Dennoch hat der Film mich sehr berührt. Denn mit Verve vertritt er die These, dass die Verfolgung und Diskriminierung der Homosexuellen in der Bundesrepublik der 60er, 70er und 80er Jahre, der verinnerlichte Zwang zur Verheimlichung und Täuschung Rex Gildos Leben zerstört hat. Und diese These ist wahr. Sie ist wahr weit über das Einzelschicksal Ludwig Franz Hirtreiters, so Gildos bürgerlicher Name, hinaus. Diese Wahrheit traf mich, weil sie mein eigenes Leben betrifft, denn ich habe in diesen Zeiten gelebt, bin in diesen Zeiten erwachsen geworden. Und zu dieser Wahrheit gehört, dass auch meine Ignoranz und meine Unwissenheit in der Jugend zu Verletzungen und Ausgrenzungen beigetragen hat.
Wo ich aufgewachsen bin, in Mittelhessen, auf dem Land, in einem evangelischen, teils gar evangelikalen Umfeld wurde über Homosexualität nicht gesprochen. Ich kann mich aus meiner Kindheit nicht an ein einziges Mal erinnern. Wohl aber darüber, dass vielsagend (beziehungsweise für mich als Kind nichtssagend) gerätselt und der Kopf geschüttelt wurde, wenn über unverheiratete Männer (seltener Frauen) getratscht worden ist. Dass einige dieser Alleinstehenden vielleicht gerne eine nicht-heterosexuelle Liebe offen gelebt hätten, verstehe ich erst jetzt, aus der Rückschau. Männliches Desinteresse an Frauen wurde dabei öfter thematisiert als umgekehrt fehlendes Interesse der unverheirateten „Fräuleins“ an Männern. Auch war es für Frauen offenbar leichter mit einer anderen Frau zusammenzuleben, ohne verurteilt zu werden. Dennoch mussten auch diese Frauen sich tarnen, konnten ihre Beziehung nicht offen als Partnerschaft leben. Als meine Kinderärztin Dr. Irmgard von Lemmers-Danforth 1984 (das war das Jahr, in dem ich Abitur machte) starb, bezeichnete Hildegard Pletsch sich in der Todesanzeige als ihre Lebensgefährtin. Das wurde mit gespieltem Erstaunen und teilweise auch mit Empörung wahrgenommen. Die Wetzlarerinnen und Wetzlarer hatten es über Jahrzehnte vorgezogen, Frau Pletsch als die Haushälterin der Lemmers-Danforth zu betrachten.
Rex Gildo gab seinen langjährigen Lebensgefährten Fred Miekley als „Onkel Fred“ aus. In Praunheims Film bestätigen Conny Froboess, Gitte Haenning und viele andere, die mit Gildo arbeiteten, sie hätten immer gewusst, dass er homosexuell sei und in einer Liebesbeziehung mit Miekley lebe. Dennoch hat er offenbar selbst mit engsten Freunden nicht über die wahre Natur seiner Beziehung gesprochen, hat er selbst gegenüber Nahestehenden im Gespräch an der Illusion festgehalten, er heirate seine Cousine aus Liebe und nicht, um sich zu tarnen. Ein ganzes Leben als Täuschung, selbst noch im heimischen Landhaus gegenüber der Haushälterin.
So wie Rex Gildo mussten viele Homosexuelle in meiner Jugend ihr Liebesleben verbergen, konnten ihre Partner nicht offen als solche bezeichnen und in ihren Familien vorstellen. Das hat sie erpressbar gemacht und unter ständigen Druck gesetzt. Nicht wenige hatten die Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit ihres Umfelds zudem verinnerlicht, zumal in religiös geprägten Kreisen, machten sich selbst Vorwürfe und fühlten sich schuldig.
Die Bundesrepublik Deutschland hat den von den Nazis geschaffenen Paragraphen 175, der Homosexualität unter Strafe stellt, erst 1994 (im Geburtsjahr meines ersten Sohnes) abgeschafft. Noch in den 80er Jahren hetzte der CSU-Politiker Gauweiler gegen Schwule, indem er AIDs als „Schwulen-Pest“ bezeichnete und versprach sich davon Stimmengewinne.
Ich war ignorant. Dass es in meinem unmittelbaren Umfeld Männer gab, die Männer liebten, und Frauen, die Frauen liebten, habe ich erst in Studienzeiten wahrgenommen. Dabei gab es diese Männer und Frauen auch in meinem Heimatort, in meiner Schulklasse, aber ich war viel zu beschäftigt mit meine eigenen Identitätsfindung, um mir Gedanken darüber zu machen. Gauweilers häßliche Ausfälle allerdings haben mich sofort angewidert. Im Studium war ich dann befreundet mit Schwulen und Lesben, die offen ihre Beziehungen lebten, aber ich bekam auch mit, wie schwierig es für einige von ihnen blieb, sich gegenüber Familie und Herkunftsumfeld zu erklären. Manche konnten ihre Partnerinnen und Partner nie den Eltern vorstellen. Manche rebellierten und brachen den Kontakt ab, manche schwiegen um des lieben Friedens willen.
Aber für viele änderte sich doch langsam etwas. Eltern begriffen, dass sie ihre Kinder verlieren würden und lernten tolerant zu sein. Ja, ich weiß, Toleranz genügt nicht, Akzeptanz ist nötig. Aber Toleranz war ein Anfang. Sie lernten die Partnerinnen und Partner ihrer Kinder kennen und viele Familien öffneten sich. In meinem Umfeld schien das für Väter schwieriger als für Mütter zu sein, aber vielleicht war das Zufall. Immer öfter erzählte auch meine Mutter von dieser oder jener Freundin, deren Tochter oder Sohn ihre gleichgeschlechtlichen Lebenspartner mit zum Weihnachtsessen brachte. Sie fand das schön. Sie hatte schon die Todesanzeige von Hildegard Pletsch mutig und gut gefunden.
Rosa von Praunheim hatte u.a. mit seinem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ (1971) keinen geringen Anteil daran, die Kriminalisierung und Diskriminierung von Homosexuellen in der Bundesrepublik zu bekämpfen. Rosa von Praunheim ist immer dafür eingetreten, dass Homosexuelle sich offen zu ihrer Sexualität bekennen. Das „Können“ am Ende dieses Satzes fehlt nicht zufällig. Denn unvergessen bleibt auch, dass von Praunheim Kollegen öffentlich outete, ohne ihr Einverständnis einzuholen. Die Lesben- und Schwulenbewegung war für ihn eine politische Bewegung, der es nicht nur um die Gleichberechtigung für homosexuelle Liebesbeziehungen gehen sollte, sondern um einen gesellschaftlichen Umbruch. Dafür meinte er die Homosexuellen in die Pflicht nehmen zu können. Ihre sexuelle Orientierung sollte ein politisches Bekenntnis werden. In „Rex Gildo - der letzte Tanz“ zeigt von Praunheim nackte Männer in einer Schwulen-Disco, die zu “Fiesta Mexicana“ tanzen. Im Off-Ton beklagt der Regisseur: „Rex Gildo schwieg dazu.“
In meinem Bekanntenkreis leben die meisten Lesben und Schwule in stabilen, langjährigen Zweierbeziehungen, nicht wenige sind verheiratet. Die meisten sind politisch liberal, manche linksliberal, einige auch konservativ. Ihr sexuelle Orientierung verstehen sie nicht als politisch. Dass sie sie offen leben können, ist ein Recht, das ihnen zusteht. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, wie sie zu anderen Themen stehen oder stehen sollten. Mit anderen Worten: Die sexuelle Orientierung begründet keine (politische) Identität.
Der Kampf um Gleichberechtigung und Akzeptanz war nach meiner Auffassung genau deshalb erfolgreich, weil und insofern er es Schwulen und Lesben ermöglicht, ihr Liebesleben so offen zu führen wie jeder und jede Heterosexuelle auch, ohne dass sie deswegen Teil einer politischen Bewegung sein müssen.
Er ist nicht zu Ende, dieser Kampf. Denn noch immer gibt es viele Bereiche, in denen Schwule und Lesben ihre sexuelle Orientierung lieber verbergen, vor allem gilt das für die Arbeitswelt außerhalb der Metropolen. An Schulen ist „schwul“ weiterhin ein Schimpfwort. Religiöse Eiferer glauben immer noch, sie hätten das Recht, die sexuelle Orientierung oder die einverständlichen sexuellen Praktiken anderer erwachsener Menschen miteinander zu verurteilen. Das gehört bekämpft, wo immer es auftritt.
Aber weder Schwule noch Lesben, weder Transsexuelle noch Non-Binäre, weder Schwarze noch Muslime und Musliminnen sind ungefragt Subjekte irgendwelcher politischer (Identitäts-)Bewegungen.
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