Mittwoch, 14. September 2011

ÖFFENTLICHKEIT UND ERFAHRUNG IM ZEITALTER VON TWITTER, FACEBOOK & CO. (1)

„Die wichtigsten, auch die größten Mengen an ERFAHRUNGEN machen die Menschen in der Intimität (Aufwachsen, Liebe, Verlust) und in der Arbeitswelt. Beide großen Bereiche sind privat. ÖFFENTLICHKEIT und damit die Gemeinwesen müssen mit den restlichen Energien auskommen, die vom Lebenskampf übrig bleiben. Das macht sie anfällig.
Öffentlichkeit ist ein wertvolles Gemeingut. Geht sie verloren, ist sie durch nichts anderes zu ersetzen. Für Öffentlichkeit gibt es kein Äquivalent, und man kann es sich nicht leisten, Kräfte auszugrenzen, wenn es darum geht, beschädigte Öffentlichkeit wiederherzustellen. Sie ist die einzige uns bekannte Produktionsform von selbstbewusster gesellschaftlicher Erfahrung. Ohne Öffentlichkeit gibt es auch keine konsistente private Erfahrung.“

Die gegenwärtige Kritik an den neuen Medien, insbesondere den Social media-Plattformen geht von einer bloß fiktiven und ideologischen Gegenüberstellung von Privatheit vs. Öffentlichkeit aus, auf deren verschleiernde Wirkung, nämlich die Verhinderung von gesellschaftlicher Erfahrung, sie nicht verzichten mag. Insofern kann der Abwehrkampf des politischen und ökonomischen Establishments gegen die neuen Medien bzw. deren Okkupation und Regulierung durch eben dieses Establishment, der sich gegenwärtig um Fragen wie Netzneutralität, (Jugend-) Medienschutz aka Zensur, Anonymität im Netz, Urheberrecht und Datenschutz dreht, eingereiht werden in die historischen Kämpfe um Zugriff auf Produktionsmittel; in diesem Fall um eben jene Produktionsmittel, die allein gesellschaftliche Erfahrung und damit auch Widerstandskräfte erzeugen können. Auf allen Ebenen stellt sich daher die Frage nach der Positionierung in diesem Kampf. Hier scheidet sich die Spreu vom Weizen. Es geht um nichts weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag  für die digitale Gesellschaft. Es wird sich zeigen, ob er einer bloßen Fortschreibung des Lockeschen Eigentümervertrages gleicht oder ob es gelingt, in ihm Elemente echter Emanzipation zu verankern.

„Kämpfen Menschen gegen die um die Machtmittel der Öffentlichkeit verstärkte herrschende Klasse, so bleibt ihr Kampf aussichtslos; sie kämpfen dann immer gleichzeitig auch gegen sich selbst, da die Öffentlichkeit durch sie gebildet wird.“

Dass die „Machtmittel der Öffentlichkeit“ durch die neuen Medien eine nie gekannte Streuung erfahren, beunruhigt zu Recht in den Machtzentralen. Alle Diskurse über Einschränkungen und Regulierungen (Anonymität, Net-tiquette etc.) sind unter diesem Aspekt zu analysieren. Tatsächlich ist die technische Verfügbarkeit allein noch kein Garant einer tatsächlichen Aufhebung der Täuschung der Massen über die Funktion der Öffentlichkeit. Massenmobilisierungen zu (moralisch besetzen) Einzelthemen erzeugen die gefährliche Illusion, die Gesellschaft ließe sich auf „andere Normen als die des Warenverkehrs und des Privateigentums“ gründen. Die Frage ist vielmehr, ob es gelingt, die „Macht der Öffentlichkeit“ in die Macht derer zu verwandeln, die „sich veröffentlichen“. Wie man sie daran durch Panikmache zu hindern versucht bzw. ihre Selbstveröffentlichung zur Warenform zu transformieren, ist gegenwärtig zu beobachten. Beide Strategien sind zu bekämpfen, indem einerseits nicht auf die exzessive, möglicherweise auch anonymisierte, vervielfältige, hybride Selbstveröffentlichung verzichtet wird und andererseits deren Verwertung als Ware durch Monopolisten systematisch durch Guerillera-Taktiken und Gesetzesinitiativen (Kartellrecht, Open Sources) unterlaufen wird.

„Öffentlichkeit bezeichnet bestimmte Institutionen, Einrichtungen, Aktivitäten (z.B. öffentliche Gewalt, Presse, öffentliche Meinung, Publikum,Öffentlichkeitsarbeit, Straßen und Plätze); sie ist aber gleichzeitig ein gesellschaftlicher Erfahrungshorizont, in dem das zusammengefasst ist, was wirklich oder angeblich für alle Mitglieder der Gesellschaft relevant ist. Öffentlichkeit ist in diesem Sinne einmal eine Angelegenheit weniger Professioneller (z.B. Politiker, Redakteure, Verbandsfunktionäre), zum anderen etwas, das jedermann angeht und sich in den Köpfen der Menschen erst realisiert, eine Dimension ihres Bewusstseins.“

Öffentlichkeit, wie Kluge/Negt sie hier – in Anlehnung an Habermas – beschreiben, ist in bürgerlicher Gesellschaft gleichermaßen Legitimationsfassade gewesen wie ein Mechanismus zur Wahrnehmung von Interessen. Bürgerliche Öffentlichkeit sei, schreiben Kluge/Negt „scheinhaft“, gehe aber in diesem Schein nicht auf. Der Widerspruch zwischen der Vergesellschaftung des Menschen und der Verengung ihres privaten Lebens erzeuge vielmehr ein wahrhaftiges Bedürfnis nach Öffentlichkeit. Dieses Bedürfnis, ließe sich sagen, trifft neuerdings auf die neuen Medien und ihre sozialen Plattformen. Wie es sich hierin äußert, ist daher nicht zufällig einer heftigen Kritik der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ in ihrer tradierten Form unterworfen. Es geht ihnen ja gerade darum,einen öffentlichen Erfahrungshorizont, in dem sich die Massen tatsächlich (ent-)äußern können, zu verhindern.

„Die innere Gewaltsamkeit dieser Prinzipien, auch des Öffentlichkeitsprinzips gründet darin, dass der Hauptkampf gegen alle Besonderheiten geführt werden muss. Alles, was der Universalisierungstendenz der Warenproduktion widersteht, muss der Allgemeinheit, dem Prinzip geopfert werden. Daraus entspringt auch die Zwanghaftigkeit, mit der nach dem Kriterium von Definitionen, Subsumtionen, Zurechnungen bei der Begrenzung der Öffentlichkeit verfahren wird.“

Die Analyse des bürgerlichen Öffentlichkeitsprinzips durch Kluge/Negt liefert auch eine Blaupause zur Untersuchung der gegenwärtigen Kampagnen von Parteien und etablierten Medien gegen die Nutzung von Social Media- Plattformen durch Jugendliche und neue gesellschaftliche Gruppen. Hierbei ist entscheidend, dass die Teilhabe an dieser neuen Öffentlichkeit nichts (oder scheinbar nichts; der Nutzer ist für die Anbieter Ware, nicht Kunde) kostet. Eben das – und nicht die Technik an sich – stellt bürgerlich-kapitalistische Öffentlichkeit vor eine historisch neue Situation. „Die Welt“ – die strukturell dem bornierten, begrenzten Erfahrungshorizont des Bourgeois verschlossen ist – wird zum Eindringling: Nicht mehr der ARD-Korrespondenz muss uns die Aufstände in Kairo erklären, wir können selbst mit einer jungen Ägypterin chatten oder auf ihre Tweets antworten. Daher ist eine Abwehrreaktion zu erwarten, die gezielt Nichtöffentlichkeit und inflationär Geheimnisse produziert. Die „fertige Öffentlichkeit“, die Tageszeitung und Tagesschau bis vor einem Jahrzehnt noch täglich konkurrenzlos produzierten, wird zur unkontrollierbaren Timeline. Damit stellt sich die Frage, wie dieser Erfahrungshorizont der Vielen in den lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufbau der Einzelnen zu integrieren ist, ohne eine permanente Überforderung zu erzeugen? Dazu wird eine neue Sozialisation vonnöten sein, ein bewusster Umgang mit dem Zeitrhytmus, der nicht mehr darauf setzt, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren. Die kapitalistische Produktionsmaschinerie hat die vom Medienstrom Abhängigen auch deshalb zu fürchten und richtet auf sie schon jetzt das ganze Waffenarsenal, mit dem der Frühkapitalismus die "natürliche" Faulheit bekämpft hat.

Fortsetzung folgt.


Alle Zitate aus:
Alexander Kluge/Oskar Negt: Der unterschätzte Mensch, Zweitausendeins 2001

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