Montag, 17. März 2014

"Die Wirklichkeit aber ist zersplittert, schmutzig und lila". Über Swetlana Alexijewitsch: SECONDHAND-ZEIT. Leben auf den Trümmern des Sozialismus

Ist das Literatur? Wir unterscheiden üblicherweise zwischen Sachtexten und fiktionalen Texten, zwischen journalistischen und literarischen Texten. Für die Literaturkritik und –theorie mögen solche Unterscheidungen bedeutsam sein. Leserinnen dagegen brauchen solche Fragen nicht zu interessieren. Leserinnen lesen. Hören. Lauschen. Lassen sich einfangen und aufklären. Am Ende einer Lektüre, die das Gelesene auf- und ernst nimmt, haben sich, wenn es sich gelohnt hat, diese Fragen meist ohnehin erübrigt. Dennoch ist es selbstverständlich nicht gleichgültig, was und wie der Text sich die Wirklichkeit zum Material nimmt. Am Grunde auch jeden literarischen Textes nämlich liegen die Menschenleben, von denen er sich genährt, aus deren Erleben und Erfahren er sich entwickelt hat. Manchmal ist das sehr deutlich erkennbar, manchmal ist es durch ein fiktionales Gewebe sorgsam verhüllt. Immer geht es, wenn es Literatur ist, auch um das Verhältnis von Verrat und Treue, das dieses spezielle Schreiben den Menschen antut oder gewährt, von und durch die es lebt.

Swetlana Alexijewitsch bewahrt im Schreiben dem Erleben der Menschen, deren Lebenserzählungen sie nutzt, eine besondere Treue, indem sie es sich versagt, deren Eigenerzählung zu kommentieren oder zu fiktionalisieren. Dennoch gibt Alexijewitsch in „SECONDHAND-ZEIT. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ nicht einfach Interview-Texte wieder, sondern konstruiert aus Gesprächen eine eigene, ihre Erzählung. Die Art und Weise, wie Alexijewitsch die Interviewtexte anordnet, sie rhythmisiert durch Auslassung und Vertiefung sorgt für einen Sog, der ganz ohne erzählerischen `Plot´ die Spannung bei der Leserin aufrechterhält. Es ist eine Spannung, die sich nicht auf einen Ausgang richtet, sondern eine notwendige Anspannung der Leserin, die das Aushalten des Ausnahmezustands, in dem die Erzählenden allesamt sich befinden, ermöglicht. Es sind enteignete Leben, von denen hier erzählt wird, Lebensberichte, in denen die Erzählenden gleichsam verzweifelt nach sich selbst suchen, nach jenem Rest, der sich nicht rückhaltlos der „Geschichte“ unter- und einordnet, den Kriegen, dem Machtmissbrauch, dem gigantischen Menschenversuch im Namen einer politischen Idee, die sich gewaltsam in die Körper und Köpfe eingeschrieben, einander überschrieben, ausgelöscht und vernichtet haben.

Damit stülpt Swetlana Alexijewitsch, könnte man sagen, die Verfahren der Fiktionalisierung gleich einem Handschuh nach außen: Es wird hier nicht aus dem Leben ein Roman gemacht, sondern die zum Roman eines „Sowjetmenschen“ geronnenen Lebensläufe, deren Sinn immer schon vorgedacht war von den Ideologen, als Idee und Fiktion entworfen und brutal in Wirklichkeit übersetzt, werden in den Gesprächen wieder und wieder und anders erzählt bis sie sich im Text neu öffnen als je Eigenes, Mögliches, Anderes: Menschen statt Homo sovieticus. Alexijewitsch, die Zeugin, die trotz ihrer Zurückhaltung keinen reinen Beobachterstatus einnimmt, sondern sich bekennt: „Er ist ich.“, sucht nach den Spuren der Gemeinsamkeit zwischen jenen Menschen, die diesem „aberwitzigen Plan“ des Kommunismus ausgesetzt waren und zugleich danach, was er übrig gelassen hat an Eigensinn: „Ich frage nicht nach dem Sozialismus, ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und Frisuren. Nach Tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens. Das ist die einzige Möglichkeit, die Katastrophe in den Rahmen des Gewohnten zu zwingen und etwas darüber zu erzählen. Etwas zu verstehen. Ich staune immer wieder, wie interessant das normale menschliche Leben ist. Unendliche viele menschliche Wahrheiten....“ Was Alexijewitsch erzählen will, ist nicht die Wahrheit über die Sowjetunion und ihre Nachfolgegesellschaften. Ihr Schreiben ist kein Versuch, historische, philosophische oder politologische Erkenntnisse über gesellschaftliche Entwicklungen und Verwerfungen in literarischen Fiktionen zu fassen, sondern geradezu das Gegenteil: den Sinnstiftungen und Geschichtsmythen der Ideologen die von ihnen okkupierten und korrumpierten Leben wenigstens durch die Worte, in den Erzählungen, wieder zu entreißen.

Alexijewitsch rückt den Mythen der Postkommunisten damit ebenso zu Leibe, wie den revisionistischen Verklärern der „russischen Seele“, aber auch den Apologeten des neuen, kapitalistischen Lebens. Literatur und Wurst – das scheinen in diesen Erzählungen die Kriterien der antagonistischen Lebensauffassungen zu sein. Einige Erzählende trauern den Zeiten hinterher, als in engen Küchen Literatur gelesen und über sie geredet wurde, andere erinnern sich, dass es oft nicht mal eine  Wurst zu kaufen gab. Im Zentrum vieler Erzählungen stehen die Ereignisse um den Sturz Gorbatschows und den Zerfall des Sowjetimperiums. Die Erzählenden erinnern sich, wo sie damals waren, was sie taten, wie sie sich fühlten, wen sie trafen. Wie in einem Kaleidoskop werden die Ereignisse ganz unterschiedlich beleuchtet: von silbernen Hoffnungsschimmern und verzweifelnder Abendröte, mit berechnend kühlem Scheinwerferlicht, durch dunkle Vorahnung. Niemand kann die Wahrheit erzählen und Alexijewitschs vorwärts tastende Interviews legen die Unsicherheit bei jeder und jedem Erzählenden bloß: Was hat sich eine selbst erzählt, um sich zu glauben, sich wiederherzustellen, nachdem das bisherige Leben in Trümmer gefallen ist? Moskau im August 1991: „Die Wirklichkeit aber ist zersplittert, schmutzig und lila: Die Menschen saßen die ganze Nacht am Feuer, auf dem nackten Boden. Auf Zeitungen und Flugblättern. Hungrig und wütend. Sie fluchten und tranken, aber keiner war betrunken. Irgendwer brachte Wurst, Käse, Brot. Kaffee. Es hieß, das seien Leute von Kooperativen...Businessmen...Einmal sah ich sogar einige Büchsen von Kaviar. Die steckte sich gleich jemand in die Tasche...“

Alexijewitsch erzählt von Menschen, die – wie überall auf der Welt – das Glück suchen: jemanden, den sie lieben und der sie liebt, ein Auskommen, ein Dach überm Kopf. Sie erzählt von Familien, in denen einer Generation nach der anderen dieses kleine Glück verwehrt wird, von Vätern, die deportiert wurden und als Wracks zurückkehrten, von Müttern, die mit ihren Kindern obdachlos durch die Sowjetstädte ziehen, von Kriegsversehrten und Gefolterten, von der Hoffnung auf ein bisschen persönliche Freiheit und ein bisschen Wohlstand. Sie erzählt von einem Land, in dem alle glauben sollten und keiner denken, in dem einige sich eingerichtet hatten und andere untergingen, davon wie der Umsturz diese kleine Einrichtung einigen zerbrach und den Glauben nahm, aber andere reich machte. Alle Erzählungen sind vom Tod affiziert, vom gewaltsamen Tod vor der Zeit, von der Sehnsucht nach dem Tod, weil das Leben zu schwer ist, zu ungerecht, zu unerträglich, zu unbegreiflich. Überall unter dem gefrorenen Boden die Gebeine der Toten, die Lager, in denen die vielen verhungerten, erfroren, abgestochen wurden: „Ein Schritt zur Seite, und du wirst erschossen – schaffst du es bis zum Wald, zerreißen dich die wilden Tiere. In der Baracke konnten einen nachts die eigenen Leute erstechen. Einfach so abstechen. Ohne Worte...nur so...So ist das Lager, jeder lebt für sich. Das musste ich erst begreifen.“

Es sind Menschen, die einander vertrauen müssen, weil sie nur einander haben und doch nichts anderes gelernt haben, als dass jeder jeden verraten kann. Die liebe Tante hat den Vater denunziert, der Onkel den Bruder, wer gestern noch ein freundlicher Nachbar war, kann morgen einer nationalistischen Miliz angehören, die Russen zerstückelt. Trotzdem sagen die Interviewten Worte wie: „Uns rettet nur die Menge der empfangenen Liebe, das ist unsere Kraftreserve. Ja....Nur die Liebe rettet uns. Die Liebe, das ist ein Vitamin, ohne das der Mensch nicht leben kann, ohne das sein Blut gerinnt, sein Herz stehenbleibt. Ich war Krankenschwester...Pflegerin..Schauspielerin...Ich war alles.“ Eine Kultur ist entstanden, hat sich fortgeschrieben über die Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte in Russland, die das Leid verherrlichen muss, weil sie nichts anderes hat, weil ihr nichts anderes geblieben ist.

Manche der Frauen, die Alexjewitsch erzählen lässt, sind etwa so alt wie ich. Olga Karimowa etwa war 1992 22 Jahre alt. (Da war ich 27.) Olga Karimowa ist in Abchasien aufgewachsen. Sie hat dort ihre ganze Kindheit und Jugend verbracht. Als Swetlana Alexjiwitsch mit ihr spricht, hat sie mehrere gescheiterte Selbstmordversuche hinter sich. Sie erzählt von den ersten Russen, die getötet wurde, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: „Der Erste...Ein schöner russischer Junge...Ausnehmend schön! Einer dem die Abchasen sagen: ´Ein Mann zum Samenspenden.´ Er lag da, mit ein wenig Erde bedeckt, in Turnschuhen und Militäruniform. Am nächsten Tag waren die Turnschuhe weg.“ Olga Karimowa ist Flüchtling im eigenen Land. Wo sie aufgewachsen ist, hat man die ihren abgeschlachtet. Sie hat in Moskau auf dem Bahnhof und auf der Straße gelebt. Olga Karimowa flüchtet sich am Ende des Interviews in ein Kloster.

Erwachsen gewordene Kinder erzählen sich, wie sie zu Stalins Beerdigungsfeier antreten mussten und um das Väterchen bittere Tränen vergossen. Der gigantische Betrug an einer ganzen Generation: das Hungern, die Leiden, die Deportationen, alles dient einem höheren Ganzen, dem Aufbau der Sowjetunion, dem Sieg über Imperialismus und Kapitalismus, dem neuen Menschen. Dazu die eingetrichterte Verachtung gegen das gute Leben: „Mich zog es hinaus auf die Straße. Ich ging zu Militärparaden, ich liebte Sportfeste. Noch heute erinnere ich mich an dieses Hochgefühl! Du läufst zusammen mit allen anderen, du bist Teil von etwas Große, Gewaltigem...Dort war ich glücklich, bei meiner Mutter nicht. Und das kann ich nie wiedergutmachen. Meine Mutter ist bald gestorben.“ Die Mutter der kleinen Stalinistin war ins Lager deportiert worden und sah sie erst als junge Frau wieder.

Alexijewitschs Gesprächspartnerinnen und –partner suchen nach sich selbst, indem sie mit ihr sprechen, indem sie sich und ihr erzählen, was ihnen widerfahren ist. Die Suche ist anstrengend und zögerlich bisweilen, sie ist schmerzhaft und grenzüberschreitend. Immer wieder wird sie unterbrochen, kann nicht weiter gesprochen werden, fließen Tränen. Erinnerungen an verschollene Eltern, an entfremdete Kinder, an den eigenen Glauben und die bittere Enttäuschung, der Versuch, sich etwas zu bewahren, das längst im Selbstgespräch schon als Fehler, als Irrglaube entlarvt wurde. Es muss unter den Verbrechern und mit den eigenen Verbrechen weiter gelebt werden.

Ist das Leben besser geworden? Wer ist immer noch Sowjetmensch? Wie soll man ertragen, dass die Reichen und Korrupten in Eselsmilch baden? Ist der Kapitalismus nicht genau so, wie ihn die Lehrbücher von einst beschrieben? War Stalin doch ein Held? „Es liegt nicht an Jelzin oder Putin, sondern daran, dass wir Sklaven sind. Sklavenseelen! Sklavenblut! Nimm nur den ´neuen Russen´... Er steigt aus einem Bentley, hat die Taschen voller Geld, aber er ist ein Sklave.“ Wird Vladimir Putin wie Ceaușescu enden? Wenn es um die Zukunft geht, werden die Interviewtexte kürzer, werden widersprüchliche Aussagen hektischer gegeneinander geschnitten.

Was bringt die Zukunft? Swetlana Alexijewitschs Interviewpartnerinnen und –partner wissen es nicht. Sie alle eint die Sehnsucht nach dem Tod, der sie von dem Leid erlösen könnte, das sie erlebt und zugefügt haben, dem Leid, das sie eine gewalttätige, von hohlen Heldensprüchen, patriarchalen Sexismen, nationalistischen Verblendungen, sozialistischen Wahnvorstellungen und tödlichen Märtyrerverklärungen korrumpierte Gesellschaft ausgesetzt hat, die sie selber bilden und sind. Viele Männer sind Alkoholiker, viele Frauen depressiv. Wie viel Verantwortung trägt vor dem düsteren Hintergrund dieser Geschichte der Einzelne, die Einzelne für ihr verkorkstes Leben? Hoffnung spendet immer wieder allein die Liebe, seltener die zum Partner, öfter die der Mütter. Es fällt auf, in wie vielen Erzählungen eine enge Mutter-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt steht.

Swetlana Alexijewitsch ergreift, trotz oder gerade durch ihre Zurückhaltung, Partei: Für die Toten, die Zurückgelassenen, die Hinterbliebenen, die Versehrten und Entstellten. Sie trifft eine radikale erzählerische Entscheidung, indem sie sich und den Leserinnen den Überblick und die Einordnung versagt, die erklärende, „Strukturen“ bloßlegende Auf- und Draufsicht der Politologin, der Philosophin, der Historikerin, aber auch die chronologische Orientierung an einem ´Plot´, einer schlüssigen Erzählung der Literarin. Sie hat sich entschieden. Es geht ihr nicht um diese Art „Verstehen“, die immer nur weiter Sinn und damit Verständnislosigkeit für das je einzelne, eigensinnige Leben produziert. Swetlana Alexijewitsch erzählt, was die erfahren, die leben müssen, was anderen später zu Geschichte wird.

Ist das Literatur? Ich habe mehr erfahren, als ich wissen wollte. Und es hat weh getan. Noch nie habe ich gehungert, noch nie wurde ich körperlich misshandelt, keines meiner Elternteile wurde deportiert, niemand in meiner Familie wurde aus politischen Gründen inhaftiert, keine Nachbarn haben meine Freunde erschlagen und keinem Anschlag war ich ausgesetzt; niemand hat mich glauben lassen, wenn ich leide, habe es einen höheren Sinn, ich solle meine Kinder für Vaterland oder Sozialismus Beine und Arme oder das Leben opfern lassen. Was ich hier über mich sage, gilt für die überwältigende Mehrzahl meiner Generation, aufgewachsen in Westeuropa nach 1950. Umgekehrt: Für die überwältigende Mehrheit Gleichaltriger in den ehemaligen Sowjetrepubliken gehören traumatische Gewalterfahrungen, staatliche Repression und bittere Armut zur kollektiven Erinnerung. Die Lektüre von Swetlana Alexijewitschs Buch hat mir, was mir selbstverständlich erschien, als ein unverdientes Glück offenbart. Was ich danach nicht mehr hören möchte und kann, sind die Tiraden bundesdeutscher und anderer (Alt-)Linker, die Menschenfeindlichkeit und Unterdrückung in der ehemaligen Sowjetunion gleichsetzen mit „Konsumterror“ und „repressiver Toleranz“ in demokratischen Rechtsstaaten. Ja, das ist Literatur, was Swetlana Alexijewitsch schreibt, denn obwohl (oder gerade weil) sie sich als Autorin so sehr zurücknimmt, ist dieses Buch erkennbar vom Anliegen eines individuellen Menschen getragen, von ihrer ganz persönlichen Suche nach Spuren und ihrer ganz eigenen „Wahrheit“ unter den vielen Wahrheiten über das „Secondhand-Leben“ nach der Sowjetunion.


Swetlana Alexijewitsch hat 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels  erhalten. Der Historiker Karl Schlögel hat in einer herausragenden Laudatio ihr Werk, ihr literarisches Verfahren und ihre Person gewürdigt: Hier.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen