Montag, 18. März 2024

DORNBUSCH. Ein Frankfurt-Krimi von Jan und Jutta Pivecka

Der Amazing und ich schrieben zusammen einen Frankfurt-Krimi.

Langjährige Leserinnen und Leser erinnern sich: "Amazing" ist mein älterer Sohn. (Siehe auch, in freilich notwendig verfremdeter Form unter "Artgerechte Männerhaltung". Sein jüngerer Bruder ist in diesem Blog als "Mastermind" bekannt.). Dieses Blog, wie auch das Schwester-Blog "MelusinefeaturingArmgard", entstand, nicht ganz zufällig, als der Amazing für ein halbes Jahr ans andere Ende der Welt ging, nach Neuseeland. Und die verlassene Mutter begann, sich "in diesem Internet" zu tummeln, Social Media zu nutzen und eben: zu bloggen. Wonach sich das verselbstständigte und alles, alles, alles fiktionalisiert wurde. Es gab ein Leben als Bloggerin Melusine und ein anderes, mit Spiegelungen, Verzerrungen und Fantastereien. 

Aus dem Bloggen heraus entstand der Blog-Roman "Punk Pygmalion", der 2014 bei etk-Books veröffentlicht wurde. Und viele Begegnungen, Bekanntschaften, ja Freundschaften, die aus der digitalen Welt herüberschwappten in die analoge, dort eine andere Gestalt annahmen und sich teilweise auch vollständig von dieser lösten. 

Prioritäten verschieben sich, das Älterwerden, damit verbundene körperliche Einschränkungen und seelische Verwundungen führt zu Energieverlusten, Zeiträume, um aufzutanken, werden länger, auch die beruflichen Belastungen werden anders empfunden, schmerzhafter und sinnloser, die Kommunikation in "diesem Internet" zusehends hässlicher, die kleine, feine Blogger-Welt zusehends leerer, stiller. So auch hier, bei den Gleisbauarbeiten. 

Die Hoffnungen, dass eine neue Form von Öffentlichkeit entstehen möge, zerschlugen sich, zumindest für mich, ja, in vielerlei Hinsicht verwandelten sie sich in einen Alptraum. Dass eine ihre fiktive Welt braucht und in ihr lebt, das hat sich nicht geändert, wie sich das aber ausdrücken soll, wo "alternative Wahrheiten" Furore machen und Demokratien ins Wanken bringen, das ist noch nicht heraus. Sie, die das schreibt, liest also (wieder) Popper. 

Der ***Amazing*** und ***ich*** also schrieben einen Krimi. Ganz klassisch. Ganz schlicht. "Realistisch" fast, ohne jede Fantastik. Eine faszinierende Erfahrung: Gemeinsam schreiben. Hätte ich gar nicht für möglich gehalten, wie das  - und wie gut - gehen kann. Stritten uns auch über Formulierungen und Charaktere, Plot-Wendungen und mehr. Jetzt ist er fertig. Und wir planen Fortsetzungen. Die Frankfurter Stadtviertel hindurch. 






DORNBUSCH

Unser Ermittler-Team aus der missmutigen Kerstin Semmelroth, einer Mittfünfzigerin, und dem ehrgeizigen Finn Martins, der Anfang 30 ist, muss sich am ersten gemeinsamen Arbeitstag zusammenraufen, um den Mord an der Rentnerin Gertrude Pander zu klären, die in ihrer Parterre-Wohnung im Frankfurter Stadtteil Dornbusch erschlagen worden ist. Sie finden heraus, dass nur ein Mitglied der Hausgemeinschaft den Mord begangen haben kann. Treppauf, treppab lernen sie die Mietparteien kennen: ein homosexuelles Paar aus dem Bildungsbürgertum, einen rechtsradikalen, verwahrlosten Incel, nette WG-Bewohner, einen Zahnarzt, der Schmerzmittel nimmt, den Sohn des Opfers, der ehemals eine große Hoffnung der Frankfurter Eintracht war, einen hektischen Agility Manager, eine Altergenossin der Semmelroth, die von Beruf geschieden ist und den schweigsamen Alper Özdemir, der alles im Haus mitbekommt. 

Was soll ich sagen? Unsere Ermittler lösen den Fall in Rekordzeit, weil Semmelroth verbissen und gemein ist und Martins sich geduldig an ihre Fersen heftet. 


Ab heute über all im Buchhandel und als E-Book.

Dornbusch

Der erste Fall für Semmelroth und Martins. Ein Frankfurt-Krimi

Paperback

234 Seiten

ISBN-13: 9783758325946

https://buchshop.bod.de/dornbusch-jan-pivecka-9783758325946

https://www.amazon.de/dp/B0CY9HL6TK/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=1WYGTA0LUS1I8&dib=eyJ2IjoiMSJ9.fVoYcLjx2sI4guObPTFqBcjBSfWw7mr01fMOte2bcrHaMIUqgZ_zRwHwO6jMQxy1.Bxu4YcGmbGXywTp4HQglrI9HYV2RKRlMLEwY-J6US40&dib_tag=se&keywords=pivecka&qid=1710752357&sprefix=pivecka%2Caps%2C93&sr=8-1







Samstag, 21. Oktober 2023

AM ISRAEL CHAI - Das Buch zur Stunde ist Cordelia Edvardsons "Gebranntes Kind sucht das Feuer"






Mehr als 20 Jahre war Cordelia Edvardsons Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ nicht in deutscher Sprache verfügbar. Daniel Kehlmann und der Hanser Verlag haben dafür gesorgt, dass es nun wieder gelesen werden kann. Dafür gebührt ihnen Dank. Denn dieses Buch muss gelesen werden. In Deutschland, gerade jetzt, denn: "Nie wieder "ist jetzt!


Am 7. Oktober 2023 verübten palästinensische Hamas-Terroristen ein grausames Massaker an fröhlich und friedlich feiernden israelischen Ravern, an israelischen Familien, an Holocaust-Überlebenden; sie folterten Eltern vor ihren Kindern und Kinder vor ihren Eltern, sie vergewaltigten jüdische Frauen, sie ermordeten über 1400 Menschen, verschleppten mehr als 200 Menschen als Geiseln und verletzten weitere Tausende. Dies war das schlimmste Pogrom gegen Juden seit der Shoa. 


Am Israel Chai“ - das Volk Israel lebt, so endet die Holocaust-Überlebende Cordelia Edvardson ihren 1983 erschienenen autobiographischen Roman. Die letzten Seiten beschreiben Szenen aus dem Yom-Kippur-Krieg. Aus personaler Erzählperspektive erlebt die Protagonistin die Bedrohung der Existenz des einzigen jüdischen Staates auf der Welt: „Die Überlebenden kehrten zur einzigen Lebensform zurück, der einzigen Aufgabe und Herausforderung, die sie beherrschten - dem Überlebenskampf. Aber, so spürte sie, hier standen sich Menschen und die Vernichtung als Gegner gegenüber, der Ausgang stand noch nicht fest, nicht diesmal. Dies war ein unverfälschtes Spiel; wenn die Vernichtung gewann, lag es nicht daran, dass die Opfer gelähmt und versteinert waren angesichts des Wildtieres, das sie zu ihrem eigenen Untergang beigetragen hatten. Diesmal hatte die Bedrohung menschliches Gesicht, das Gesicht des Feindes. Sie musste bekämpft, konnte vielleicht besiegt werden, aber auch erkannt und geachtet. Deshalb, und nur deshalb, in Widerstand und Achtung, erlangten die Überlebenden auch die Selbstachtung wieder. Sie würden nicht bereitwillig ihr eigenes Grab schaufeln, würden die Toten der Feinde aber auch nicht den Füchsen und Hunden der Wüste überlassen.“ Diese Überlebende von Auschwitz will und wird nicht Opfer bleiben.


„Am Israel Chai“ - für Millionen Jüdinnen und Juden in aller Welt ist dies heute wieder die einzige Versicherung, die bleibt, während ihre Gotteshäuser angezündet werden und sie ihre jüdische Identität auf den Straßen von Berlin, London oder Paris verbergen müssen. Angesichts des Hasses, der jüdischen Menschen entgegenschlägt, angesichts des Vernichtungswillens, der sich gegen sie richtet, angesichts des Antisemitismus´, der sich als „Israelkritik“ stets nur unzureichend tarnt (ein Sprachgebrauch, der selbstentlarvend ist, denn von „Algerienkritik“ oder „Chinakritik“ hat noch keine je gehört), kämpfen Jüdinnen und Juden gegenwärtig wieder um ihr Existenzrecht Wer je in Anerkennung der deutschen Verbrechen gegen die europäischen Juden geschworen hat: „Nie wieder“, der muss in diesem Kampf an ihrer Seite, an Israels Seite stehen. 


Cordelia Edvardsons „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ erzählt ihre eigene Geschichte und doch ist es ein Roman, weil sie für diese furchtbare Geschichte eine literarische Form findet; eine beinahe unbegreifliche  Leistung, angesichts dessen, was sie zu erzählen hat. Edvardson will ein Zeugnis des Holocausts vorlegen, das den Leserinnen keine entlastende Identifikation erlaubt, die nur zu leicht in weinerliches Selbstmitleid mündet: „Sie sollten nicht über sie weinen dürfen, so wie sie über Anne Franks Tagebuch schluchzten. Dieses typische Mädchentagebuch, das so gnädig endet, als die Henker die Tür zur geschützten Welt von Anne und ihren Eltern eintreten. Ja, trotz allem geschützt, auch wenn sich die Geborgenheit als so verräterisch erweist wie eine über Nacht entstandene Eisschicht. Doch das Tagebuch endet, als das Eis bricht, worauf Annes altkluge und ach so versöhnliche Überlegungen im Würgegriff der Furcht erstickt und von einem Gewehrkolbenschlag auf den Mund zum Verstummen gebracht werden.“ 


Was Edvardson sich hier vornimmt, gelingt ihr mit diesem Roman. Wahrscheinlich ist dies der Grund dafür, dass Edvardson Roman in Deutschland kein Erfolg war. Denn sie erlaubt es den Nachfahren der Mörder nicht, sich mit dem Opfer zu identifizieren und versöhnlich ein „Allgemeinmenschliches“ zu beschwören, in dem die den Opfern von den Tätern teilweise aufgezwungene jüdische Identität wieder ganz verschwindet. Den Zorn der Überlebenden, „der zur Angst des Lebens wird“, erspart Edvardson ihren Leserinnen nicht. Die Last als Überlebende die Toten für alle Zeit mittragen zu müssen, kann eben kein Mitgefühl lindern: „3709 würde nicht vergessen werden, nicht ganz vernichtet, nicht solange A3709 lebte und atmete, wenn auch nur mit Mühe. Danach würde das Leben des Mädchens nie allein sein eigenes sein, eine andere hatte teil daran,´jetzt und in der Stunde unseres Todes´.“ 


Die Stimme dieses Romans will nicht Rührung erzeugen. Die Leserinnen sollen sich dem mitleidlosen Grauen stellen: Wie es ist in Mengeles Büro zu arbeiten, fast verhungert, und die Nummern aufzuschreiben, „exakt und ordentlich“, derer, die gemordet werden sollen. „Ein neuer Arm, die schlaffe runzelige Haut einer alten Frau. Eine wimmernde, flehende Stimme: ´Bitte Fräulein, schreiben Sie, dass mein Mann arisch war, ganz arisch! Das Mädchen blickt auf und sieht, sieht in das Gesicht seiner Großmutter. Natürlich kann sie es nicht sein, die Großmutter ist schon vor einigen Jahren gestorben…Und dennoch weiß sie, dass es ihre Großmutter ist, die sie ermordet, als sie sorgfältig die Nummer notiert. Sieht Mengele sie? Sieht die Mutter sie? In wessen Auftrag handelt sie?“


Edvardson berichtet nüchtern, kalt. Was geschah. Wie es geschah. Wie die ausgemergelten Körper aussahen. Wie sie einander halfen und verrieten in den Baracken. Wie die Stiefel der Mörder glänzten. Wie das Morden bürokratisch verwaltet wurde. Diese Autorin macht den Leserinnen nicht das Geschenk des Vertrauens auf ihr Mitgefühl oder ihre Bereitschaft für Jüdinnen und Juden zu kämpfen. Wer Edvardson Roman liest, muss und wird verstehen, warum der jüdische Staat, warum Israel für überlebende Jüdinnen und Juden eine notwendige Lebensversicherung ist und bleibt.


Edvardson wird als uneheliche Tochter der deutschen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer geboren. Ihr Vater ist der jüdische Staatsrechtler Hermann Heller. Das Kind wächst bei Mutter und Großmutter auf, beide streng katholisch. Auch Langgässer ist jedoch Halbjüdin, was später ihrer Tochter zum Verhängnis wird. Edvardson erzählt von der Hybris dieser teils naiven, teils narzisstischen Mutter, die glaubt und glauben will, das die Welt sich nach ihrem mythischen Vorstellungen richten wird. Die dem vaterlosen Kind alles ist, eine faszinierende Märchenerzählerin, unfassbar, unhaltbar, unerreichbar. Das Kind spürt früh, dass es anders ist, nicht zugehörig, ohne die Gründe zu begreifen. Es nimmt es auf sich, die Mutter nie zu belasten. Langgässer wird sich lange betrügen über die wahre Natur der faschistischen Bewegung. Als es zu spät ist, will sie die Tochter doch noch schützen, indem sie eine Adoption durch ein spanisches Ehepaar arrangiert. Als Ausländerin hätte Cordelia nicht deportiert werden können. Tochter und Mutter werden von der Gestapo zum Verhör zitiert. Das Mädchen soll eine Erklärung unterschreiben: „Das Dokument erwies sich als eine Erklärung im Namen des Mädchens, der zufolge sie die doppelte Staatsbürgerschaft akzeptierte und auf diese Weise die deutsche neben der spanischen behielt und gleichzeitig freiwillig der Anwendung des deutschen Gesetzes inklusive der Rassengesetze, auf ihre Person zustimmte. Dies beinhaltete auch das Tragen des Judensterns und einen eventuellen künftigen Abtransport in den Osten. Die Tochter blickte unsicher zu ihrer Mutter hinüber und begegnete einer weißen Maske, in der ein viel zu roter Mund wie eine Wunde leuchtete. Von der Mutter konnte sie sich in diesem Moment keine Unterstützung erwarten, verstand das Mädchen…“.  Die Tochter unterschreibt schließlich, als der Beamte damit droht, ansonsten die Mutter wegen der arrangierten Adoption zu belangen.


Als die Überlebende von Auschwitz in Schweden in Sicherheit ist, dauert es mehr als ein Jahr, bis sie Kontakt zur Mutter aufnimmt. Edvardson verzichtet in ihrem autobiographischen Roman darauf, den Verrat der Mutter zu verurteilen. Es genügt eine einzige Passage, um Langgässers Hybris auch nach dem Ende des Krieges zu bezeugen: „Jahr für Jahr versteckte die junge Frau ihren wilden Zorn, er füllte sie aus, er erstickte sie fast, aber sie lernten sich nie kennen, die Frau und ihr Zorn. Er war zu überwältigend, als dass sie es gewagt hätte, ihm entgegenzutreten, er hätte sie gesprengt und wäre zu einem blitzenden Messer geworden für den Stoß ins Herz der Mutter. Den Muttermord wagte sie nicht. Er hätte auch Cordelia vernichtet, die Auserwählte, die Auserkorene, die ihren Treueschwur hielt. Die Mutter schrieb einem Brief an ihre Tochter in Schweden. Sie arbeite an einem neuen Roman, schrieb sie, darin komme eine junge Frau vor, die in Auschwitz gewesen sei, eine Überlebende. Es sei wichtig, dass die Details in der Erinnerung der jungen Frau stimmten, denn dann sei sie, die Mutter, in der Lage, sie nachzudichten. Ob die Tochter ihr schreiben und von ihrem Alltag in Auschwitz erzählen könne.“ Langgässers Roman wurde tatsächlich geschrieben, lesenswert ist das nicht, weil unangemessen in jedem Wort und Satz. 


Edvardson Darstellung bleibt nicht dabei stehen, Worte für das Leid, den Schmerz, die Verzweiflung zu finden, sondern vor allem auch für das Überleben. Dem Buch der Mutter bescheinigt sie,„vom Feuer“ zu sprechen, aber über „die Asche“ zu schweigen. Dass die Überlebenden nicht einfach weiterleben können unter den anderen, auch davon erzählt Cordelia Edvardson in diesem schmalen Band, der in der Print-Ausgabe nicht einmal 150 Seiten hat. In Schweden kann die Protagonistin keine Wurzeln schlagen. Für eine Überlebende war es ein gutes Land gewesen. Es war da gewesen und hatte seine Kühle und seine Ruhe angeboten, aber es hatte sich nie aufgedrängt, hatte das Schweigen der Überlebenden nie herausgefordert, nichts verlangt…In so viel Unschuld konnte sie nur schwer atmen und verstand, dass sie aufbrechen musste.“ 


Der dritte und letzte Teil des Romans trägt den Titel „Am Israel Chai“. Er spielt in Israel, wohin auch die Autorin Cordelia Edvardson als Journalistin zog. „In diesem Land sind wir besessen vom Tod, hat einmal jemand gesagt. Das stimmt, dachte sie, die Denkmäler und Monumente zu Ehren unserer toten Helden und Märtyrer sind über das ganze Land verstreut, und in der Landschaft, im Tal von Avalon, auf dem Berg Gilboa und in der Wüste Juda, sind unsere Aufstände, unsere Siege und Niederlagen gegenwärtig. Doch sind wir auch davon besessen, Überlebende zu sein, verkohltes Holz, das aus dem Feuer gezogen wurde, Augen, die ständig tränen vom beißenden Rauch. Wird sind Jäger und Gejagte, erbarmungslos hetzen wir uns aus unserem Bau. ´Hepp, hepp, Jude, spring.´ Wir springen, deshalb leben wir. Wir holen uns selbst ein und zerreißen uns, deshalb leben wir. Wir spüren, wie der Boden unter unseren Füßen nachgibt, und treten noch einen Schritt auf den Abgrund zu, deshalb leben wir.“


Am Israel Chai.


Cordelia Edvardson Buch ist zur rechten Zeit wieder aufgelegt wurden. Es sollte Pflichtlektüre in deutschen Schulen sein. „Nie wieder“ kann nur heißen, solidarisch an der Seite Israels zu stehen. Jetzt!



Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer,  Hanser Verlag


Der Zentralrat der Juden in Deutschland ruft zu Spenden zur Unterstützung der Israel Defence Force auf: https://www.zentralratderjuden.de/aktuelle-meldung/artikel/news/unterstuetzung-israelischer-soldaten/

Freitag, 14. April 2023

Hossa! - Homosexualität begründet keine (politische) Identität, sondern ist eine sexuelle Orientierung. Über Rosa v. Praunheims Film "Rex Gildo - der letzte Tanz"

Gestern Abend sah ich zufällig in der ARD-Mediathek Rosa von Praunheims Semi-Dokumentar-Film „Rex Gildo-Der letzte Tanz“. Als Film hat er mir nicht gefallen: zu viel aufgesetztes, teilweise fast albernes (Laien-)Spieltheater (aber hallo, Achtung, Achtung: Verfremdungseffekt!), zu viel Behauptung statt Annäherung durch eine - aus meiner Sicht - wenig reflektierte Verbindung von Spielszenen mit Interviews und Originalaufnahmen. Wer Rex Gildo war, was ihn als Sänger, Schauspieler und Animateur antrieb, wie er liebte, was ihn beschäftigte, das interessierte den Filmemacher nicht genug, um auch Ambivalenzen aufzugreifen und weiter nachzuhaken. Der Mensch Rex Gildo blieb flach, eindimensional in diesem Film, erschien als ein bloß eitler, naiver und applaussüchtiger Schönling. Vielleicht war er das (auch). 

Dennoch hat der Film mich sehr berührt. Denn mit Verve vertritt er die These, dass die Verfolgung und Diskriminierung der Homosexuellen in der Bundesrepublik der 60er, 70er und 80er Jahre, der verinnerlichte Zwang zur Verheimlichung und Täuschung Rex Gildos Leben zerstört hat. Und diese These ist wahr. Sie ist wahr weit über das Einzelschicksal Ludwig Franz Hirtreiters, so Gildos bürgerlicher Name, hinaus. Diese Wahrheit traf mich, weil sie mein eigenes Leben betrifft, denn ich habe in diesen Zeiten gelebt, bin in diesen Zeiten erwachsen geworden. Und zu dieser Wahrheit gehört, dass auch meine Ignoranz und meine Unwissenheit in der Jugend zu Verletzungen und Ausgrenzungen beigetragen hat. 

Wo ich aufgewachsen bin, in Mittelhessen, auf dem Land, in einem evangelischen, teils gar evangelikalen Umfeld wurde über Homosexualität nicht gesprochen. Ich kann mich aus meiner Kindheit nicht an ein einziges Mal erinnern. Wohl aber darüber, dass vielsagend (beziehungsweise für mich als Kind nichtssagend) gerätselt und der Kopf geschüttelt wurde, wenn über unverheiratete Männer (seltener Frauen) getratscht worden ist. Dass einige dieser Alleinstehenden vielleicht gerne eine nicht-heterosexuelle Liebe offen gelebt hätten, verstehe ich erst jetzt, aus der Rückschau. Männliches Desinteresse an Frauen wurde dabei öfter thematisiert als umgekehrt fehlendes Interesse der unverheirateten „Fräuleins“ an Männern. Auch war es für Frauen offenbar leichter mit einer anderen Frau zusammenzuleben, ohne verurteilt zu werden. Dennoch mussten auch diese Frauen sich tarnen, konnten ihre Beziehung nicht offen als Partnerschaft leben. Als meine Kinderärztin Dr. Irmgard von Lemmers-Danforth 1984 (das war das Jahr, in dem ich Abitur machte) starb, bezeichnete Hildegard Pletsch sich in der Todesanzeige als ihre Lebensgefährtin. Das wurde mit gespieltem Erstaunen und teilweise auch mit Empörung wahrgenommen. Die Wetzlarerinnen und Wetzlarer hatten es über Jahrzehnte vorgezogen, Frau Pletsch als die Haushälterin der Lemmers-Danforth zu betrachten. 

Rex Gildo gab seinen langjährigen Lebensgefährten Fred Miekley als „Onkel Fred“ aus. In Praunheims Film bestätigen Conny Froboess, Gitte Haenning und viele andere, die mit Gildo arbeiteten, sie hätten immer gewusst, dass er homosexuell sei und in einer Liebesbeziehung mit Miekley lebe. Dennoch hat er offenbar selbst mit engsten Freunden nicht über die wahre Natur seiner Beziehung gesprochen, hat er selbst gegenüber Nahestehenden im Gespräch an der Illusion festgehalten, er heirate seine Cousine aus Liebe und nicht, um sich zu tarnen. Ein ganzes Leben als Täuschung, selbst noch im heimischen Landhaus gegenüber der Haushälterin. So wie Rex Gildo mussten viele Homosexuelle in meiner Jugend ihr Liebesleben verbergen, konnten ihre Partner nicht offen als solche bezeichnen und in ihren Familien vorstellen. Das hat sie erpressbar gemacht und unter ständigen Druck gesetzt. Nicht wenige hatten die Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit ihres Umfelds zudem verinnerlicht, zumal in religiös geprägten Kreisen, machten sich selbst Vorwürfe und fühlten sich schuldig. 

Die Bundesrepublik Deutschland hat den von den Nazis geschaffenen Paragraphen 175, der Homosexualität unter Strafe stellt, erst 1994 (im Geburtsjahr meines ersten Sohnes) abgeschafft. Noch in den 80er Jahren hetzte der CSU-Politiker Gauweiler gegen Schwule, indem er AIDs als „Schwulen-Pest“ bezeichnete und versprach sich davon Stimmengewinne. Ich war ignorant. Dass es in meinem unmittelbaren Umfeld Männer gab, die Männer liebten, und Frauen, die Frauen liebten, habe ich erst in Studienzeiten wahrgenommen. Dabei gab es diese Männer und Frauen auch in meinem Heimatort, in meiner Schulklasse, aber ich war viel zu beschäftigt mit meine eigenen Identitätsfindung, um mir Gedanken darüber zu machen. Gauweilers häßliche Ausfälle allerdings haben mich sofort angewidert. Im Studium war ich dann befreundet mit Schwulen und Lesben, die offen ihre Beziehungen lebten, aber ich bekam auch mit, wie schwierig es für einige von ihnen blieb, sich gegenüber Familie und Herkunftsumfeld zu erklären. Manche konnten ihre Partnerinnen und Partner nie den Eltern vorstellen. Manche rebellierten und brachen den Kontakt ab, manche schwiegen um des lieben Friedens willen. 

Aber für viele änderte sich doch langsam etwas. Eltern begriffen, dass sie ihre Kinder verlieren würden und lernten tolerant zu sein. Ja, ich weiß, Toleranz genügt nicht, Akzeptanz ist nötig. Aber Toleranz war ein Anfang. Sie lernten die Partnerinnen und Partner ihrer Kinder kennen und viele Familien öffneten sich. In meinem Umfeld schien das für Väter schwieriger als für Mütter zu sein, aber vielleicht war das Zufall. Immer öfter erzählte auch meine Mutter von dieser oder jener Freundin, deren Tochter oder Sohn ihre gleichgeschlechtlichen Lebenspartner mit zum Weihnachtsessen brachte. Sie fand das schön. Sie hatte schon die Todesanzeige von Hildegard Pletsch mutig und gut gefunden. 

Rosa von Praunheim hatte u.a. mit seinem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ (1971) keinen geringen Anteil daran, die Kriminalisierung und Diskriminierung von Homosexuellen in der Bundesrepublik zu bekämpfen. Rosa von Praunheim ist immer dafür eingetreten, dass Homosexuelle sich offen zu ihrer Sexualität bekennen. Das „Können“ am Ende dieses Satzes fehlt nicht zufällig. Denn unvergessen bleibt auch, dass von Praunheim Kollegen öffentlich outete, ohne ihr Einverständnis einzuholen. Die Lesben- und Schwulenbewegung war für ihn eine politische Bewegung, der es nicht nur um die Gleichberechtigung für homosexuelle Liebesbeziehungen gehen sollte, sondern um einen gesellschaftlichen Umbruch. Dafür meinte er die Homosexuellen in die Pflicht nehmen zu können. Ihre sexuelle Orientierung sollte ein politisches Bekenntnis werden. In „Rex Gildo - der letzte Tanz“ zeigt von Praunheim nackte Männer in einer Schwulen-Disco, die zu “Fiesta Mexicana“ tanzen. Im Off-Ton beklagt der Regisseur: „Rex Gildo schwieg dazu.“ 

In meinem Bekanntenkreis leben die meisten Lesben und Schwule in stabilen, langjährigen Zweierbeziehungen, nicht wenige sind verheiratet. Die meisten sind politisch liberal, manche linksliberal, einige auch konservativ. Ihr sexuelle Orientierung verstehen sie nicht als politisch. Dass sie sie offen leben können, ist ein Recht, das ihnen zusteht. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, wie sie zu anderen Themen stehen oder stehen sollten. Mit anderen Worten: Die sexuelle Orientierung begründet keine (politische) Identität. 

Der Kampf um Gleichberechtigung und Akzeptanz war nach meiner Auffassung genau deshalb erfolgreich, weil und insofern er es Schwulen und Lesben ermöglicht, ihr Liebesleben so offen zu führen wie jeder und jede Heterosexuelle auch, ohne dass sie deswegen Teil einer politischen Bewegung sein müssen. 

Er ist nicht zu Ende, dieser Kampf. Denn noch immer gibt es viele Bereiche, in denen Schwule und Lesben ihre sexuelle Orientierung lieber verbergen, vor allem gilt das für die Arbeitswelt außerhalb der Metropolen. An Schulen ist „schwul“ weiterhin ein Schimpfwort. Religiöse Eiferer glauben immer noch, sie hätten das Recht, die sexuelle Orientierung oder die einverständlichen sexuellen Praktiken anderer erwachsener Menschen miteinander zu verurteilen. Das gehört bekämpft, wo immer es auftritt. Aber weder Schwule noch Lesben, weder Transsexuelle noch Non-Binäre, weder Schwarze noch Muslime und Musliminnen sind ungefragt Subjekte irgendwelcher politischer (Identitäts-)Bewegungen.

Freitag, 28. Oktober 2022

SONST NICHTS. Über Najat El Hachmis Roman "Am Montag werden sie uns lieben"

In der Welt, in der Najat El Hachmis Ich-Erzählerin Naima aufwächst, müssen Mädchen und Frauen selbst um die Freiheit ihrer Träume kämpfen. Denn auch in die Träume schleichen sich die Zwänge ein, auch die Träume sind geprägt von den Forderungen der partriarchalischen, muslimisch-marokkanischen Einwandererkultur in einer Vorstadt von Barcelona und von den Idealbildern „westlicher“ Frauen aus der Werbung. Die Ich-Erzählerin des Romans führt Listen, wie sie sein wird, ab nächsten Montag, wie sie schlank sein wird, fleißig, gut, wie sie alle Pflichten erfüllen wird, diejenigen, die Mutter und Vater ihr auferlegen: eine gute Hausfrau und Mutter werden, kein Gerede verursachen, aber auch diejenigen, die sich selbst auferlegt: gut in der Schule sein, selbstständig werden, westlichen Schönheitsideale entsprechen. Sie will etwas wert sein. Ein Mädchen, eine Frau, hat immer einen Preis in dieser Welt: „Je umworbener eine junge Frau war, desto höher stieg ihr Preis.“ Den Preis legt das Interesse fest, das Männer an Frauen finden. Gleichzeitig ist umgekehrt jedes Interesse von jungen Frauen an Männern zutiefst verpönt. Es ist sind diese „Wert“-Vorstellungen, aus denen sich die Protagonistin befreien will durch Bildung und Arbeit. Sie idealisiert das Frauenbild der Mehrheitsgesellschaft und hofft sich diesem durch Diäten und Sport anzugleichen. Doch sie bleibt, gerade durch ihr verzweifeltes Bemühen, den Erwartungen zu genügen, in den Vorstellungen gefangen, aus denen sie sich befreien will. Die Versuche, den eigenen Wert zu steigern, machen unmöglich, was sie ersehnt: Um ihrer selbst willen geliebt zu werden. El Hachmis Roman ist als ein Brief konzipiert, ein Brief der Ich-Erzählerin an die geliebte Jugend-Freundin, mit der gemeinsam sie versucht hat, den beengenden Verhältnissen zu entkommen. Immer wieder wird das „Du“, die vermisste Freundin, angerufen, um die gemeinsame Geschichte zu beglaubigen, nachzuvollziehen, wie geschehen konnte, was ihnen geschehen ist, obwohl sie mutig waren,fleißig, strebsam, ideenreich. Die Freundin, als ganz junges Mädchen von den Eltern an einen gewalttätigen Cousin verheiratet, will nach der Scheidung eine echte Romanze erleben und verliebt sich in einen jungen Mann, der so ganz anders zu sein scheint, als die anderen Männer; der behauptet, ihre Eigenständigkeit zu achten. Sie macht eine Friseurlehre, träumt davon sich selbstständig zu machen mit einem Brautmodengeschäft oder später mit einem Süßigkeitenladen; sie hat erste kleine Erfolge, die ihr der Neid und das Gerede in der Siedlung zerstören, wird schnell schwanger. Auch die Ich-Erzählerin erlebt parallel ihre Liebesgeschichte mit einem jungen Mann, der verspricht, ihr Studium zu unterstützen. Die Sehnsucht danach, geliebt zu werden, treibt beide junge Frauen in frühe Ehen und frühe Schwangerschaften. Von den Männern werden sie bitter enttäuscht: „Das alte Lebensmodell unserer Eltern war zu bequem für sie, darauf würden sie nicht verzichten.´ Wir sind für sie der Hauptgewinn.´, sagtest du. ´Wir machen nicht nur alles, was unsere Mütter gemacht haben, wir schaffen außerdem noch das Geld ran, wir entbinden sie von jeder Verantwortung.“ Es wird offensichtlich, wie die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in der muslimischen Exilgemeinde und der sie umgebenden „modernen“ spanischen Welt vor allem zu Lasten der Frauen geht. Die muslimisch geprägte Community hält an der patriarchalischen sozialen Kontrolle der Frauen fest, schränkt die Bewegungsfreiheit der Mädchen massiv ein, während die Männer die Freiheiten dieser Welt in vollen Zügen genießen. Die „fortschrittlichsten“ unter ihnen nutzen die modernen Vorstellungen aus, um sich die Privilegien beider Welten zu sichern: sie verlangen die umfassenden Dienste der traditionellen Hausfrau und setzen zugleich auf die finanzielle Unabhängigkeit der berufstätigen Frau, der sie keinen Unterhalt mehr schulden. Hier zeigt der Roman jene Fehlentwicklungen durch einen missbrauchten Feminismus auf, wie sie z.B. auch durch das modernisierte Scheidungsrecht in Deutschland entstanden sind: Ohne eine gleichzeitige gerechte Verteilung der Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern ist die gerühmte „Eigenständigkeit“ durch Vollerwerbsarbeit nur eine Schimäre, die zur Verarmung und Überlastung von Frauen führt. El Hachmi erspart den Leserinnen und ihren Protagonistinnen nicht die Erkenntnis, wie sie selbst am Aufbau dieser Falle durch ihr gleichzeitiges Begehren nach Liebe und Gleichstellung mitgewirkt haben. Doch sind die Härten, denen El Hachmis weibliche Protagonistinnen ausgesetzt sind, wesentlich einschränkender, diskriminierender und verletzender als jene, mit denen auch „weiße“, säkulare Frauen konfrontiert sind. Die Autorin zeigt in aller Schärfe, wie die religiös begründeten traditionellen „Wertvorstellungen“ sich gegen die, vor allem auch sexuelle, Selbstbestimmung der Frauen richten. Dabei gibt es durchaus Differenzierungen. In den Familien der Freundinnen der Ich-Erzählerin herrschen etwas liberalere Sitten als unter der Faust ihres sich besonders fromm wähnenden Vaters, der freitags in der Moschee die Bestätigung erhält, dass seine gewalttätige Unterwerfung von Frau und Tochter nur zu deren Besten ist, ja es geradezu seine Pflicht sei, diese auf dem tugendhaften Weg zu halten. Die Mutter wird regelmäßig verprügelt vom Vater. Die Tochter kann dieser schwachen Mutter, die ihr nur heimlich hilft, lange nicht verzeihen. In die Phase ihrer Ablösung aus dem Elternhaus fällt der zunehmende Kopftuchzwang in der marokkanischen Einwanderer-Gemeinschaft. Die Kontrolle der Frauen, ihre besitzergreifende Markierung gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Umwelt, wird immer wichtiger in einer Zeit des zunehmenden Kontrollverlustes, wie ihn die schlecht ausgebildeten Väter und Ehemänner erleben. Die Ich-Erzählerin gewinnt literarische Preise und die Aufmerksamkeit einer „linken“, sich fortschrittlich und antirassistisch gebenden Öffentlichkeit. Doch sie erkennt auch schnell, was diese „Blase“ hören will: Exotische „Wüsten“-Geschichten und eine romantisierende Perspektive auf die kulturellen und religiösen Zwänge. Andere sind bereit, das zu liefern: „Es dauerte nicht lange, bis sie merkten, dass ich dafür nicht taugte, dass ich nichts Interessantes zu erzählen hatte. Und weil ja eine Mora wie die andere ist, luden sie stattdessen die Tochter der Parabòlica ein, und die gab ihnen, was sie wollten: ihr Staunen über die westliche Zivilisation als sie zum ersten Mal einen Schalter umgelegt habe und das Licht angegangen sei. Auch wiederholte sie beflissen, was die Scharlatane im Fernsehen sagten: dass die Frau im Islam besser geschützt sei und außerdem höher geachtet werde, denn der Ehemann sei verpflichtet, gut für sie zu sorgen - all diesen Quatsch, den du ja zu Genüge kennst. Und die Leute glaubten ihr, denn es war das, was sie hören wollten.“ En passant erledigt El Hachmis auch typische Mittelstandmythen westlich geprägter erschöpfter Teilzeitmütter, die sich nickend afrikanische Sprichwörter zuwerfen und vormoderne Gesellschaftsformen idealisieren: „Die Mütter aus der Schulklasse diskutierten über Erziehungsfragen und bewunderten afrikanische Gesellschaften, in denen sich für jedes Kind der ganze Stamm zuständig fühle. Ich war versucht ihnen zu sagen: Ihr wollt einen Stamm? Ich schenke euch meinen, in all seiner Liebenswürdigkeit - sollen sie euch wegsperren, euch unterwerfen. Eurem Nachwuchs dürft ihr euch widmen, selbstverständlich, aber sonst dürft ihr nichts. Sie werden ihr Möglichstes tun, euch eure Würde zu nehmen, so lange, bis ihr euch gar nicht mehr daran erinnert, dass ihr mal welche hattet. —-Natürlich sagte ich nicht, was hätte ich ihnen auch sagen sollen. Mir fehlte die Kraft.“ Nach und nach erschließt sich der Leserin, wie bedeutsam es ist, dass dieser Roman in der ungewöhnlichen „Du“-Form, als Brief an die Freundin, verfasst ist. Denn die Befreiungsgeschichte der beiden Freundinnen gelingt nur scheinbar. Sie trennen sich von ihren Ehemännern und ziehen zusammen in die Innenstadt Barcelonas. Die Freundin arbeitet in einem angesagten Friseursalon, die Ich-Erzählerin neben ihrem Studium bei einer sozialen Organisation, die Migrant_innen hilft. Während die Ich-Erzählerin ihr Kind bei sich behält und ständig zwischen Job, Studium und Sorge für das Kind überfordert ist, lässt die Freundin ihr Kind bei ihrer Mutter und entfremdet sich diesem immer mehr. Darunter leidet sie sehr, ohne darüber sprechen zu können. Sie bestraft sich selbst mit sexuellen Exzessen, während die Ich-Erzählerin versucht eine stabile Beziehung zu einem Dozenten aufzubauen. In einer Nacht kommt es schließlich auch zu sexueller Erfüllung zwischen den beiden Frauen, die sich seit Jahren ein Ehebett in der gemeinsamen Wohnung teilen. Doch es gelingt ihnen nicht, über diese Erfahrung zu sprechen. Die Freundinnen erkennen nicht oder erkennen zu spät, dass sie einander die Sehnsucht nach Liebe und Gleichberechtigung erfüllen können, so sehr sind auch ihre Träume von Zwängen geprägt, dass sie nicht in der anderen Frau erkennen können, was sie begehren: „Die tiefere Wahrheit unserer Geschichte war schlichter, als wir es uns vorstellten. Sie hatte nichts mit Kulturschock zu tun, mit Integration, mit Zwischen-zwei-Welten-Sein, mit all dem worüber wir uns den Kopf zerbrachen. Das Einzige, was wir wollten, war, geliebt zu werden. Einfach so, wie wie waren. Ohne uns zurecht zu stutzen oder anpassen und unterordnen zu müssen. Weder verhüllt noch ausgehungert, weder von tausend Nadeln durchstochen noch mit tausend Cremes zugekleistert, noch in enge Kleider gezwängt. Wir mit unseren Körpern, die wir selbst sind, mit unseren Köpfen, unseren Gedanken, unseren Gefühlen und unseren Wunden, den vernarbten und den offenen. Sonst nichts." Der Roman von Najat El Hachmi wurde zur Frankfurter Buchmesse in der deutschen Übersetzung vorgestellt. Ich kann ihn sehr empfehlen. Najat El Hachmi: Am Montag werden sie uns lieben, übersetzt von Michael Ebmeyer Orlanda Verlag Berlin, 2022 Euro 22

Sonntag, 12. Juni 2022

DIE GESÄNGE DER SARAH MALDOROR


Elisa Andrade als Maria in Sarah Maldorors "Sambizanga" (1972)

Unter diesem Titel findet zur Zeit in Frankfurt und Umgebung eine Filmreihe statt, die das Werk der französischen Regisseurin einem Publikum vorstellen soll, das dieses nicht (mehr, noch nicht?) kennt. Sarah Maldorors Vater stammte aus Guadeloupe, ihre Mutter war Französin. Den Vater, der früh in einer Psychiatrie verstarb, lernte Sarah jedoch kaum kennen. Sie wuchs in Gers auf. Später nahm sie den „Kampfnamen“ Maldoror an. Sie ging nach Paris und gründete die Theatergruppe „Griots“, in der ausschließlich schwarze Theatermacher wirkten. Dort traf sie auf Mario de Andrade, der aus Guinea stammte. Mit ihm zusammen engagierte sich Sarah Maldoror für die Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde. Die Begegnung mit dem afrikanischen Kontinent wurde zum einschneidende Erlebnis. In Moskau ließ sie sich zur Regisseurin ausbilden. Später lebten Andrade und Maldoror in Algerien. Algerien wurde in den 60er Jahren zur Heimat der jungen Familie und finanzierte auch das revolutionäre Kino, an dem Maldoror mit ihren Filmen mitwirken wollte. Ihre Filme thematisieren die kolonialen Befreiungskämpfe dieser Zeit, aber sie weichen ästhetisch und erzählerisch oft vom Genre des militanten Antikolonialismus-Kinos ab. Sarah Maldoror starb 2020 im Alter von 90 Jahren. 

Ich hatte Gelegenheit im Kino des Frankfurter DFF den Film „Sambizanga“ zu sehen, der 1972 entstand. „Sambizanga“ erzählt die Anfänge der angolanischen Befreiungsbewegung im Jahre 1961. (Sambizanga ist ein Viertel der angolanischen Bezirkshauptstadt Luanda). Der Film geht auf eine Erzählung des angolanischen Schriftstellers Vieira zurück, in der es um die Verhaftung, Folterung und den Tod des angolanischen Mechanikers Domingo Xavier im portugiesischen Polizeigewahrsam geht. In Frankfurt war bei der Vorführung des Films Sarah Maldorors Tochter Annouchka de Andrade anwesend. Sie arbeitet derzeit an der Restaurierung der Filme ihrer Mutter, um deren kinomatographisches Erbe zu sichern. 

Der Film beeindruckt vor allem durch seine visuelle und poetische Kraft. Annouchka de Andrade betont daher auch: „Zwar war sie Filmemacherin, Frau und Mutter, doch vor allem war Sarah ein von Grund auf poetischer Mensch.“ Anders als in der Erzählung steht im Film nicht vor allem Domingo Xavier im Mittelpunkt, sondern seine Frau Maria, die sich, nachdem Domingo von der portugiesischen Geheimpolizei verschleppt worden ist, aus der Provinz auf den Weg nach Luanda macht, um herauszufinden, was mit ihm geschehen ist. Der Weg der Frau zu Fuß auf verstaubten Straßen und durch den Dschungel, ihr Baby auf dem Rücken, wird zu einer Metapher für den Leidensweg des angolanischen Volkes, genauso sehr, wie die Qualen Domingos im Gefängnis, der für seine Weigerung, Kameraden der Bewegung zu verraten, von den portugiesischen Kolonialbeamten zu Tode geprügelt wird. Eine der berührendsten Szenen des Filmes ist jene, in der der Leichnam des gepeinigten Mannes zurück in die überbelegte Zelle gebracht wird. Die Insassen richten den toten Körper auf, tupfen das Blut von der Stirn des toten Kameraden und stimmen leise, aber schließlich immer kräftiger werdend ein angolanisches Volkslied an. Die Zärtlichkeit der Berührungen unter den Männern, die Sanftheit ihrer Trauer und die Entschlossenheit, mit der sie dem Toten die Würde zurückgeben, ist sorgfältig choreographiert. Die Kamera wechselt zwischen Nahaufnahmen, die die liebevollen Gesten der Männer, die Trauer in ihren Augen in den Blick nehmen, zu Totalen, die die Gemeinschaft umfangen und ihre Solidarität beschreiben. Der tiefe Eindruck, den diese Szene hinterlässt, steigert sich noch, wenn de Andrade nach der Vorführung erzählt, dass die Szene im Gefängnis in Brazzaville mit realen Gefangenen gedreht wurde. Der ganze Film wurde, überwiegend mit angolanischen Freiheitskämpfern als Laiendarstellern, in Brazzaville, der Hauptstadt des Kongo, gedreht, weil zur Zeit seiner Entstehung in Angola noch der Befreiungskampf gegen die portugiesische Besatzung stattfand.

Sarah Maldorors Film stellt nicht den bewaffneten Kampf in den Mittelpunkt und auch nicht das Terrorregime der portugiesischen Kolonialmacht (auch wenn die Darstellung der Folterszenen schwer zu ertragen ist), sondern das Alltagsleben und die Solidarität der angolanischen Bevölkerung. Nachdem Marias Mann gefangengenommen und abtransportiert worden ist, versammelt sich die Dorfgemeinschaft in ihrer Hütte, sie wird getröstet, in den Arm genommen, man bringt ihr Essen. Eine ältere Frau gibt ihr Ratschläge, wie sie ihren Mann wiederfinden kann. Als sie sich auf den Weg nach Luanda macht, begleiten sie die Frauen aus dem Dorf hinaus. In Luanda kommt sie mitten in der Nacht an, die Verwandten nehmen die erschöpfte Frau sofort auf, eine andere Frau stillt ihr hungriges Baby. Maldoror nimmt sich viel Zeit, Straßenszenen zu filmen, spielende Kinder, Frauen am Brunnen, Feiernde und Tanzende in Cafés. Parallel zu Marias Geschichte, ihren Mann wiederzufinden, wird erzählt, wie die Befreiungsbewegung zusammenarbeitet. Ein Junge sieht, wie der gefesselte Domingo in die Polizeiwache gebracht wird. Er unterrichtet seinen Großvater, der in einer Hängematte döst. „Old Half Ass“, wie die Kinder der Umgebung den alten Mann hänseln, bricht mit seinem Enkel humpelnd auf, um einen jungen Mann aus der Befreiungsbewegung zu informieren. Obwohl sie nicht wissen, wer der verhaftete Mann ist, fühlen sie alle sich verpflichtet, herauszufinden, um wen es sich handelt und was weiter mit ihm geschieht. Die Befreiungsbewegung wird von Maldoror vor allem als eine Bewegung der Solidarität dargestellt, des wechselseitigen Beistands, der gemeinsamen Sorge und unbedingten Hilfsbereitschaft. Selten habe ich im Kino so zärtliche Männer agieren sehen. 

Großartig ist auch die Szene, in der die Bewegung vom Tod Domingos im Gefängnis erfährt. Es wird ein Gartenlokal mit Lampions gezeigt, eine Band spielt rhythmische Tanzmusik, Stimmung ist ausgelassen, als der Junge und sein Großvater, die es zuerst erfahren haben, mit der Nachricht hinzukommen. Im Kreis stehen die Mitglieder der Bewegung, junge und alte, auf den Gesichtern, die nacheinander in langen Großaufnahmen gezeigt werden, spiegelt sich das Grauen und die Trauer wieder. Im Hintergrund aber läuft weiter das Fest, die Tanzmusik ist zu hören. Es ist ein langer Moment des Innehalten, doch dann entscheidet sich ein junger Schneider, den wir zuvor schon kennengelernt haben, auf die Bühne zu treten. Die Musik wird unterbrochen, er unterrichtet das Publikum vom Tod Domingo Xavier. Doch er schließt seine Rede damit, dass die Feier weitergehen müsse, denn das nächste Leben Domingo Xavier habe begonnen, sein Leben für die Befreiung Angolas. Die Band nimmt das Spiel wieder auf und es wird weitergetanzt. Der Film endet schließlich mit einem konspirativen Treffen, bei dem sich die Männer zum Auftakt des bewaffneten Aufstands verabreden.

Annoucka de Andrade erzählte nach der Vorführung im Frankfurter DFF, dass ihrer Mutter seinerzeit vorgeworfen worden sei, „unrealistische“ Afrikanerinnen und Afrikaner vorzuführen, sie seien zu gut aussehend, zu fröhlich, zu wenig Opfer. Doch genau dies sei das Anliegen ihrer Mutter gewesen: schwarze Menschen in ihrem Alltag zu zeigen, in ihren Gemeinschaften, beim Feiern und Singen und Trauern, beim Planen und Lernen und Hoffen. Das Wort, dass die Zuschauerinnen und Zuschauern in Frankfurt am häufigsten wählten, um zu beschreiben, wie der Film auf sie wirkte, war: Dignity/Würde. Sarah Maldoror sagte, nach Aussage ihrer Tochter, immer: „Wir sind verantwortlich, niemand anderer ist schuld.“ Das relativiert nicht die Schuld der Kolonialmächte, sondern beschreibt, so verstehe ich es, eine Haltung, die sich die Autorschaft über das eigene Leben nicht aus der Hand nehmen lässt. So erzählt Maldoror auch ihre Figuren: Zwar werden sie Opfer der Kolonialmacht, aber sie nehmen diese Opferrolle zu keinem Zeitpunkt an. Sie behaupten sich in ihrem Alltagsleben genauso, wie Domingo unter der Folter. Die Würde dieses Lebens in Gemeinschaft und Solidarität selbst ist Ausdruck des Widerstandes. Im Untertitel heißt die Filmreihe in Frankfurt: „Ein Kino der Nähe, der kollektiven Verantwortung und des Teilens“.

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Die Gesänge der Sarah Maldoror. Ein Kino der Nähe, der kollektiven Verantwortung und des Teilens, 10.-25. Juni 2022 im Kino des DFF, Kino CinéMayence im Institut Francais, Mainz und Open Air Kino in der Platenstiftung Frankfurt und im Juli im tba ada_hinterhof_kino, www.ada-kantine.org

Veranstaltet von Kinothek Asta Nielsen 

Programm: www.kinothek-asta-nielsen.de

Die Kinothek hat auch einen liebevoll gestalteten Reader zur Reihe herausgegeben, mit Interviews von Maldoror und ihren Töchtern.

Mittwoch, 4. Mai 2022

Die hyperbolischen, handgehäkelten, herrlichen Riffe der Wertheims in Baden-Baden

Crosspost von: https://www.bzw-weiterdenken.de/2022/05/die-hyperbolischen-handgehaekelten-herrlichen-riffe-der-wertheims-in-baden-baden/



Die Schwestern Christine und Margaret Wertheim (*1958 in Australien) verstehen ihre Häkel-Korallen-Riffe als „Wartungsarbeit“. Sie beziehen sich dabei auf die feministische Künstlerin Mierle Laderman Ukeles, die zwei verschiedene Arten von „Arbeit“ unterscheidet: „Entwicklung“ als rein individueller Schöpfungsakt und „Wartung“ als Bewahrung der individuellen Schöpfungen, um ihre Fortsetzung, Erneuerung und Erweiterung zu ermöglichen. 

Durch diesen Bezug auf die Traditionen feministischer Kunst stellen die Wertheims drei Aspekte ins Zentrum ihrer Arbeit: (1) das Sichtbarmachen bisher unsichtbar gebliebener Arbeiten und Kunstformen, (2) eine alternative Sicht auf das Verhältnis zwischen Kunst und Natur und (3) eine Intervention gegenüber den ökologisch zerstörerischen Praktiken der Gegenwartskultur. 

Das Baden-Baden-Riff wird dabei von den Wertheims als ein „Satellit-Riff“ zu ihren ersten gehäkelten Korallen-Riffen verstanden. Im Erdgeschoss in Baden-Baden sind diese Korallen-Riffe, die seit 2005 entstanden sind, ausgestellt. 2019 stellten die Wertheims ihr Crochet Coral Reef auch bei der Kunstbiennale in Venedig vor. Ein riesiges Forstgebiet aus Korallenwälder ist in Baden-Baden zu bestaunen, gehäkelt aus Videobändern, Lametta, verschiedenen Garnen, Absperrbändern, Reißverschlüssen, Kabelbindern. 

Einzelne Schaukästen geben Einblick in Pod Worlds, kleine Miniatur-Korallenwelten. Ein toxisches Riff aus überwiegend schwarzem Plastikmüll erhebt sich neben einem weißen Bleech Reef, das den Prozess der Ausbleichung nachbildet, dem die Korallenriffe in den Ozeanen zum Opfer fallen. An den Wänden finden sich Briefzuschriften von Kolloborateurinnen, die an den Riffen mitgewirkt haben, durch ein aufwendig besticktes Tuch werden Mitwirkende, darunter die Mutter der Wertheims, geehrt. Eine Sammlung der Etiketten der unterschiedlichen Garne, die verwendet wurden, dokumentiert, aus wievielen Teilen der Welt die Materialien für die Häkelriffe zusammengetragen wurden. Auf einer überdimensionierten Schultafel wird die hyperbolische Geometrie, die das Häkeln wie die Gestalt der Korallen beschreiben kann, der euklidischen Geometrie, die die meisten von uns in der Schule gelernt haben, gegenübergestellt. 

Die Betrachterin ist schon im Erdgeschoss überwältigt. Überwältig von der Vielfalt an Informationen, Eindrücken, Einblicken, vor allem aber von der Schönheit der hyperbolischen Formen und Farben, vom gewaltigen Überfluss des Wucherns der Unterwasserscheinwelten, die hier entworfen werden. Alle Aspekte, die den Wertheims wichtig sind, verbinden sich beim Betrachten:

-> die Idee von einer Kunst, die nicht den - meist männlich konnotierten - einzelnen „Schöpfer“ und sein "Werk" in den Mittelpunkt stellt, sondern das kollektive Arbeiten an Gemeinschaftswerken, und die nicht den geschlossenen „Werkcharakter“ ausstellt, sondern sich zu ihrer Umgebung in Beziehung setzt, die unmittelbar zugänglich ist für jederfrau; Anschlussfähigkeit sucht und herstellt zum Alltagsleben der Besucherinnen, zu den - meist weiblich konnotierten und als "Kunsthandwerk" abgetanen - Häkelarbeiten.

-> die Häkelriffe sind gleichermaßen traditionelle Mimesis, also „Nachbildung der Natur“ durch die Kunst, als auch deren Reflexion. Denn die Arbeit der Wertheims setzt nicht auf Illusion, sondern schließt an popkulturelle Praktiken der Übertreibung an. Die Präsentation macht den Prozess ihrer Gestaltung und die Verwendung nicht-natürlicher Materialien sichtbar. Die Häkelriffe, die auf die Gefährdung der natürlichen Riffe aufmerksam machen sollen, sind selber künstliche, d.h. menschliche Schöpfungen und erstellt mit eben jenen Materialien, die zur Vernichtung der natürlichen Riffe beitragen. In einer Pod World erwächst aus einer Müllplastikflasche ein neues, künstliches kleine Miniaturriff. 

-> die politische Intervention, die das Projekt sein will und ist, appelliert nicht billig an Moral und bietet keine simplen Lösungen für das ökologische Verhängnis an, auf das sie aufmerksam machen will. Die menschlichen Praktiken, die die Weltmeere verschmutzen und die Korallenriffe vernichten, die von Menschen hergestellten Materialien, die diesen Prozess auslösen, sind eben jene, die die Schönheit (auch die bisweilen schreckliche Schönheit) der Häkelriffe ermöglichen, sie recyceln diese Materialien, um etwas zu schaffen, was die Zerstörung - mindestens - für den Zeitraum eines Ausstellungsbesuchs - zu transzendieren scheint. 

Denn das ist die Dissonanz, denen die Häkelkorallenriffe der Wertheims, zumindest mich ausgesetzt haben: Sie wollen auf eine Tragödie aufmerksam machen, aber zugleich lösen sie Glücksgefühle aus, nämlich die Freude über das Gelingen des Gemeinschaftswerkes und über die überwältigende Schönheit der farbenfrohen Häkelarbeiten.

Im ersten Stock trifft die Besucherin auf das sagenhafte Baden-Baden-Riff, an dem über 4000 Beiträgerinnen, deren Namen an einer Wand aufgeführt sind, mitgehäkelt haben. Man kann sich kaum sattsehen an den vielen Details, die Christine Wertheim hier aus den eingesandten Häkelkorallenarbeitenzu Riffen zusammengestellt hat.  

Ich empfehle den Besuch der wunderbaren Ausstellung in Baden-Baden, die noch bis zum 26.Juni anzuschauen ist. 

Margaret und Christine Wertheim: „Wert und Wandel der Korallen“ im Museum Frieder Burda in Baden-Baden bis zum 26. Juni 2022

Dienstag, 26. April 2022

Sentimentale und sensible Schlächterseelen.


1983 war ich bei der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten. Ich war überzeugt, dass der NATO-Doppelbeschluss, durch den mit Atomwaffen bestückte Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden sollten, die Gefahr eines Atomkrieges heraufbeschwor. Nächtelang diskutierte ich das Thema mit meinem Vater, der mir 1:1 die Argumentation Helmut Schmidts vorhielt. Auch im Morgengrauen kamen wir noch zu keinem Konsens. Aber er fuhr mich dann zur Haltestelle des Busses nach Bonn. 

Unter meinen engeren Freunden haben fast alle den Wehrdienst verweigert. Die zur Bundeswehr gingen, berichteten von sinnlosen erscheinenden Manövern ("Fulda Gap") und nervtötenden Diensten. Anfang und Mitte der 80er Jahre prägte die Angst vor einem Atomkrieg meine Generation. In den Schulen erhielten wir Einweisungen des Katastrophenschutzes, wie wir uns im Falle eines Atombomben-Abwurfs zu verhalten hätten: in Ackerfurchen werfen und möglichst mit einer Folie bedecken, den atomwaffensicheren Bunker aufsuchen. Auf Nachfragen ("Woher Folie nehmen?", "Hier gibts keinen Bunker, wohin also?") reagierte das Personal gereizt. Uns blieb nach solchen Stunden die Gewissheit: Wenn es soweit kommt, gibt's kein Entrinnen. Am besten ist noch dran, wer sofort tot ist. 

Pazifistin war ich nicht. Ich weiß über mich, dass ich zurückschlagen will, wenn ich angegriffen werde und ich empfinde dabei keine Schuld. In den Diskussionen mit meinem Vater ging es nicht darum, auf Abschreckung durch Atomwaffen zu verzichten, sondern darum, welche Abschreckung funktioniert. Meine Position war vereinfacht: Je durchführbarer und begrenzbarer ein Atomkrieg erscheint, desto wahrscheinlicher wird er.  Deshalb müsse man auf totale Abschreckung setzen, was bedeute: Atomkrieg = totale Vernichtung beider Seiten. Mein Vater, auf der Linie Helmut Schmidts, argumentierte: Abschreckung werde unglaubwürdig, wenn sie  auf totale Vernichtung setze, der Gegner könne dann annehmen, dass man nicht zu antworten wage, wenn er "nur" Raketen mit kleinerer Sprengkraft und geringerer Reichweite einsetze. Daher: Man müsse auf demselben Level antworten können. 

Mein Vater (und Helmut Schmidt) hatten Recht. Denke ich heute. Abschreckung muss glaubwürdig sein. Nur dann funktioniert sie. (Olaf Scholz, indes, scheint das noch immer anders zu sehen.)

Nur wenige Jahre nach der Demonstration im Bonner Hofgarten brach die Sowjetunion zusammen. Schon unter dem Zarenreich kolonialisierte Völker erlangten die staatliche Selbstständigkeit. Russischstämmige wurden nicht selten unter fürchterlichen Umständen vertrieben. Im Westen nahm man davon nur wenig Notiz. Genauso wenig, wie man die Geschichte der Unterdrückung dieser Völker unter den Zaren oder später unter Stalin und unter deutscher Besatzung jemals wirklich zur Kenntnis genommen hatte. In Deutschland hat man sich bei der Aufarbeitung der eigenen verbrecherischen Geschichte immer nur auf eine Schuld gegenüber "Russland" bezogen. Ehemals dem Warschauer Pakt angehörenden Staaten drängten in den Folgejahren in die NATO. Für Litauen, Lettland, Estland, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, die ihre Erfahrungen mit sowjetischer Besatzung hatten, war dies die einzig vorstellbare Bestandsgarantie eigener staatlicher Souveränität. (Die europäischen Ex-Warschauer Pakt-Staaten, die nicht der NATO beitraten, sind seit Putins Machtübernahme systematisch destabilisiert worden: Georgien, Moldavien, Ukraine). Von westlicher Seite wurde eine "Sicherheitspartnerschaft" mit Russland angestrebt, ein neues Gleichgewicht, dass nicht mehr auf Abschreckung beruhen sollte.

Ich gebe zu: Von alledem bekam ich recht wenig mit. Das Land, in dem ich aufgewachsen war, existierte nicht mehr: die BRD. Es gab jetzt: DEUTSCHLAND. Schon das fühlte sich falsch und unwirklich an. Ich beendete am Ende des Jahres 1989 mein Studium, Mitte der 90er Jahre wurde ich zweimal kurz hintereinander Mutter. Mein Blog (dessen erster Eintrag im Februar 2010 veröffentlicht wurde), wie ich im Geleitwort schrieb, hat zwar "als Fluchtpunkt" das Jahr 1989. Aber es war eine sehr selbstbezügliche Suche nach der "verlorenen Zeit", auf die ich mich machte. Verloren waren die Jahre des "verantwortungslosen Zahlens und Stillhaltens", schrieb ich, mir selbst verbergend, dass ich genau darin, in dem noch verantwortungsloseren Festhalten an dieser Haltung, mich doch recht gut eingerichtet hatte.

Mein Land, jetzt also Deutschland, gab sich überall als geläutert, der Gewalt abhold, vermittelnd. Personifiziert geradezu durch einen bescheiden im Hintergrund agierenden Kanzleramtsminister, den späteren Außenminister und jetzigen Bundespräsidenten Steinmeier. Stets moralingetränkte, sonor vorgetragene Sprüche auf den Lippen, wurden hinter verschlossenen Türen die Waffenlieferungen in alle Welt abgewickelt, wo's heikler wurde, setzte man auf Dual-Use-Klassifizierung, man war zugänglich und umgänglich gegenüber jedem und jede/r Diktatoren-RepräsentantIn, trank Tee mit faschistischen Schlächtern im Eigenheim,  tätschelte sich mit den Folterern, fühlte sich aber stets vor allem den US-amerikanischen Imperialisten moralisch um Längen überlegen. Die eigene Hochanständigkeit wurde dann noch erheblich gebolstert durch den mit offensichtlichen Lügen begründeten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak. "Wir" wirkten in alle Richtungen ausgleichend, mäßigend und geschäftstüchtig mit. Zu einer grotesken Parodie ihrer selbst wurde die Steinmeiersche (Nicht-)Haltung endgültig in Gestalt seines Amtsnachfolgers und Parteikollegen "WirrufenbeideSeitenzurMäßigungauf"-Maas. 

Wir hatten die Regierungen, die wir verdienten. Berauschten uns an unserer Willkommenskultur und unserer "Wirschaffendas-Alternativlos"-Kanzlerin, die uns Politik, Entwicklung und Veränderung ersparte, Zeit kaufte, wo sie sich mit Geld kaufen ließ, und ansonsten, wiederum eher hinter verschlossenen Türen, die Interessen der deutschen Auto- und Chemieindustrie und des deutschen Bankensystems auch dann vertrat, wenn es gegen EU-Regeln verstieß (umso energischer die Verstöße anderer Länder anprangernd). Um die Transformation des Landes in ein Niedriglohn-Paradies, die vom Brioni-Kanzler begonnen worden war, fortsetzen zu können und der wahlentscheidenden Mittelklasse nichts zumuten zu müssen, brauchten wir billige Energie und die Männerfreundschaftsbünde, die sie uns verschafften, waren und blieben intakt. Der "lupenreine Demokrat" im Kreml lieferte und unsere politische Klasse ließ sich aushalten. 

Die Zeit ist abgelaufen. Um Demokratie haben wir als Gesellschaft nie gekämpft. Sie wurde uns geschenkt. Ein paar tapfere Demokraten und Demokratinnen schrieben uns 1948  ein Grundgesetz, die beste Verfassung der Welt. Wir ehrten sie kaum. Ihre Namen sind in unseren Städten nicht präsent, wir bauten ihnen keine Denkmäler. Unter dem Schutz amerikanischer, französischer und britischer Atomraketen und mit der Hilfe des Marshall-Plans konnten wir ökonomisch prosperieren. Wir hatten uns so gut daran gewöhnt, die externen Kosten unseres Geschäftsmodells nicht zu tragen.

Die Zeit ist abgelaufen. Sie war im Grunde schon 1989 abgelaufen. Wenn ich mein "Geleitwort" lese, wird mir klar, dass ich es wusste, aber eben nicht wahrhaben wollte. Selbstbezüglich wollte ich mich lieber mit Identitätsfragen und meiner Befindlichkeit befassen, als nach dem Preis zu fragen, den der Luxus, das überhaupt zu können, kostete. Ich habe erst sehr spät nach Osteuropa geschaut. Unter anderem die Bücher Swetlana Alexjewitschs machten mir klar, was ich übersehen hatte. 

Nie hatte ich, wie viele andere Linke, mit der Sowjetunion sympathisiert, nie wäre es mir in den Sinn gekommen, die Nachfolge-Partei der SED zu wählen. Meinen Solschenizyn hatte ich schon gelesen, auf die Idee, wie Gregor Gysi noch 2022 (und dann enttäuscht wie ein kleiner Bube), die Sowjetunion als "Friedensmacht" zu bezeichnen, wäre ich nie gekommen. Und doch: Ich hatte an das Ende der Abschreckung geglaubt. Und kaum wahrgenommen, dass die Kolonialreiche, deren problematische Abwicklung im "Westen" ganze universitäre Theorie-Schulen kritisch analysierten, eben nicht nur von "westlichen" Staaten errichtet worden waren. 

Ja, wir waren geblendet von "Gorbi" und "unserer" friedlichen "Revolution" in der DDR, abgelenkt durch Selbstbeschäftigung und Identitätspolitiken. Parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat waren gleichzeitig so selbstverständlich für uns und so kritikwürdig, dass wir in ihrem Schutz wie in einem Suppenteller saßen und nicht mal Anstalten machten, über den Tellerrand zu blicken. Die Zeit war abgelaufen, doch wir wählten Politikerinnen und Politiker in führende Ämter, die uns die Illusion verschafften und erkauften, es noch ein bisschen hinauszögern zu können. 

Und jetzt ist Schluss.

Der Preis wurde immer schon gezahlt, nur nicht von uns. Wer in der DDR Plakate hochhielt, auf denen stand "Schwerter zu Pflugscharen", landete in Bautzen. "Ein bisschen Frieden", war ein blödes und naives Lied, aber im Grunde beschreibt es ziemlich exakt, wie wir uns benahmen. Wir wollten die Guten sein und uns gut fühlen, Urlaubsflüge, Auto und Eigenheim inklusive, aber bitte mit Sahne und ohne schmutzige Finger. 

Am 24.Feburar 2022 hat der russische Autokrat Wladimir Wladimirowitsch Putin einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine angeordnet. Seither sterben Ukrainerinnen und Ukrainer, werden vergewaltigt, gefoltert, ermordet, verlieren ihre Wohnorte und Infrastruktur, ihre Lebensgrundlage, müssen zu Millionen fliehen. Doch eine Melange aus "alten" Linken und jungen "Woken", SPD-Granden, korrupten Fossilenergie-Händlern, Gewerkschaften und Industriebossen, AfD-Anhängern und Alt-Feministinnen will unbedingt und auf Deubel komm raus noch einmal Zeit schinden und den Schlächter in Moskau nicht provozieren. Krude wird gemixt: Der Schlächter hat berechtigte koloniale ("Sicherheits"-)Interessen (besonders anrührend von Linken vorgetragen), dem Schlächter wurde der Respekt versagt ("Regionalmacht"), der Schlächter liefert zuverlässig (man kann nicht nur mit Leuten Geschäfte machen, die "unsere" Idee von Menschenrechten teilen), der Schlächter hat eben, was wir brauchen, nämlich fossile Billigenergie (ansonsten Massenarbeitslosigkeit und "Hyperinflation"), der Schlächter hat Atomwaffen und er wird sie suizidal einsetzen, wenn man ihm nicht gibt, was er verlangt. Der Schlächter ist also gleichzeitig bedrohtes, diskriminiertes Opfer oder Psychopath, er ist zuverlässiger Verhandlungs- und Geschäftspartner und wahnsinniger Erpresser, man muss vertrauensvoll mit ihm "Gespräche und Verhandlungslösungen suchen" und kann ihm ALLES zutrauen. 

Die "Friedensfreunde", zuletzt die abgehalfterten "Intellektuellen" mit ihrem unsäglichen Appell, entlarven sich selbst. Denn wären sie im Ernst Pazifisten, müssten sie die härtesten Sanktionen, die denkbar wären, fordern: den vollständigen Abbruch aller Handelsbeziehungen zur Russischen Föderation, Energieembargo SOFORT, die Sperrung des Skagerraks und aller Häfen für russische Schiffe, Sanktionen gegen alle, die noch mit dem Aggressor handeln. (Ja, das ist  in der gegenwärtigen geopolitischen Situation nicht realistisch, aber immerhin wäre es "idealistisch".) Davon ist aber in ihren ekelerregenden Aufrufen NICHTS zu lesen. Es geht immer nur darum, den Schlächter zu besänftigen, seine Lügen als Argumente aufzuwerten und ihm den "Respekt" zu erweisen, den er einfordert. Man will sich nicht die Finger schmutzig machen, aber als ehemalige (und offenbar immer noch gefühlte) Kolonialmacht mit der anderen Kolonialmacht über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg "einen Kompromiss" aushandeln. Wie ärgerlich und abscheulich, dass die Opfer sich nicht einfach fügen wollen. Sind halt Militaristen, von toxischer Männlichkeit angestachelte Kriegstreiber und/oder Marionetten des ewigen Teufels USA (man kann da ganz bequem von islamofaschistischen Seiten abschreiben, passt!). 

Das ist alles ekelerregend. Der Würgereiz wird unerträglich, wenn dieses Gesindel sich dann auch noch für seine Sensibilität und Sentimentalität selbst beweihräuchert. Man wolle ja nur das "Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer" verkürzen. Deshalb: Weder harte Sanktionen, noch Waffen zur Selbstverteidigung. "Frieden schaffen ohne Waffen" (und ohne knallharte Sanktionen freilich auch, bloß mit guten Worten, Respekt und Freundlichkeit gegenüber dem Schlächter). Man hat das doch immer schon skandiert, das muss doch heute wieder gelten. Man lässt sich doch nicht in eine "militärische Logik" hineintreiben, das ist ja "menschenfeindlich". Ja, man will einfach weiter die Dividende einstreichen, mögen andere bezahlen. Davor die Augen zuzukneifen, das hat man doch schließlich schon ein ganzes Leben über geschafft. Jetzt erst mal einen Flug in die Sonne buchen, so stressig ist das alles hier, die ganze Kriegstreiberei, der Kapitalismus und so...,also...

"Mea Culpa", sagt der Alt-Kanzler, dessen Name nicht genannt werden soll, sei nicht sein Ding. Meines schon. Ich habe nicht genügend wahrgenommen und wahrnehmen wollen, wer für die Stabilität im Kalten Krieg, während dem ich Freiheiten genoss (zum Beispiel die Reisefreiheit), zu zahlen hatte, ich habe mich nicht genug eingesetzt für die Freiheit derjenigen hinter dem "Eisernen Vorhang" als ich jung war, ich habe mich nicht genügend interessiert für die Schuld, die Deutsche in der Ukraine und im Baltikum im 2. Weltkrieg auf sich geladen haben, ich war nicht dankbar genug den Tausenden US-amerikanischen Soldaten, die Europa befreiten und von denen viele ihr Leben ließen, ich habe nicht demonstriert gegen die Kriegsführung Putins in Tschetschenien und Syrien, ich habe nicht genügend getan, um die demokratischen Kräfte in Georgien, Moldau, Belarus und Ukraine zu unterstützen. 

Wer in Putin und der Russischen Föderation unter seiner Führung keinen Feind erkennen kann, muss selber eine Schlächterseele sein. Die Russische Föderation führt einen brutalen Angriffskrieg, im staatlich kontrollierten russischen Fernsehen wird der Genozid an den Ukrainerinnen und Ukrainern verherrlicht, Menschen werden deportiert, in Lagern "gefiltert" und gefoltert, Vergewaltigungen sind in den besetzten Gebieten an der Tagesordnung. Wer den Opfern das Recht auf Selbstverteidigung und die Unterstützung dabei (mit "schweren" Waffen, selbstverständlich ) verweigert, wer ein anderes Ziel verfolgt, als die möglichst weitreichende und nachhaltige Entwaffnung des Aggressors, der soll seine schäbigen Krokodilstränen um das "Leid der anderen" ganz leise verdrücken. 

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Wer helfen will: 

https://kse.ua/support/donation


Dienstag, 8. März 2022

Patriarch Kyrill weist uns den rechten Weg - unfreiwillig, aber wirksam. Wer unsere Freunde sind und wer unser Feind ist


https://www.br.de/nachrichten/kultur/russischer-patriarch-schwulen-paraden-grund-fuer-ukraine-krieg,SzOShXa

Patriarch Kyrill, Putin geistlicher Beistand, weist uns den rechten Weg.

"Der Westen", sagt er, will allen Schwulen-Paraden aufzwingen und dagegen müsse man sich rechtzeitig wehren - wie in der Ukraine. 

Wie also kann und soll sie aussehen, unsere "wertegeleitete Außenpolitik"?

Ganz einfach:

Menschen, Gesellschaften, Staaten, in und mit denen keine fröhlichen Gay Paraden stattfinden können, sind NICHT unsere Partner. Mit ihnen pflegen wir nur sehr eingeschränkte Beziehungen, wo es nötig ist.

Menschen, Gesellschaften, Staaten, die andere angreifen, damit keine fröhlichen Gay Paraden stattfinden können, sind unsere FEINDE. Mit ihnen brechen wir alle Beziehungen ab. 

Menschen, Gesellschaften, Staaten, in denen und mit denen fröhliche Gay Paraden stattfinden, können unsere Freunde sein. 


Ganz schlicht. Passt. 

Danke dem Patriarchen für diese Idee!

Samstag, 26. Februar 2022

Natascha Wodin: "Sie kam aus Mariupol" - Lasst Mariupol nicht im Stich! #IStandWithUkraine

 Samstag, 26. Februar 2022, 16:26 Uhr 





Die im Südosten der Ukraine liegende Hafenstadt Mariupol am Assowschen Meer wird in diesen Stunden von russischen Truppen eingekreist. 


2017 erhielt Natascha Wodin für „Sie kam aus Mariupol“ den Preis der Leipziger Buchmesse. Eine Gattungsbezeichnung fehlt. Wodin schildert in diesem Buch, das kein Roman ist, aber auch keine (Auto-)Biographie, wie sie die Herkunft ihrer Mutter und deren Leidensweg von Mariupol an die Regnitz, in der sie sich mit nur 36 Jahren ertränkte, recherchiert, um zu verstehen, wer diese Frau war, die sie als klein, zart, hungrig und unendlich traurig und hoffnungslos in Erinnerung hat. 


„Ukrainer, die den größten Teil der Ostarbeiter stellten, gelten als die minderwertigsten Slawen, noch niedriger als sie stehen in der Rassenhierarchie nur noch die Sinti und Roma und Juden. Sie werden auf den Straßen ergriffen, in Kinos, in Cafés, an Straßenbahnhaltestellen, auf Postämtern, überall, wo ihrer habhaft werden kann, sie werden bei Razzien aus ihren Wohnungen geholt, aus Kellern und Verschlägen, in denen sie sich verstecken. Man treibt sie zum Bahnhof und bringt sie in Viehwaggons auf den Transport nach Deutschland.“


Natascha Wodin war 10 Jahre alt, als ihre Mutter sich umbrachte. Das Kind hatte diese Tat längst erwartet, die Mutter sie viele Male angekündigt, oft auch so, als wolle sie ihre Kinder, Natascha und die jüngere Schwester, mitnehmen in den Tod. Die Ich-Erzählerin in „Sie kam aus Mariupol“ will als alte Frau begreifen, was die Mutter geprägt hat. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. 


Im ersten Teil erzählt Wodin, wie sie über Internet-Recherchen und mit Hilfe eines russischen Hobby-Genealogen immer mehr über die große Familie ihrer aus verarmtem russischem Adel stammenden Mutter erfährt. In Mariupol hatte ihr Großvater seine zweite Frau geheiratet, die Tochter eines italienischstämmigen Seefahrers und Großhändlers. Politisch hatte sich der Großvater entgegen seiner eigenen Herkunft gegen das Zarenreich eingesetzt und war für viele Jahre nach Sibirien verbannt worden. Mit der zweiten Familie lebte er im großbürgerlichen Haus der Schwiegereltern in Mariupol. Die Mutter der Erzählerin, Jewgenia, wird 1920 in die Revolutionswirren hineingeboren, von Anfang an ist ihr Leben durch Armut und Hunger geprägt, aber auf sonderbare Weise auch noch durch die adelige und großbürgerliche Herkunft der Eltern, was sie - nach Auffassung der Erzählerin - lebensuntüchtig macht, da sie keine praktischen Fähigkeiten vermittelt bekommt. 


Im zweiten Teil des Buches steht die Geschichte der älteren Schwester der Mutter, Lidia, im Zentrum, auf deren lang verschollenes Tagebuch die Erzählerin stößt. Lidia schließt sich, als Bürgerliche geächtet, in ihrer Studienzeit in Odessa einer Widerstandsgruppe gegen die Kommunisten an, wird gefoltert und verschwindet für Jahrzehnte in einem Arbeitslager. Auch die Geschichten der anderen Familienmitglieder, die die Erzählerin nach und nach freilegt, verdeutlichen die traumatischen Verheerungen, denen die Menschen in der Ukraine und im gesamten Sowjetreich durch Revolution, Bürgerkrieg, Weltkrieg, Hungerkatastrophe in der Ukraine (Holodomor) und stalinistische Verfolgungen ausgesetzt waren. 


„Was für eine Familie war das? Der Vater meiner Mutter ein bolschwestischer Revolutionär mit einer langen Verbannungsgeschichte, ihr Bruder ein dekoriertes Parteimitglied, ihre Schwester und sie selbst Renegatinnen, die eine verbannt in ein sowjetisches Arbeitslager, die andere Zwangsarbeiterin beim deutschen Kriegsfeind, eine potentielle Kollaborateurin.“


Wegen des großen Altersabstandes zwischen Lidia und der Mutter der Erzählerin und deren Deportation ins Arbeitslager, kann die Erzählerin nur wenig über ihre eigene Mutter aus dem Tagebuch erfahren. Im dritten Teil versucht sie, die Flucht und/oder Deportation der Mutter und ihres eigenen Vater aus Mariupol nach Westen zu rekonstruieren. Vater und Mutter der Ich-Erzählerin wurden in Zwangsarbeitslagern bei Leipzig von den Nazis ausgebeutet. In einem solchen Lager wurde die Erzählerin gezeugt und geboren. Nicht ganz sicher kann sie sich sein, ob die Eltern nach Deutschland wollten, weil sie Angst vor stalinistischer Verfolgung hatten oder ob sie zwangsverpflichtet wurden. Sie weiß nur, dass der Hass auf Stalin die Eltern verbunden hat. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gibt es für die Eltern der Erzählerin keinen Weg zurück ins Sowjetreich, wo sie mit Verfolgung und Stigmatisierung rechnen müssen. Im Deutschland der Nachkriegszeit werden die Zwangsarbeiter zu Displaced Persons, zusammengepfercht in Lagern und Ghettos. In einem solchen wächst die Ich-Erzählerin nördlich von Nürnberg auf. Das Kind erfährt die Ausgrenzung in der Schule, die bittere Armut der Familie und begreift nie ganz, was sie so vollständig von der Außenwelt, diesem Deutschland, trennt. 


„Wenn ich mich an etwas genau erinnere, dann an den Hass meiner Eltern gegen die Sowjetmacht, gegen Stalin, dieser Hass war vielleicht ihre stärkste Gemeinsamkeit.“


„Sie kam aus Mariupol“ ist ein lesenswertes und lehrreiches Buch. Privilegierte wie ich, die ganz unverdient ein ganzes Leben lang die Friedensdividende eingestrichen haben, können hier verstehen lernen, wie in unseren östlichen Nachbarländern sich an die Verheerungen des Weltkriegs nahtlos der stalinistische Terror anschloss. Man kann sich vorstellen, wie, wer dem Terror der Schergen Stalins ausgesetzt war, zum radikalen und unversöhnlichen Antikommunisten werden konnte, auch anfällig für Nationalismus und Faschismus. Und wie umgekehrt mit den Opfern unter dem Faschismus noch die fürchterlichsten Verbrechen der Stalinisten gerechtfertigt wurden. Keine Familie ohne vielfältige Traumata, tödliche Feindschaft, Verrat, Angst. 


Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird die ungeheure Leistung dieser Generation von Ukrainerinnen und Ukrainern erst begreiflich, die vor 8 Jahren auf dem Maidan sich das Recht auf Selbstbestimmung erstritten hat. Eine junge Demokratie, strauchelnd, auch ringend mit dem Versuch der Korrumpierung durch Oligarchen. Und doch: Hoffnungsvoll. Der einzige Staat in Europa mit einem frei gewählten jüdischen Präsidenten. 


„Sie kam aus Mariupol“ - einer Stadt, die im 20. Jahrhundert schon so viel Leid und Vernichtung erfahren hat und die in diesem Moment, in dem ich das schreibe, vielleicht von russischen Truppen eingenommen wird.


Lasst Mariupol nicht im Stich! Ich appelliere an die Bundesregierung, die Bitten der frei gewählten Regierung der Ukraine in diesen Stunden zu erhören. 


#IStandWithUkraine


Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol, 2017