es möglich ist.
Über ihre politischen Vorgesetzten kann man das nicht sagen. Über die empörungsgeile und selbstgerechte Gesellschaft, in deren Dienst sie stehen, leider eben so wenig.
Donnerstag, 1. Juli 2021
Die Schande von Afghanistan - Wir lassen die Helferinnen und Helfer der Bundeswehr ungeschützt zurück
Die Bundeswehr ist raus aus Afghanistan. Das letzte Transportflugzeug hat Masar-i-Sharif verlassen. Vor den Toren der Stadt stehen die Taliban. Im Norden Afghanistan rücken die radikalen Islamisten von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt vor.
Die Twitter-Blase:schweigt. Schweigt dröhnend. Nichts zu hören von den allzeit Empörten, den Seenotrettern, den Seebrücke-Bauern, den RefugeesWelcome-Verzückten. Nichts. Nichts. Nichts.
Die Bundeswehr, ob wir als je einzelne diesem Einsatz zugestimmt haben oder nicht, war in unserem Auftrag in Afghanistan. Im Auftrag des deutschen Volkes, entsandt als Parlamentsarmee. In unserem Auftrag hat sie afghanische Männer und Frauen rekrutiert, um sie bei ihren Einsätzen zu unterstützen, als Lotsen, als Übersetzerinnen, als Ingenieurinnen, als Ärzte, als Pflegerinnen, als Verwaltungsangestellte. Alle diese Menschen, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, und ihre Familie müssen jetzt um ihr Leben fürchten. Können nachts nicht schlafen aus Angst vor der Rache der Taliban.
An Bord der letzten Flieger waren keine Afghaninnen und Afghanen. Das Bundesaußenministerium verspricht Visa. Wann? In der Bundesrepublik schämt man sich offensichtlich nicht, diese Frauen und Männer und ihre Familien zurückzulassen. Man spricht nicht einmal über diese bodenlose Verantwortungslosigkeit. Dass wir diese Menschen und ihre Familien nicht mit ausgeflogen haben, ist ein Verbrechen. Eines aber, das hier auf kaum einer Seele zu lasten scheint.
Dieses Schweigen dröhnt. Und schmerzt.
Zugleich bestätigt es mich in der Wahrnehmung, dass die grenzenlose Ausdehnung der Verantwortung von allen für alle letztlich in die Verantwortungslosigkeit führt. Man nimmt sich als verantwortlich wahr, wo es genehm ist, d.h. wo es moralische Distinkionsgewinne gegenüber politischen Gegnern einzustreichen gilt: Ertrinkende im Mittelmeer - unbedingt, Verdurstende in der Sahel-Zone - ein wenig, Bürgerkriegs-Tote in Syrien - etwas, Bürgerkriegs-Tote im Jemen - fast gar nicht. Und so fort. Die völlig überdehnte Verantwortungsbehauptung ermöglicht es, sich moralisch überlegen zu fühlen und gleichzeitig nie in die Pflicht genommen zu werden. Man hilft, wenn man will, und klagt an, wen man will, aber es gibt keine Zuständigkeiten.
Für die Helferinnen und Helfer der Bundeswehr in Afghanistan aber sind wir zuständig. Diese aus der Gefahr, in die wir sie gebracht haben, zu retten, wäre keine Bonus-Tat, für die man sich selbst belobigen könnte. Es wäre schlicht unsere Pflicht.
Aber Pflichten anerkennen wir nicht.
Die Schande von Afghanistan - sie wird auf uns als Gesellschaft lasten.
Manche Soldatin, mancher Soldat wird in den kommenden Monaten und Jahren erfahren, dass ihre treuen afghanischen Kameradinnen und Kameraden gefoltert und getötet wurden. Auch mit diesem Trauma, da muss man keine Hellseherin sein, werden wir als Gesellschaft sie allein lassen.
Unser Außenminister (- oder -ministerin, falls es dann eine Frau sein wird), wird sicher ihrer "Besorgnis" Ausdruck verleihen, wenn der Vormarsch der Taliban weitergeht. Vielleicht werden auch einige wenige rechtzeitig in den Genuss der "großzügigen" Visa kommen.
Aber: Ein Aufschrei wird ausbleiben. Keine Empörung, nirgends. Frau Emcke wird keine Rede halten, wetten?