Lobhudelei auf die Literatur-Nobelpreisträgerin 2013
ALICE MUNRO
Eva Menasse in Die ZEIT vom 17. Oktober 2013:
"Den Leser, der eine ihrer Erzählungen liest und mit einem Schulterzucken weglegt, den will ich mir nicht einmal vorstellen. Der verdient den Ehrentitel ´Leser´ gar nicht. Ein richtiger, anständiger Leser (in achtzig Prozent der Fälle sowieso: eine Leserin) entwickelt meistens eine schwere Munro-Sucht, die erst ein halbes Jahr und mehrere Bände später zu einem erschöpft-glücklichen Zwischenhalt kommt. Ab dann lebt man mit ihr und an der Hand ihrer Geschichten weiter, beschützt und klüger.
02. August 2011
Bettina von Arnim: Die Günderode
Alles Erhabne und Schöne ist Eigentum der Seele, die es erkennt, und durch die Erkenntnis ist sie schutzverpflichtet. Alles ist der Teufel, es sei denn reine, freie Gewissenswahrheit, und ich weiß keine höhere Anweisung für den Geist als: frag dich selber! und wenn da einer nicht das Rechte findet, so ist er ein Esel, und alles, was sich Schreckendes dem inneren Willen entgegenwirft, das muss bekämpft und verachtet werden, er ist der Ritter, der das Wasser des Lebens zwischen feuerspeienden Drachen und eisernen Riesen schöpft, vor seiner Verachtung werden sie ohnmächtig. In Feenmärchen ist die heiligste Politik und auch die mächtigste; ich wollt der größte Staatsmann werden und die ganze Welt unter meinen Fuß bringen, bloß dass die blaue Bibliothek mein geheimer Kabinettrat wär; und die Leut würden sich erstaunen, was ich für Weisheit besäß.-
01. Juni 2011
Patti Smith: Babelogue
"I haven't fucked much with the past, but I've fucked plenty with the future. Over the skin of silk are scars from the splinters of stations and walls I've caressed. A stage is like each bolt of wood, like a log of Helen, is my pleasure. I would measure the success of a night by the way by the way by the amount of piss and seed I could exude over the columns that nestled the P.A. Some nights I'd surprise everybody by skipping off with a skirt of green net sewed over with flat metallic circles which dazzled and flashed. The lights were violet and white. I had an ornamental veil, but I couldn't bear to use it. When my hair was cropped, I craved covering, but now my hair itself is a veil, and the scalp inside is a scalp of a crazy and sleepy Comanche lies beneath this netting of the skin. I wake up. I am lying peacefully I am lying peacefully and my knees are open to the sun. I desire him, and he is absolutely ready to seize me. In heart I am a Moslem; in heart I am an American; in heart I am Moslem, in heart I'm an American artist, and I have no guilt. I seek pleasure. I seek the nerves under your skin. The narrow archway; the layers; the scroll of ancient lettuce. We worship the flaw, the belly, the belly, the mole on the belly of an exquisite whore. He spared the child and spoiled the rod. I have not sold myself to God." 03. Februar 2011
20. Mai 2011
Janet Frame: towards another summer
"I´m a migratory bird. Stork, swallow, nightingale, cuckoo, shearwater. Sooty shearwater - you remember they lie in burrows, you catch them down south, and they cover your mouth and face with dark brown grease, it´s like eatin earth made into flesh and fat, and afterwards you´re so heavy you seem to sink into a fat-swilled grave, deep, warm as a mutton-bird burrow - there, I´ve said it. Muttonbird. No. Sooty shearwater. And there´s the Maori name titi, old Jimmy Wanaka knew it, he was my father´s oldest friend, the first Maori engine-driver in the country - you remember the weekends they fished together for salmon, the time they left their fish in the engine shed ´out the Waitaki´ while they went for a meal, and the fish was stolen, and mother composed the inevitable ditty."
03. Januar 2011
Eva Strittmatter: Liebe
Wie furchtbar auch die Flamme war,
In der man einst zusammenbrannte,
Am Ende bleibt ein wenig Glut.
Auch uns geschieht das Altbekannte.
Am Ende bleibt ein wenig Glut.
Auch uns geschieht das Altbekannte.
Daß es nicht Asche ist, die letzte Spur von Feuer,
Zeigt unser Tagwerk. Und wie teuer
Die kleine Wärme ist, hab ich erfahren
In diesem schlimmsten Jahr
Von allen meinen Jahren.
Wenn wieder so ein Winter wird
Und auf mich so ein Schnee fällt,
Rettet nur diese Wärme mich
Vom Tod. Was hält
Mich sonst? Von unserer Liebe bleibt: daß
Wir uns hatten. Kein Gras
Wird auf uns sein, kein Stein,
Solange diese Glut glimmt.
Zeigt unser Tagwerk. Und wie teuer
Die kleine Wärme ist, hab ich erfahren
In diesem schlimmsten Jahr
Von allen meinen Jahren.
Wenn wieder so ein Winter wird
Und auf mich so ein Schnee fällt,
Rettet nur diese Wärme mich
Vom Tod. Was hält
Mich sonst? Von unserer Liebe bleibt: daß
Wir uns hatten. Kein Gras
Wird auf uns sein, kein Stein,
Solange diese Glut glimmt.
Solange Glut ist,
Kann auch Feuer sein ..
Kann auch Feuer sein ..
22. Dezember 2010
Elisabeth Paulsen: Einer weiß um mich
Einer weiß um mich.
Er ist in meinem Herzen gewesen
Und hat die Inschriften
Seiner Wände gelesen.
Er deutete mir
Die Hieroglyphen:
Waage und Fisch und Dreieck und Baum.
Er sagte: mein Herz wäre seine Pyramide
Und er schliefe in ihr
Seinen Pharaonentraum.
Über Elisabeth Paulsen hier:
11. November 2010
Elizabeth Barett Browning: If Thou must love me, let it be for nought (Sonnet 14)
| ||
If thou must love me, let it be for nought
Except for love's sake only. Do not say,
"I love her for her smile—her look—her way
Of speaking gently,—for a trick of thought
That falls in well with mine, and certes brought
A sense of pleasant ease on such a day"—
For these things in themselves, Belovèd, may
Be changed, or change for thee—and love, so wrought,
May be unwrought so. Neither love me for
Thine own dear pity's wiping my cheeks dry:
A creature might forget to weep, who bore
Thy comfort long, and lose thy love thereby!
But love me for love's sake, that evermore
Thou mayst love on, through love's eternity.
|
10. November 2010
GEORG TRAKL: MELUSINE
Wovon bin ich nur aufgewacht?Mein Kind, es fielen Blüten zur Nacht!Wer flüstert so traurig, als wie im Traum?Mein Kind, der Frühling geht durch den Raum.O sieh! Sein Gesicht wie tränenbleich!Mein Kind, er blühte wohl allzu reich.Wie brennt mein Mund! Warum weine ich ?Mein Kind, ich küsse mein Leben in dich!Wer faßt mich so hart, wer beugt sich zu mir?Mein Kind, ich falte die Hände dir.Wo geh' ich nur hin? Ich träumte so schön!Mein Kind, wir wollen in Himmel gehn.Wie gut, wie gut! Wer lächelt so leis'Da wurden ihre Augen weiß -Da löschten alle Lichter ausUnd tiefe Nacht durchwehte das Haus.
Daher stammt die Titelzeile der Heilmann-Geschichten: "Ich küsse mein Leben in dich" (Die Marten-Ehen.
08. November 2010
Bettina von Arnim: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde
Wir alle sollen Könige sein; und je widerspenstiger, je herrischer der Knecht in uns, je herrlicher wird sich die Herrscherwürde entfalten, je kühne und gewaltiger der Geist, der überwindet.
01. November 2010
Marjana Gaponenko: Der gute Satan II
(Der Verwundete)
Mein Name ist nicht Ruth.
Nicht Ruth ist mein Name.
Ich heiße Blume, Stein, Kristall.
Ich heiße alles außer Ruth.
Weil du sie liebst. Du sagst:
Ich liebe nun auch sie.
Nicht Ruth ist mein Name.
Ich heiße Blume, Stein, Kristall.
Ich heiße alles außer Ruth.
Weil du sie liebst. Du sagst:
Ich liebe nun auch sie.
Umsonst will ich vor Worten fliehen,
die du in deinen Mund nimmst,
die du mit deinem Mund berührst.
So wie die Welt ist Liebe überall.
Ich renne vor mir weg
und hol´ mich dauernd ein.
die du in deinen Mund nimmst,
die du mit deinem Mund berührst.
So wie die Welt ist Liebe überall.
Ich renne vor mir weg
und hol´ mich dauernd ein.
So wie der Tod ist diese Frau überall.
Sie könnte ich sein
und deine weiße Hand auf ihr …
Ist alles einerlei, ob hier, ob da,
ob du sie in den Armen hältst,
oder das Leben selbst -
Sie könnte ich sein
und deine weiße Hand auf ihr …
Ist alles einerlei, ob hier, ob da,
ob du sie in den Armen hältst,
oder das Leben selbst -
zum Leben kommst du nur durch mich.
Ich bin es, Kind.26. Oktoberber 2010
Peter Weiss: Ästhetik des Widerstands
Zwei verschiedene Realismusauffassungen stießen aneinander (...). Die schmerzliche Verunstaltung des Menschen unter der Wucht der Destruktion widersprach der Ansicht der Partei, dass der Kämpfende in jeder Lage seine Stärke und Einheit beizubehalten habe. Da waren groteske Züge, gleichsam kindlich gekritzelt, sie waren, wie es hieß, ungeeignet, die Sache des Proletariats zu vertreten. Die antagonistischen, zur Synthese gebundenen Kräfte im Bild entfesselten einen heftigen Streit, ehe die Lehre, die Picasso erteilte, dem Nachdenkenden verständlich wurde. Die äußere Schicht der Wirklichkeit war abgehoben worden. Unterdrückung und Gewalt, Klassenbewusstsein und Parteilichkeit, Todesschrecken und heroischer Mut zeigten sich in ihren elemenatren, dynamischen Funktionen.
25. Oktober 2010
Marjana Gaponenko: Annuschka Blume
Über Sentimentalität
"Sentimentalität, Piotr Michailowitsch", sagten Sie zu mir, "ist die Erkenntnis, dass man zärtlich ist, und wenn einen diese Erkenntnis plötzlich niederschlägt."
20. Oktober 2010
BETTINA VON ARNIM
Leben ist Schmerz, aber das wir nur so viel Leben haben, als unser Geist verträgt, so empfinden wir diesen Schmerz gleichgültig, wär´ unser Geist stark, so wär´ der stärkste Schmerz die höchste Wollust.
15. September 2010
BETTINA VON ARNIM: EROS
Eros
Im Bett der Rose lag er eingeschlossen,
Im Wechselschimmer ihrer zarten Seiten,
Die taugebrochnen Strahlen schmeichelnd gleiten
Hinein zu ihm, von Geisterhauch umflossen.
Mich dünkt, in Schlummer waren hingegossen
Die reinen Glieder, durch des Dufts Verbreiten
Und durch der Biene Summen, die zuzeiten
Vorüberstreift an zitternden Geschossen.
Doch da beginnt mit einemmal zu schwellen
Der Blume Kelch! Ins Freie nun gehoben,
Erkenn ich ihn im Tagesglanz, dem hellen.
Es ist mein Auge vor ihm zugesunken,
Der mich so seltsam mit dem Blick umwoben,
In seinem Lichte lieg ich traume-trunken.
30. August 2010
Dietrich Bonhoeffer: Über Wahrheit
Was heißt es, dass unser Wort war sein müsse? Was heißt, die Wahrheit sagen? Es heißt sagen, wie eine Sache in Wirklichkeit ist. Je nachdem zu wem ich spreche, muss mein Wort, wenn es wahrheitsgemäß sein will, ein verschiedenes sein. Das wahrheitsgemäße Wort ist nicht eine in sich konstante Größe, sondern ist so lebendig wie das Leben selbst. Wirkliche Wahrheit unterscheidet sich von jeder phrasenhaften Wahrhaftigkeit dadurch, dass sie etwas ganz Bestimmtes will, dass etwas geschieht - nämlich dass sie den Menschen löst, frei macht. Dass sie dem Menschen auf einmal die Augen darüber öffnet, dass er bisher in der Lüge und in der Unfreiheit und Angst gelebt hat und ihm so die Freiheit zurück gibt.
19. August 2010
Dietrich Bonhoeffer: Luthers Weg aus dem Kloster
Luthers Weg aus dem Kloster zurück in die Welt bedeutete den schärfsten Angriff, der seit dem Urchristentum auf die Welt geführt worden war. Die Absage, die der Mönch der Welt gegeben hatte, war ein Kinderspiel gegenüber der Absage, die die Welt durch den in sie Zurückgekehrten erfuhr.
18. August 2010
Pablo Neruda: Ode und frisches Keimen
...Und weil Liebe kämpft nicht nur
auf eignem heißem Feld,
sondern im Mund auch von Männern und Frauen
darum will ich denen entgegentreten,
die zwischen meine Brust und deinen Duft
ihre finstere Fußsohle setzen wollen.
...
16. August 2010
Wallace Stevens: The anatomy of monotony
The body walks forth naked in the sun
And, out of tenderness or grief, the sun
Gives comfort, so that other bodies come,
Twinning our phantasy and our device,
and apt in versatile motion, touch and sound
To make the body covetous in desire
Of the still finder, more implacable chords.
So be it. Yet the spaciousness and light
In which the body walks and is deceived,
Falls from the fatal and that barer sky,
And this the spirit sees and its aggrieved.
08. August 2010
ÜBER FREUNDSCHAFT (ERNST BLOCH: DAS PRINZIP HOFFNUNG)
Alle Kinder werden allein geboren, aber stets miteinander groß. Gerade die frühesten Menschen lebten gesellig, machten eine Gruppe aus. Der Einzelne war hier der Ausgestoßene, das bedeutete in den Zeiten der vollkommenen Wildnis: der Untergehende. Der Stamm war der Halt des Leibs, der Inhalt des schwach entwickelten Ichs. Folglich steht zwar am organischen Anfang ein auf sich bezogenes Leib-Ich, aber am geschichtlichen Anfang steht die Gemeinschaft. Und zu ihr gehen in Zeiten, wo sie bedroht ist, ebenso heiße Wünsche wie zur Einsamkeit. Wünsche der Geborgenheit, die dann nicht einmal im Widerspruch zur Einsamkeit zu stehen brauchen, sondern sie einbeziehen, mindestens in den kleinen, warmen Kreis von Freundschaft. Diese ist zugleich das wichtigste Stück einer auf Dauer und Gewohnheit angelegten Liebe...
05. August 2010
Gottfried Böhm: Jenseits der Sprache
(aus: derselbe: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens)
Jenseits der Sprache existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges, der Geste, der Mimik und der Bewegung. Sie benötigen keine Nachbesserung oder nachträglichen Rechtfertigung durch das Wort. Der Logos ist eben nicht nur die Prädikation, die Verbalität und die Sprache. Sein Umkreis ist bedeutend weiter. Es gilt ihn zu kultivieren.
04. August 2010
Friedrich Wilhelm Schelling
"Das Wesentliche der Tragödie ist ein wirklicher Streit der Freiheit im Subjekt und der Notwendigkeit als Objekt. Welche Streit sicher nicht damit endet, dass der eine oder der andere unterliegt, sondern dass beide siegend und besiegt zugleich in der vollkommenen Indifferenz erscheinen. Der Streit um Freiheit und Notwendigkeit ist wahrhaft nur da, wo diese den Willen selbst untergräbt und Freiheit auf ihrem eigenen Boden bekämpft wird."
Frage: Lässt sich das auf den Freitod anwenden? Die Implosion des Subjekts unversöhnt zwischen Freiheit und Notwendigkeit?
03. August 2010
Christina von Braun: Nicht-Ich. Logik. Lüge. Libido
Die Utopien …nehmen in den verdrängten, removierten Erinnerungen der Hysteriker Form an…Die Erinnerung, die auf diese Weise bewahrt bleibt, ist nicht die an ein verlorenes Paradies, an eine “heile” Welt, sondern eine ganz andere: es ist das Wissen um die “Unvollständigkeit” des menschlichen ´ichs´; es ist die Erinnerung an zwei gespaltene Sexualwesen, an Sexualität und Sterblichkeit selbst. Kurz, es ist eine Utopie des Bewusstseins. Die Tatsache, dass es vor der Entstehung der Schrift Kulturen gab, die das Bewusstsein menschlicher “Unvollständigkeit” bewahrten, bedeutet nicht, dass diese Kulturen das Paradies waren, in das sie oft verwandelt werden. Die “spiegelbildliche” Vorstellungswelt vermittelt nicht die Geborgenheit, die das abendländische Denken so gerne projiziert. Aus unserer Sicht erscheint sie vielmehr als Ausdruck eines Denkens, in dem die menschliche Unvollständigkeit gegenwärtig ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn immerhin haben diese Kulturen selbst das Instrumentarium entwickelt, mit dessen Hilfe der Mensch sich aus seinem Bewusstsein der Unvollständigkeit herauszulösen vermochte: die Schrift.
16. Juli - 31. Juli
HITZEFREI
Joachim Ringelnatz: Brief in die Sommerfrische
Ich habe so Sehnsucht nach Dir.
Weil alles so gut stehtAuf unserem Gemüsebeet.
Und Du bist in England. Nicht hier
Bei mir.
Frau heißt auf Englisch „wife“;
Muß man, um das zu lernen,
Sich so weit und so lange entfernen?
Bei uns ist alles Gemüse reif.
Muß man, um das zu lernen,
Sich so weit und so lange entfernen?
Bei uns ist alles Gemüse reif.
Meinst du, daß ich das allein
Esse? Kommt gar nicht in Frage.
Und so vergehen die Tage.
Könnte doch zu zweit so billig sein.
Esse? Kommt gar nicht in Frage.
Und so vergehen die Tage.
Könnte doch zu zweit so billig sein.
Bis August und noch September vergeht,
Ist alles verfault auf dem Beet.
Aber Englisch ist wichtiger als Gemüse,
Das es schließlich auch in Büchsen gibt.
Und ich gönne dir das alles sehr. Grüße
Dich!
Ist alles verfault auf dem Beet.
Aber Englisch ist wichtiger als Gemüse,
Das es schließlich auch in Büchsen gibt.
Und ich gönne dir das alles sehr. Grüße
Dich!
Dein Mann (einsam in Dich verliebt).
15. Juli
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra
14. Juli
MARIA VON HERBERT (BRIEFWECHSEL MIT KANT)
metaphysik der Sitten hab ich gelesen samt den Kategorischen imperatif, hilft mir nichts, meine Vernunft verlast mich wo ich sie am besten brauch eine antwort ich beschwöre dich, oder du kannst nach deinen aufgesezten imperatif selbst nicht handeln.
13. Juli
Bazon Brock: Totalkunst (aus: Die Gottsucherbande)
Totalkunst radikalisiert die Beziehung zwischen Fiktion und Realität. Sie demonstriert die Konsequenzen, die sich ergeben würden, wenn man wort- und bildgläubig die Entwürfe der Gesamtkunstwerke in die Lebensrealität vieler, ja aller Menschen umsetzen würde. Das Mittel, mit dem Totalkunst diese Radikalisierung erreicht, kann man als Symptomverordnung verstehen. Man versucht, der Begriffs- und Bildgläubigkeit als Ursache des Totalitarismus dadurch entgegenzuwirken, dass man sie ins Extrem treibt, bis mit wünschenswerter Klarheit die grausamen Konsequenzen erfahrbar werden. Von diesen Konsequenzen zeigt sich der Totalkünstler bis zur Selbstvernichtung betroffen.
12. Juni
Uwe Johnson: Jahrestage
"Cresspahls Tochter lebte in New York, als er starb im Herbst 1962. Amerika ist mir zu weit zum Denken. Foenundsoebentich is nauch."
11. Juli
Doris Runge
mondäugig
sucht er mich
heim heimlich
brechen
die blutbeeren auf
erkalten
die maulbeeren
die bittersüßen
fallen
aus seinen fledermausfalten
lichtscheu die morgen
grauen weichgepanzerte
asseln unterm blutstein
10. Juli
Johann Wolfgang Goethe
Blick um Blick
Wenn du dich im Spiegel besiehst
Denke daß ich diese Augen küßte
Und mich mit mir selber entzweien müßte
Sobalde du mich fliehst:
Denn da ich nur in diesen Augen lebe,
Du mir gibst was ich gebe,
So wär´ ich ganz verloren,
Jetzt bin ich immer wie neu geboren.
9. Juli
Markus A. Hediger: Krötenkarneval
Über Engel:
"Ausgehend von ihrer Funktion wage ich die Schlussfolgerung, Engel seien keine sprachlichen Wesen. Sie reden, aber sie verstehen nicht."
8. Juli
Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas
Das Erforschliche in Worte sieben; das Unerforschliche ruhig veralbern: Ein Baum krümmte sich in der Einöde; es drehte ihm alle Blätter um; schwarze Vögel traten aus den Zweigen und schriee; den gleichmäßig sprudelnden Himmel an.
7. Juli
Umberto Eco: Semiotik
Die Sprache untersuchen heißt nur die Sprache befragen, sie leben lassen. Die Sprache ist niemals das, was gedacht wird, sondern das, indem gedacht wird.
6. Juli
ERNST BLOCH (Rede in der Paulskirche)
Oft gibt sich schon als friedlich, was nur feige und verkrochen ist.
5. Juli
Markus Zusák: Sex sollte wie Mathe sein
Ich persönlich finde, Sex sollte wie Mathe sein. In der Schule. Keinen kümmert es, wenn er in Mathe ein Versager ist. Man brüstet sich sogar damit. Man sagt jedem, der es hören will: "Klar, Bio und Englisch sind ganz ok., aber in Mathe bin ich die Vollniete! Diesen ganzen Logarithmusscheiß kapier ich im Leben nicht."Genau das Gleiche sollte man zum Thema Sex sagen können. Man sollte stolz verkünden dürfen: "Diesen ganzen Orgasmusscheiß kapier ich im Leben nicht, echt jetzt. Alles andere ist ja ganz ok., aber in dieser Beziehung habe ich nicht den blassesten Schimmer." Aber das sagt niemand. Das kann man nicht sagen. Besonders als Mann nicht.
4. Juli
DECLARATION OF INDEPENDENCE
We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.
3. Juli
HEINRICH VON KLEIST
Die Wahrheit ist, dass ich das, was ich mir vorstelle, schön finde, nicht das, was ich leiste. Wäre ich zu etwas anderem brauchbar, so würde ich es von Herzen ergreifen: ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann.
2. Juli
Heinrich Heine
Ich habe mit dem Tod in der eigenen Brust
den sterbenden Fechter gespielet.
1. Juli
Paulus: 1. Brief an die Korinther
Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
28. und 29. Juni 2010
Vilém Flusser: Die Schrift
Während wir auf die von der untergehenden Sonne des Alphabets noch immer ein wenig angeleuchteten Bilder starren, geht in unserem Rücken etwas Neues auf, dessen erste Strahlen bereits unsere Szenerie betreffen. Ähnlich den Sklaven in Platons Höhle müssen wir uns umdrehen, um diesem Neuen die Stirn zu bieten.
27. Juni 2010
Jane Austen: Persuasion
She tried to be calm, and leave things to take their course and tried to dwell much on this argument of rational dependance - ´Surely, if there be constant attachment on each side, our hearts must understand each other ere long. We are not boy and girl, to be captiously irritable, misled by every moment´s inadvertence, and wantonly playing with our own happiness.
25. und 26. Juni 2010
Friedrich Hölderlin: IM WALDE
Du edles Wild.Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet sich ein ins verschämte Gewand, denn inniger ist achtsamer auch und daß er bewahre den Geist, wie die Priesterin die himmlische Flamme, dies ist sein Verstand. Und darum ist die Willkür ihm und höhere Macht zu fehlen und zu vollbringen dem Götterähnlichen, der Güter Gefährlichstes, die Sprache dem Menschen gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden, zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was er sei geerbet zu haben, gelernt von ihr, der Göttlichsten, die allerhaltende Liebe.
24. Juni 2010
Gerald Massey: O Lay Thy Hand In Mine Dear
We´re growing old;
But time hath brought no sign, dear,
That hearts grow cold.
´T is long, long since our new love
Made live divine;
But age enricheth true love,
Like noble wine.
23. Juni 2010
Martin Opitz
Epigramma
mit Fewer / schärfe / sturm / mein Augen / Hertze / Sinn.
22. Juni 2010
auch heute:
Janet Frame: Poems
Mr Universe
as his own victim.
In the newspapers and the comic strips
the panic balloons are rising like flares from his lips
in deadly simple navigation to express
his need, his pain and cold:
Help, Och, Br-r-r.
He is Mr Universe of the gonging biceps.
His brute head when the swarm of thought is over wears
the whistling helmet of an empty hive.
And soon, they say, his body as the whipped steed
of cylinders will ride to neigh at the moon
his need his pain and cold
- Help, Ouch, Br- r-r--
in secret hope of answer.
21. Juni 2010
immer noch (wieder):
Janet Frame: Poems
These Poets
These poets command the familiar working of
their merry-go-round of words and postures known.
Their pony or wild tiger syllabels hop
terribly up and down in usual tune.
May quick Caesarian insight bring them word-cub
whimpering: toppling foal of poem one moment born.
20. Juni 2010
again, again:
Janet Frame: Poems
Sunday Morning
I did not decide this
or prepare a statement
to astonish; it is always
my pleasure on Sundays
looking out of my window
at the petal-white Dunedin light
to trace the green stalk
to its roots in the sea,
then say as the tentacles
take hold and I drown,
the oxygen of silence withheld -
salt water is poetry
not mine but the provider´s
whom I thank by reading
and wish never again to breathe
the silent air.
19. Juni 2010
und wieder:
Janet Frame: The Lagoon & other stories
This story came last night. Everything is always a story, but the lovelies ones are those that get written and are not torn up and are taken to a friend as payment for listening, for putting a wise ear to the keyhole of my mind.
18. Juni 2010
(Heute kein Gedicht, kein Textausschnitt, kein Satz, sondern eine Frage)
Martha Nussbaum: Konstruktion der Liebe
Wir können fragen, welche Formen der erotischen Liebe mit unseren sonstigen Bindungen vereinbar sind und welche nicht, also mit unseren Bindungen an Gerechtigkeit, Gleichheit, produktive Arbeit sowie an sonstige Formen der Liebe und Freundschaft.
17. Juni 2010
Janet Frame: The Footballer in the Small Room
Now the roars through an unlit stadium of silence
A curve of pain in his head
corresponds to this teamless loneliest game
where his blood has less worth than orange juice,
but the spectator walls do not know his name.
16. Juni 2010
James Montgomery: The OCEAN
All hail to the ruins, the rocks and the shores!
Thou wide-rolling Ocean, all hail!
15. Juni 2010
Mechthild von Magdeburg
Die Wüste hat zwölf Ding
Du sollst minnen das Nicht,
Du sollst fliehen das Icht.
Du sollst alleine stahn.
Und du sollst zu niemand gahn.
Du sollst sehre unmüßig sein
Und von allen Dingen frei sein.
Du sollst die Gefangenen entbinden
Und die Freien zwingen.
Du sollst die Siechen laben
Und sollst doch selbst nichts haben
Du sollst das Wasser der Pein trinken
Und das Feuer der Minne mit dem Holz der Tugend entzünden,
So wohnst Du in der wahren Wüste.
14. Juni 2010
Franziska zu Reventlow: Amouresken
Nein, wenn ich mich überhaupt darauf einlasse, mein eigenes Alter mitzuerleben (was mir noch sehr fraglich ist)...dann will ich wenigstens eine dankbare Rolle spielen, eine sehr angenehme alte Dame sein mit möglichst wenig Falten und möglichst weißem Haar - und einen reizenden Salon haben mit einem Kaminfeuer. Um den Kamin versammeln sich abends die alten Freunde, müde galante Herren mit Krückstöcken, und man unterhält sich von einstigen Faiblessen.
Denken Sie nur, was wir uns dann alles erzählen werden - alles, was jetzt noch verschwiegen bleibt. (...) Ja, dann wird das Teegespräch erst seine höchste Blüte erreichen. Danken wir Gott, dass es noch nicht so weit ist...
13. Juni 2010
Heinrich Heine: Die Harzreise
"Im Traume kam ich wieder nach Göttingen zurück, und zwar nach der dortigen Bibliothek. Ich stand in einer Ecke des juristischen Saals, durchstöberte alte Dissertationen, vertiefte mich im Lesen, und als ich aufhörte, bemerkte ich zu meiner Verwunderung, dass es Nacht war und herabhängende Kristalleuchter den Saal erhellten. Die nahe Kirchenglocke schlug eben zwölf, die Saaltüre öffnete sich langsam und herein trat eine stolze, gigantische Frau, ehrfurchtsvoll begleitet von den Mitgliedern und Anhängern der juristischen Fakultät. Das Riesenweib, obgleich schon bejahrt, trug dennoch im Antlitz die Züge einer strengen Schönheit, jeder ihrer Blicke verriet die hohe Titanin, die gewaltige Themis, Schwert und Waage hielt sie nachlässig zusammen in der einen Hand, in der anderen hielt sie eine Pergamentrolle, zwei junge Doctores juris trugen die Schleppe ihre grau verblichenen Gewandes; an ihrer Rechten Seite sprang windig hin und her der dünne Hofrat Rusticus, der Lykurg Hannovers und deklamierte aus seinem neuen Gesetzesentwurf; an ihrer linken Seite humpelte, gar galant und wohlgelaunt, ihr Cavaliere servente, der Geheime Justizrat Cujacius, und riß beständig juristische Witze und lachte selbst darüber so herzlich, dass sogar die ernste Göttin sich mehrmals lächelnd zu ihm herabbeugte, mit der großen Pergamentrolle ihm auf die Schulter klopfte und freundliche flüsterte: "Kleiner, loser Schalk, der die Bäume von oben herab beschneidet." (...) das allgemeine Schwatzen und Schrillen und Schreien, das, wie Meeresbrandung, immer verwirrter und lauter, die hohe Göttin umrauschte, bis diese die Geduld verlor und in einem Tone des entsetzlichsten Riesenschmerzes plötzlich aufschrie: "Schweigt! schweigt! ich höre die Stimme des teure Prometheus, die höhnende Kraft und die stumme Gewalt schmieden den Schuldlosen an den Marterfelsen, und all euer Geschwätz und Gezänke kann nicht seine Wunden kühlen und seine Fesseln zerbrechen!" So rief die Göttin, und die Tränenbäche stürzten aus ihren Augen, die ganze Versammlung heulte wie von Todesangst ergriffen,(...) und ich stürzte zu Füßen der Schönheitsgüttin, in ihrem Anblick vergaß ich all das wüsten Treiben, dem ich entronnen, meine Augen tranken entzückt das Ebenmaß und die ewige Lieblichkeit ihres hochgebendeiten Leibes, griechische Ruhe og durch meine Seele, und über mein Haupt, wie himmlischen Segen, goß seine süßesten Lyraklänge Phöbus Apollo."
12. Juni 2010
Karl Kraus: Gemütlich bin ich selbst
Es gibt Männer, die man mit jeder Frau betrügen könnte.
11. Juni 2010
Orhan Pamuk: Istanbul
Ich empfand es damals als Schwäche, sich dem Ort, an dem man lebte, seiner Familie, vor allem aber seiner Stadt nicht hinreichend zugehörig zu fühlen. Während die ganze Stadt im "Wir-Gefühl" badete, im Kumpelhaften, in Stadionstimmung, war ich von alledem wie abgeschnitten. Aus Furcht aber, das Einsame und Dunkle, das mich umfing, könnte zum ständigen Lebensstil werden, beschloss ich, lieber wie alle anderen zu werden.
10. Juni 2010
Karl-Otto Hondrich:
Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft
Der Weg in die Freiheit ist immer auch einer in Unfreiheit, Unsicherheit, Ungeborgenheit. (...) Zwei Menschen, die ihre Bindung auflösen, bringen sich selbst um Geborgenheit.
09. Juni 2010
Rolf Dieter Brinkmann: Wie ein Pilot (1968)
Durch eine völlig
glatte Fläche
ganz aus mono-
chromem Blau segelt
da oben der Pilot.
Man sieht und denkt
das gleichzeitig in
einem Bild zusammen
das mit einem Ruch
verschwindet. Später
sagt man sich, dass
man es selbst gewesen
ist, der dort als
winzig kleiner Punkt
verschwunden ist
wie ein Pilot.
(Dazu hören: http://www.youtube.com/watch?v=xF9hC0VLAGg, s. auch Musik: The Notwist: Pilot)
08.Juni 2010
Jane Austen: Persuasion
Yes, yes, if you please, no reference to examples in books. Men have had every advantage of us in telling their own story. Education has been theirs in so much higher a degree; the pen has been in their hands. I will not allow books to prove anything.
(Das sollte frau vor allem bedenken, wenn Männer sich über eine Frauengestalt schreiben: Madame Bovary, Effi Briest, Anna Karenina. Vergiss es nie!)
07. Juni 2010
Jim Morrison: The winter is coming
They got the guns
But we got the numbers
Gonna win, yeah
We´re takin´ over
Com on
06. Juni 2010
ALICE MUNRO: MESSENGER
04. Juni 2010
Karoline von Günderode: Die Töne
Ihr tiefen Seelen, die im Stoff gefangen
Nach Lebensode, nach Befreiung ringt;
Wer löset eure Bande dem Verlangen
Das gern melodisch aus der Stummheit dringt?
Wer, Töne, öffnet eurer Kerker Riegel?
Und wer entfesselt eure Ätherflügel?
Einst, da Gewalt den Widerstand berühret,
Zersprang der Töne alte Kerkernacht,
Im weiten Raume hier und dort verirret,
entflohen sie der Stummheit nun erwacht,
Und sie durchwandelten den blauen Bogen
Und jauchzten in den Strum der wilden Wogen.
Sie schlüpften flüsternd durch der Bäume Wipfel
Und hauchten aus der Nachtigallen Brust,
Mit mut´gen Strömen stürzten sie vom Gipfel
Der Felsen sich in wilder Freiheitslust,
Sie rauschten an des Menschen Ohr vorüber,
Er zog sie in sein Innerstes hinüber.
Und da er unterm Herzen sie getragen,
Heißt er sie wandelnd auf der Lüfte Pfad
Und alles den verwandten Seelen sagen,
Wie liebend sie sein Geist gepfleget hat.
Harmonisch schweben sie aus ihrer Wiege
Und wandeln fort und tragen Menschenzüge.
03. Juni 2010
KATICA KJULAVKOVA: Reise von mir zu dir
Liebe Reisende
die Zeit ist ziemlich schwer
das Ziel unerreichbar
wir fliegen in gefährlichen Höhen
seelenbrecherisch schnell
ein paar Illusionen noch
und wir sinken
an den Anfang
grübelt nicht
verlaßt nicht den Sitz
bevor nicht völlig endet
die Arbeit des Herzens
Achtung!
Im Liebesmangel
öffnet sich die Rose
des Körpers instinktiv
fallt frei
die Gesetze gelten nicht!
02. Juni 2010
UWE JOHNSON: JAHRESTAGE
Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind und ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind, das ich war.
01. Juni 2010
PETER WEISS: ÄSTHETIK DES WIDERSTANDS
In seinem Wesen eher konservativ , stellte der Künstler sich doch in die vorderste Reihe der Revolutionäre, er war seiner Rolle noch nicht ganz gewachsen, er kniete, leicht zurückweichend, wie nach einer Stütze hinter sich suchen, das Gewehr ängstlich in den Händen, den Finger unbeholfen am Hahn, und dieser Augenblick drückte eine ganze Lebenssituation aus. Was er wiedergab, war ein Wunschbild und besaß deshalb auch etwas von der Absonderlichkeit des Traums, es war seinem Gesicht anzumerken, dass er eigentlich nicht hierher gehörte, verwundert, im überaus real Gemalten, sich der eignen Handlung kaum bewusst und sie bald auch widerrufend, nahm er, visionär, die Position eines Zukünftigen ein.
31. Mai 2010
THEODOR FONTANE: DER STECHLIN
Auf dem Sinai hat nun schon lange keiner mehr gestanden, und wenn auch, was der liebe Gott da oben gesagt hat, das schließt eigentlich auch keine großen Rätsel auf. Es ist alles sehr diesseitig geblieben; "du sollst, du sollst", und noch öfter "du sollst nicht". Und es klingt eigentlich alles, wie wenn ein Nürnberger Schultheiß gesprochen hätte.
30. Mai 2010
Hans Henny Jahn: FLUSS OHNE UFER
Es bereuen? Ich kann nicht bereuen, der zu sein, der ich geworden bin. Mich dessen schämen? - Ich werde die Scham verlieren müssen. Mich bessern? - Wo könnte ich das Bessere finden? ...
Was hilft es, wenn ich mich der Tatsachen nicht erinnere? Nicht des Himmels, nicht der Erde, nicht der Natur, die sich mir zuneigte? (...) Nicht des Schlimmen, nicht der Gefahren, nicht der Verstrickungen und Auflösungen? Nicht des Schauplatzes? Wenn ich mich weigerte, mich zu erinnern. Bereute?2 Und mein Leben, das mein war und ist, nicht mehr wollte?
Ich muss die Erinnerung wollen. Sie ist mein Maß. ...
Ich erkenne meine Verwirrung; aber ich schreibe doch. Ich habe einen Plan.
9. Mai 2010
Theodor Fontane: UNWIEDERBRINGLICH
Man kann glücklich leben und man kann unglücklich leben und Glück und Unglück können zu hohen Jahren kommen. Aber diese Resignation und dieses Lächeln - das dauert nicht lange.
28. Mai 2010
Hans Blumenberg:
Ob man sagen darf: "Ich habe Angst!"
Darf man zu einem anderen sagen: "Ich habe Angst?" Die Frage klingt oberflächlich, wenn man voraussetzen darf, es sei wahr.
Dennoch meine ich nicht nur, sondern bestehe darauf, dass dies zu sagen unzulässig, ja unsittlich ist.
Der Grund: Es gibt auf dieses Eingeständnis keine Erwiderung, keine Einstellung, keine Chance des Trostes, der Hilfe. Was er erzeugt, ist die absolute Verlegenheit. Indem etwas gefordert scheint, wird zugleich alles verboten.
(* Anmerkung: Es spricht: der körperlose Geist. Denn: den Trost stiften die Körper.)
27. Mai 2010
Janet Frame: Poems
I hold these today in the first mist rising
across the marsh of memory
where people and places will drown; only today
the Bure, the orchids, the two floating swans will stay.
26. Mai 2010
ORHAN PAMUK: DIE FARBE ROT
25. Mai 2010
HANS BELTING: FLORENZ UND BAGDAD
Die Fiktion von Blick und Gegenblick schließt auch die Alternative ein, dass Bilder den Blicktausch verweigern und ihre Figuren sich so verhalten, als fühlten sie sich unbeobachtet. Dann machen sie uns zu Voyeuren. Der abgewiesene Blick ist nur eine andere Spielart als der erwiderte Blick. In einem Fall werden wir direkt angesprochen, im anderen bleiben wir heimliche Beobachter einer fremden Intimität. (...) Beide Arten der Inszenierung beweisen, wie sehr die westliche Bildkultur vom offenen oder heimlichen Blick faszinier war. Was vor dem Bilde galt, soll auch im Bilde gelten. Der Blicktausch mit Bildern wiederholt den Blicktausch im Leben. In der Fotografie und im Film ändert sich dann die Erfahrung des Herausblickens: im Foto, weil man hier immer weiß, dass der Blick eigentlich der Kamera gilt, und im Film, weil dort der Blick aus dem Bild die Fiktion der Filmhandlung stört.
24. Mai 2010
FORD MADOX FORD: NO MORE PARADES
But our LOrd was never married. He never touched topics of sex. Good for Him....
23. Mai 2010
Hans Blumenberg: Zuschauer
Als ´Weltzuschauer´ wirkt jener KOSMOTHEOROS am leichtesten, ja am leichtfertigsten. Er läßt die Dinge, die sich zeigen und offenbar ihm sich zu zeigen geneigt sind, Revue passieren. Er genießt die Distanz zu denen, die selbst sein müssen, als was sie sich zeigen, woran er sich mit dem Gefühl erbaut, ebend dies am geschützten und verschonten Vorzugsplatz seiner Schaulust nicht nötig zu haben. Ihm zeigt sich alles, er zeigt sich für nichts und als nichts: das reine EGO, unter den Wesen das wesentlichste.
(Der "Zuschauer" wirkte auf mich lange als Majestät. Ich verehrte ihn. Sein Ego. Nie ließ er sich gehen. Er blieb, dachte ich: Standhaft und stark. Dass er sich schützte, vor Bewegung und Schmerz, ich sah es nicht. Er erregte sich nie, ja, weil er keinen Anteil nahm. D a s wusste ich nicht.)
22. Mai 2010
Robert Forster: No reason to cry
For days we fought across the globe
You bit my tongue on a Lisbon Road
We staggered home to the black hotel
Blew our money at the wishing well
December sun didn't make us sing
Wounds too deep to keep anything
But there's no reason to cry.
Been fifteen years since we last spoke
The wounds have healed on my throat
The autumn sun's a creamy haze
On Fox Hill Green I lose the day But there's no reason to cry.
21. Mai 2010
John Milton: Paradise Lost
Intended to create, and therein plant
A generation, whom his choice regard
Should favour equal to the sons in heaven...
20. Mai 2010
Friedrich Nietzsche
Ich will Kinder, ich will nicht mich.
19. Mai 2010
Friedrich Hölderlin: Hyperion
Diotimas Worte:
Lieber Träumer, warum muß ich dich wecken? warum kann ich nicht sagen, komm, und mache wahr die schönen Tage, die du mir verheißen. Aber es ist zu spät, Hyperion, dein Mädchen ist verwelkt, seitdem du fort bist, ein Feuer in mir hat allmählich mich verzehrt, und nur ein kleiner Rest ist übrig. Entsetze dich nicht! Es läutert sich alles Natürliche, und überall windet die Blüte des Lebens freier und freier vom gröbern Stoffe sich los.
18. Mai 2010
Bruce Chatwin: Anatomy of restlessness
17. Mai 2010
Bettine von Arnim: Die Günderode
16. Mai 2010
Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt (Unveröffentlichte Gedichte)
TAGSCHWESTER, NACHTSCHWESTER
Danke meine Schwester
die mich weckt und lacht
die mein Gesicht wahr gesehen
hat und es wiedergespiegelt
hat durch Blässe, Stummheit.
Meine Schwestern sehen zuviel
sind näher am Bett, sie sehn
daß in meinen Augen der Raum
stehn bleibt und seine (----)
in mich bohrt, sehn, daß
die Wand auf mich zufällt
und mit den Ziegeln ins
Meinen Schwestern, deren Namen
einmal auch von mir vergessen
sein werden, nicht für Dienst
Wohltat, Können, sondern
fürs Ertragen eines so flüchtigen
Nadeln bis ans Heft
ins Fleisch bohren
15. Mai 2010
Christina von Braun:
Nicht Ich. Logik. Lüge. Libido
Über die Hysterikerin
Mit der allmählichen Durchsetzung der Kunst-Frau beginnt aber die Logos-geschaffene Frau immer mehr der Hysterikerin zu ähneln. Die "Simulation" und "Verlogenheit" der hysterischen Symptombildung bildet nicht mehr einen Gegensatz, sondern ein Spiegelbild der "Normalität" des Logos. Die Hysterikerinnen sind keine Gefahr mehr für den Logos: Im Gegenteil: sie liefern ihm gleichsam den Beweis für die "Echtheit" der Kunst-Frau. Die Hysterie, die um das Überleben der Andersartigkeit kämpft, indem sie die Vorstellung von Frau-Sein imitiert, liefert ihrerseits ein imitierbares Modell für die Entstehung der Kunst-Frau.(...) Mit dieser Taktik liefert die Hysterie den Beweis, dass die Vorstellung von Frau-Sein, die "imaginierte Weiblichkeit" sich beleiben kann.
14. Mai 2010
PETER WEISS: Ästhetik des Widerstands
"Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die andern aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissenen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eigenen Fleisch. Genuss vermittelte das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischem Gesetz ahnten die anderen."