Ist
das Literatur? Wir unterscheiden üblicherweise zwischen Sachtexten und
fiktionalen Texten, zwischen journalistischen und literarischen Texten. Für die
Literaturkritik und –theorie mögen solche Unterscheidungen bedeutsam sein. Leserinnen
dagegen brauchen solche Fragen nicht zu interessieren. Leserinnen lesen. Hören.
Lauschen. Lassen sich einfangen und aufklären. Am Ende einer Lektüre, die das
Gelesene auf- und ernst nimmt, haben sich, wenn es sich gelohnt hat, diese
Fragen meist ohnehin erübrigt. Dennoch ist es selbstverständlich nicht
gleichgültig, was und wie der Text sich die Wirklichkeit zum Material nimmt. Am
Grunde auch jeden literarischen Textes nämlich liegen die Menschenleben, von
denen er sich genährt, aus deren Erleben und Erfahren er sich entwickelt hat.
Manchmal ist das sehr deutlich erkennbar, manchmal ist es durch ein fiktionales
Gewebe sorgsam verhüllt. Immer geht es, wenn es Literatur ist, auch um das
Verhältnis von Verrat und Treue, das dieses spezielle Schreiben den Menschen
antut oder gewährt, von und durch die es lebt.
Swetlana
Alexijewitsch bewahrt im Schreiben dem Erleben der Menschen, deren
Lebenserzählungen sie nutzt, eine besondere Treue, indem sie es sich versagt,
deren Eigenerzählung zu kommentieren oder zu fiktionalisieren. Dennoch gibt
Alexijewitsch in „SECONDHAND-ZEIT. Leben
auf den Trümmern des Sozialismus“ nicht einfach Interview-Texte wieder,
sondern konstruiert aus Gesprächen eine eigene, ihre Erzählung. Die Art und
Weise, wie Alexijewitsch die Interviewtexte anordnet, sie rhythmisiert durch
Auslassung und Vertiefung sorgt für einen Sog, der ganz ohne erzählerischen
`Plot´ die Spannung bei der Leserin aufrechterhält. Es ist eine Spannung, die
sich nicht auf einen Ausgang richtet, sondern eine notwendige Anspannung der
Leserin, die das Aushalten des Ausnahmezustands, in dem die Erzählenden
allesamt sich befinden, ermöglicht. Es sind enteignete Leben, von denen hier
erzählt wird, Lebensberichte, in denen die Erzählenden gleichsam verzweifelt
nach sich selbst suchen, nach jenem Rest, der sich nicht rückhaltlos der
„Geschichte“ unter- und einordnet, den Kriegen, dem Machtmissbrauch, dem
gigantischen Menschenversuch im Namen einer politischen Idee, die sich
gewaltsam in die Körper und Köpfe eingeschrieben, einander überschrieben, ausgelöscht
und vernichtet haben.
Damit
stülpt Swetlana Alexijewitsch, könnte man sagen, die Verfahren der Fiktionalisierung
gleich einem Handschuh nach außen: Es wird hier nicht aus dem Leben ein Roman
gemacht, sondern die zum Roman eines „Sowjetmenschen“ geronnenen Lebensläufe,
deren Sinn immer schon vorgedacht war von den Ideologen, als Idee und Fiktion
entworfen und brutal in Wirklichkeit übersetzt, werden in den Gesprächen wieder
und wieder und anders erzählt bis sie sich im Text neu öffnen als je Eigenes,
Mögliches, Anderes: Menschen statt Homo
sovieticus. Alexijewitsch, die Zeugin, die trotz ihrer Zurückhaltung keinen
reinen Beobachterstatus einnimmt, sondern sich bekennt: „Er ist ich.“, sucht
nach den Spuren der Gemeinsamkeit zwischen jenen Menschen, die diesem „aberwitzigen Plan“ des Kommunismus
ausgesetzt waren und zugleich danach, was er übrig gelassen hat an Eigensinn: „Ich frage nicht nach dem Sozialismus, ich
frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und
Frisuren. Nach Tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens. Das ist die
einzige Möglichkeit, die Katastrophe in den Rahmen des Gewohnten zu zwingen und
etwas darüber zu erzählen. Etwas zu verstehen. Ich staune immer wieder, wie
interessant das normale menschliche Leben ist. Unendliche viele menschliche
Wahrheiten....“ Was Alexijewitsch erzählen will, ist nicht die Wahrheit über die Sowjetunion und
ihre Nachfolgegesellschaften. Ihr Schreiben ist kein Versuch, historische,
philosophische oder politologische Erkenntnisse über gesellschaftliche
Entwicklungen und Verwerfungen in literarischen Fiktionen zu fassen, sondern
geradezu das Gegenteil: den Sinnstiftungen und Geschichtsmythen der Ideologen
die von ihnen okkupierten und korrumpierten Leben wenigstens durch die Worte,
in den Erzählungen, wieder zu entreißen.
Alexijewitsch
rückt den Mythen der Postkommunisten damit ebenso zu Leibe, wie den revisionistischen
Verklärern der „russischen Seele“, aber auch den Apologeten des neuen,
kapitalistischen Lebens. Literatur und Wurst – das scheinen in diesen
Erzählungen die Kriterien der antagonistischen Lebensauffassungen zu sein.
Einige Erzählende trauern den Zeiten hinterher, als in engen Küchen Literatur
gelesen und über sie geredet wurde, andere erinnern sich, dass es oft nicht mal
eine Wurst zu kaufen gab. Im
Zentrum vieler Erzählungen stehen die Ereignisse um den Sturz Gorbatschows und
den Zerfall des Sowjetimperiums. Die Erzählenden erinnern sich, wo sie damals
waren, was sie taten, wie sie sich fühlten, wen sie trafen. Wie in einem
Kaleidoskop werden die Ereignisse ganz unterschiedlich beleuchtet: von
silbernen Hoffnungsschimmern und verzweifelnder Abendröte, mit berechnend
kühlem Scheinwerferlicht, durch dunkle Vorahnung. Niemand kann die Wahrheit erzählen und Alexijewitschs
vorwärts tastende Interviews legen die Unsicherheit bei jeder und jedem
Erzählenden bloß: Was hat sich eine selbst erzählt, um sich zu glauben, sich
wiederherzustellen, nachdem das bisherige Leben in Trümmer gefallen ist? Moskau
im August 1991: „Die Wirklichkeit aber
ist zersplittert, schmutzig und lila: Die Menschen saßen die ganze Nacht am
Feuer, auf dem nackten Boden. Auf Zeitungen und Flugblättern. Hungrig und
wütend. Sie fluchten und tranken, aber keiner war betrunken. Irgendwer brachte
Wurst, Käse, Brot. Kaffee. Es hieß, das seien Leute von
Kooperativen...Businessmen...Einmal sah ich sogar einige Büchsen von Kaviar.
Die steckte sich gleich jemand in die Tasche...“
Alexijewitsch
erzählt von Menschen, die – wie überall auf der Welt – das Glück suchen:
jemanden, den sie lieben und der sie liebt, ein Auskommen, ein Dach überm Kopf.
Sie erzählt von Familien, in denen einer Generation nach der anderen dieses
kleine Glück verwehrt wird, von Vätern, die deportiert wurden und als Wracks
zurückkehrten, von Müttern, die mit ihren Kindern obdachlos durch die
Sowjetstädte ziehen, von Kriegsversehrten und Gefolterten, von der Hoffnung auf
ein bisschen persönliche Freiheit und ein bisschen Wohlstand. Sie erzählt von
einem Land, in dem alle glauben sollten und keiner denken, in dem einige sich
eingerichtet hatten und andere untergingen, davon wie der Umsturz diese kleine
Einrichtung einigen zerbrach und den Glauben nahm, aber andere reich machte.
Alle Erzählungen sind vom Tod affiziert, vom gewaltsamen Tod vor der Zeit, von
der Sehnsucht nach dem Tod, weil das Leben zu schwer ist, zu ungerecht, zu
unerträglich, zu unbegreiflich. Überall unter dem gefrorenen Boden die Gebeine
der Toten, die Lager, in denen die vielen verhungerten, erfroren, abgestochen
wurden: „Ein Schritt zur Seite, und du
wirst erschossen – schaffst du es bis zum Wald, zerreißen dich die wilden
Tiere. In der Baracke konnten einen nachts die eigenen Leute erstechen. Einfach
so abstechen. Ohne Worte...nur so...So ist das Lager, jeder lebt für sich. Das
musste ich erst begreifen.“
Es
sind Menschen, die einander vertrauen müssen, weil sie nur einander haben und
doch nichts anderes gelernt haben, als dass jeder jeden verraten kann. Die
liebe Tante hat den Vater denunziert, der Onkel den Bruder, wer gestern noch
ein freundlicher Nachbar war, kann morgen einer nationalistischen Miliz
angehören, die Russen zerstückelt. Trotzdem sagen die Interviewten Worte wie: „Uns rettet nur die Menge der empfangenen
Liebe, das ist unsere Kraftreserve. Ja....Nur die Liebe rettet uns. Die Liebe,
das ist ein Vitamin, ohne das der Mensch nicht leben kann, ohne das sein Blut
gerinnt, sein Herz stehenbleibt. Ich war
Krankenschwester...Pflegerin..Schauspielerin...Ich war alles.“ Eine Kultur
ist entstanden, hat sich fortgeschrieben über die Jahrzehnte, ja vielleicht
Jahrhunderte in Russland, die das Leid verherrlichen muss, weil sie nichts
anderes hat, weil ihr nichts anderes geblieben ist.
Manche
der Frauen, die Alexjewitsch erzählen lässt, sind etwa so alt wie ich. Olga
Karimowa etwa war 1992 22 Jahre alt. (Da war ich 27.) Olga Karimowa ist in
Abchasien aufgewachsen. Sie hat dort ihre ganze Kindheit und Jugend verbracht.
Als Swetlana Alexjiwitsch mit ihr spricht, hat sie mehrere gescheiterte
Selbstmordversuche hinter sich. Sie erzählt von den ersten Russen, die getötet
wurde, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: „Der Erste...Ein schöner russischer Junge...Ausnehmend schön! Einer dem
die Abchasen sagen: ´Ein Mann zum Samenspenden.´ Er lag da, mit ein wenig Erde
bedeckt, in Turnschuhen und Militäruniform. Am nächsten Tag waren die
Turnschuhe weg.“ Olga Karimowa ist Flüchtling im eigenen Land. Wo sie
aufgewachsen ist, hat man die ihren abgeschlachtet. Sie hat in Moskau auf dem
Bahnhof und auf der Straße gelebt. Olga Karimowa flüchtet sich am Ende des
Interviews in ein Kloster.
Erwachsen
gewordene Kinder erzählen sich, wie sie zu Stalins Beerdigungsfeier antreten
mussten und um das Väterchen bittere Tränen vergossen. Der gigantische Betrug
an einer ganzen Generation: das Hungern, die Leiden, die Deportationen, alles
dient einem höheren Ganzen, dem Aufbau der Sowjetunion, dem Sieg über
Imperialismus und Kapitalismus, dem neuen Menschen. Dazu die eingetrichterte
Verachtung gegen das gute Leben: „Mich
zog es hinaus auf die Straße. Ich ging zu Militärparaden, ich liebte
Sportfeste. Noch heute erinnere ich mich an dieses Hochgefühl! Du läufst
zusammen mit allen anderen, du bist Teil von etwas Große, Gewaltigem...Dort war
ich glücklich, bei meiner Mutter nicht. Und das kann ich nie wiedergutmachen.
Meine Mutter ist bald gestorben.“ Die Mutter der kleinen Stalinistin war
ins Lager deportiert worden und sah sie erst als junge Frau wieder.
Alexijewitschs
Gesprächspartnerinnen und –partner suchen nach sich selbst, indem sie mit ihr
sprechen, indem sie sich und ihr erzählen, was ihnen widerfahren ist. Die Suche
ist anstrengend und zögerlich bisweilen, sie ist schmerzhaft und
grenzüberschreitend. Immer wieder wird sie unterbrochen, kann nicht weiter
gesprochen werden, fließen Tränen. Erinnerungen an verschollene Eltern, an
entfremdete Kinder, an den eigenen Glauben und die bittere Enttäuschung, der
Versuch, sich etwas zu bewahren, das längst im Selbstgespräch schon als Fehler,
als Irrglaube entlarvt wurde. Es muss unter den Verbrechern und mit den eigenen
Verbrechen weiter gelebt werden.
Ist
das Leben besser geworden? Wer ist immer noch Sowjetmensch? Wie soll man
ertragen, dass die Reichen und Korrupten in Eselsmilch baden? Ist der
Kapitalismus nicht genau so, wie ihn die Lehrbücher von einst beschrieben? War
Stalin doch ein Held? „Es liegt nicht an
Jelzin oder Putin, sondern daran, dass wir Sklaven sind. Sklavenseelen!
Sklavenblut! Nimm nur den ´neuen Russen´... Er steigt aus einem Bentley, hat
die Taschen voller Geld, aber er ist ein Sklave.“ Wird Vladimir Putin wie Ceaușescu
enden? Wenn es um die Zukunft geht, werden die Interviewtexte kürzer, werden
widersprüchliche Aussagen hektischer gegeneinander geschnitten.
Was bringt die
Zukunft? Swetlana Alexijewitschs Interviewpartnerinnen und –partner wissen es
nicht. Sie alle eint die Sehnsucht nach dem Tod, der sie von dem Leid erlösen
könnte, das sie erlebt und zugefügt haben, dem Leid, das sie eine gewalttätige,
von hohlen Heldensprüchen, patriarchalen Sexismen, nationalistischen
Verblendungen, sozialistischen Wahnvorstellungen und tödlichen
Märtyrerverklärungen korrumpierte Gesellschaft ausgesetzt hat, die sie selber
bilden und sind. Viele Männer sind Alkoholiker, viele Frauen depressiv. Wie
viel Verantwortung trägt vor dem düsteren Hintergrund dieser Geschichte der Einzelne,
die Einzelne für ihr verkorkstes Leben? Hoffnung spendet immer wieder allein
die Liebe, seltener die zum Partner, öfter die der Mütter. Es fällt auf, in wie
vielen Erzählungen eine enge Mutter-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt steht.
Swetlana Alexijewitsch
ergreift, trotz oder gerade durch ihre Zurückhaltung, Partei: Für die Toten,
die Zurückgelassenen, die Hinterbliebenen, die Versehrten und Entstellten. Sie
trifft eine radikale erzählerische Entscheidung, indem sie sich und den
Leserinnen den Überblick und die Einordnung versagt, die erklärende,
„Strukturen“ bloßlegende Auf- und Draufsicht der Politologin, der Philosophin,
der Historikerin, aber auch die chronologische Orientierung an einem ´Plot´,
einer schlüssigen Erzählung der Literarin. Sie hat sich entschieden. Es geht
ihr nicht um diese Art „Verstehen“, die immer nur weiter Sinn und damit Verständnislosigkeit für das je einzelne,
eigensinnige Leben produziert. Swetlana Alexijewitsch erzählt, was die
erfahren, die leben müssen, was anderen später zu Geschichte wird.
Ist das Literatur? Ich
habe mehr erfahren, als ich wissen wollte. Und es hat weh getan. Noch nie habe
ich gehungert, noch nie wurde ich körperlich misshandelt, keines meiner
Elternteile wurde deportiert, niemand in meiner Familie wurde aus politischen
Gründen inhaftiert, keine Nachbarn haben meine Freunde erschlagen und keinem
Anschlag war ich ausgesetzt; niemand hat mich glauben lassen, wenn ich leide,
habe es einen höheren Sinn, ich solle meine Kinder für Vaterland oder Sozialismus
Beine und Arme oder das Leben opfern lassen. Was ich hier über mich sage, gilt
für die überwältigende Mehrzahl meiner Generation, aufgewachsen in Westeuropa
nach 1950. Umgekehrt: Für die überwältigende Mehrheit Gleichaltriger in den
ehemaligen Sowjetrepubliken gehören traumatische Gewalterfahrungen, staatliche
Repression und bittere Armut zur kollektiven Erinnerung. Die Lektüre von
Swetlana Alexijewitschs Buch hat mir, was mir selbstverständlich erschien, als
ein unverdientes Glück offenbart. Was ich danach nicht mehr hören möchte und
kann, sind die Tiraden bundesdeutscher und anderer (Alt-)Linker, die
Menschenfeindlichkeit und Unterdrückung in der ehemaligen Sowjetunion
gleichsetzen mit „Konsumterror“ und „repressiver Toleranz“ in demokratischen
Rechtsstaaten. Ja, das ist Literatur, was Swetlana Alexijewitsch schreibt, denn
obwohl (oder gerade weil) sie sich als Autorin so sehr zurücknimmt, ist dieses
Buch erkennbar vom Anliegen eines individuellen Menschen getragen, von ihrer
ganz persönlichen Suche nach Spuren und ihrer ganz eigenen „Wahrheit“ unter den
vielen Wahrheiten über das „Secondhand-Leben“
nach der Sowjetunion.
Swetlana Alexijewitsch
hat 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Der Historiker Karl Schlögel hat in einer
herausragenden Laudatio ihr Werk, ihr literarisches Verfahren und ihre Person gewürdigt:
Hier.
Swetlana Alexijewitsch: SECONDHAND-ZEIT. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, 2013 € 27,90
Swetlana Alexijewitsch: SECONDHAND-ZEIT. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. 2013, Kindle-Edition € 20,99
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