Samstag, 21. Oktober 2023

AM ISRAEL CHAI - Das Buch zur Stunde ist Cordelia Edvardsons "Gebranntes Kind sucht das Feuer"






Mehr als 20 Jahre war Cordelia Edvardsons Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ nicht in deutscher Sprache verfügbar. Daniel Kehlmann und der Hanser Verlag haben dafür gesorgt, dass es nun wieder gelesen werden kann. Dafür gebührt ihnen Dank. Denn dieses Buch muss gelesen werden. In Deutschland, gerade jetzt, denn: "Nie wieder "ist jetzt!


Am 7. Oktober 2023 verübten palästinensische Hamas-Terroristen ein grausames Massaker an fröhlich und friedlich feiernden israelischen Ravern, an israelischen Familien, an Holocaust-Überlebenden; sie folterten Eltern vor ihren Kindern und Kinder vor ihren Eltern, sie vergewaltigten jüdische Frauen, sie ermordeten über 1400 Menschen, verschleppten mehr als 200 Menschen als Geiseln und verletzten weitere Tausende. Dies war das schlimmste Pogrom gegen Juden seit der Shoa. 


Am Israel Chai“ - das Volk Israel lebt, so endet die Holocaust-Überlebende Cordelia Edvardson ihren 1983 erschienenen autobiographischen Roman. Die letzten Seiten beschreiben Szenen aus dem Yom-Kippur-Krieg. Aus personaler Erzählperspektive erlebt die Protagonistin die Bedrohung der Existenz des einzigen jüdischen Staates auf der Welt: „Die Überlebenden kehrten zur einzigen Lebensform zurück, der einzigen Aufgabe und Herausforderung, die sie beherrschten - dem Überlebenskampf. Aber, so spürte sie, hier standen sich Menschen und die Vernichtung als Gegner gegenüber, der Ausgang stand noch nicht fest, nicht diesmal. Dies war ein unverfälschtes Spiel; wenn die Vernichtung gewann, lag es nicht daran, dass die Opfer gelähmt und versteinert waren angesichts des Wildtieres, das sie zu ihrem eigenen Untergang beigetragen hatten. Diesmal hatte die Bedrohung menschliches Gesicht, das Gesicht des Feindes. Sie musste bekämpft, konnte vielleicht besiegt werden, aber auch erkannt und geachtet. Deshalb, und nur deshalb, in Widerstand und Achtung, erlangten die Überlebenden auch die Selbstachtung wieder. Sie würden nicht bereitwillig ihr eigenes Grab schaufeln, würden die Toten der Feinde aber auch nicht den Füchsen und Hunden der Wüste überlassen.“ Diese Überlebende von Auschwitz will und wird nicht Opfer bleiben.


„Am Israel Chai“ - für Millionen Jüdinnen und Juden in aller Welt ist dies heute wieder die einzige Versicherung, die bleibt, während ihre Gotteshäuser angezündet werden und sie ihre jüdische Identität auf den Straßen von Berlin, London oder Paris verbergen müssen. Angesichts des Hasses, der jüdischen Menschen entgegenschlägt, angesichts des Vernichtungswillens, der sich gegen sie richtet, angesichts des Antisemitismus´, der sich als „Israelkritik“ stets nur unzureichend tarnt (ein Sprachgebrauch, der selbstentlarvend ist, denn von „Algerienkritik“ oder „Chinakritik“ hat noch keine je gehört), kämpfen Jüdinnen und Juden gegenwärtig wieder um ihr Existenzrecht Wer je in Anerkennung der deutschen Verbrechen gegen die europäischen Juden geschworen hat: „Nie wieder“, der muss in diesem Kampf an ihrer Seite, an Israels Seite stehen. 


Cordelia Edvardsons „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ erzählt ihre eigene Geschichte und doch ist es ein Roman, weil sie für diese furchtbare Geschichte eine literarische Form findet; eine beinahe unbegreifliche  Leistung, angesichts dessen, was sie zu erzählen hat. Edvardson will ein Zeugnis des Holocausts vorlegen, das den Leserinnen keine entlastende Identifikation erlaubt, die nur zu leicht in weinerliches Selbstmitleid mündet: „Sie sollten nicht über sie weinen dürfen, so wie sie über Anne Franks Tagebuch schluchzten. Dieses typische Mädchentagebuch, das so gnädig endet, als die Henker die Tür zur geschützten Welt von Anne und ihren Eltern eintreten. Ja, trotz allem geschützt, auch wenn sich die Geborgenheit als so verräterisch erweist wie eine über Nacht entstandene Eisschicht. Doch das Tagebuch endet, als das Eis bricht, worauf Annes altkluge und ach so versöhnliche Überlegungen im Würgegriff der Furcht erstickt und von einem Gewehrkolbenschlag auf den Mund zum Verstummen gebracht werden.“ 


Was Edvardson sich hier vornimmt, gelingt ihr mit diesem Roman. Wahrscheinlich ist dies der Grund dafür, dass Edvardson Roman in Deutschland kein Erfolg war. Denn sie erlaubt es den Nachfahren der Mörder nicht, sich mit dem Opfer zu identifizieren und versöhnlich ein „Allgemeinmenschliches“ zu beschwören, in dem die den Opfern von den Tätern teilweise aufgezwungene jüdische Identität wieder ganz verschwindet. Den Zorn der Überlebenden, „der zur Angst des Lebens wird“, erspart Edvardson ihren Leserinnen nicht. Die Last als Überlebende die Toten für alle Zeit mittragen zu müssen, kann eben kein Mitgefühl lindern: „3709 würde nicht vergessen werden, nicht ganz vernichtet, nicht solange A3709 lebte und atmete, wenn auch nur mit Mühe. Danach würde das Leben des Mädchens nie allein sein eigenes sein, eine andere hatte teil daran,´jetzt und in der Stunde unseres Todes´.“ 


Die Stimme dieses Romans will nicht Rührung erzeugen. Die Leserinnen sollen sich dem mitleidlosen Grauen stellen: Wie es ist in Mengeles Büro zu arbeiten, fast verhungert, und die Nummern aufzuschreiben, „exakt und ordentlich“, derer, die gemordet werden sollen. „Ein neuer Arm, die schlaffe runzelige Haut einer alten Frau. Eine wimmernde, flehende Stimme: ´Bitte Fräulein, schreiben Sie, dass mein Mann arisch war, ganz arisch! Das Mädchen blickt auf und sieht, sieht in das Gesicht seiner Großmutter. Natürlich kann sie es nicht sein, die Großmutter ist schon vor einigen Jahren gestorben…Und dennoch weiß sie, dass es ihre Großmutter ist, die sie ermordet, als sie sorgfältig die Nummer notiert. Sieht Mengele sie? Sieht die Mutter sie? In wessen Auftrag handelt sie?“


Edvardson berichtet nüchtern, kalt. Was geschah. Wie es geschah. Wie die ausgemergelten Körper aussahen. Wie sie einander halfen und verrieten in den Baracken. Wie die Stiefel der Mörder glänzten. Wie das Morden bürokratisch verwaltet wurde. Diese Autorin macht den Leserinnen nicht das Geschenk des Vertrauens auf ihr Mitgefühl oder ihre Bereitschaft für Jüdinnen und Juden zu kämpfen. Wer Edvardson Roman liest, muss und wird verstehen, warum der jüdische Staat, warum Israel für überlebende Jüdinnen und Juden eine notwendige Lebensversicherung ist und bleibt.


Edvardson wird als uneheliche Tochter der deutschen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer geboren. Ihr Vater ist der jüdische Staatsrechtler Hermann Heller. Das Kind wächst bei Mutter und Großmutter auf, beide streng katholisch. Auch Langgässer ist jedoch Halbjüdin, was später ihrer Tochter zum Verhängnis wird. Edvardson erzählt von der Hybris dieser teils naiven, teils narzisstischen Mutter, die glaubt und glauben will, das die Welt sich nach ihrem mythischen Vorstellungen richten wird. Die dem vaterlosen Kind alles ist, eine faszinierende Märchenerzählerin, unfassbar, unhaltbar, unerreichbar. Das Kind spürt früh, dass es anders ist, nicht zugehörig, ohne die Gründe zu begreifen. Es nimmt es auf sich, die Mutter nie zu belasten. Langgässer wird sich lange betrügen über die wahre Natur der faschistischen Bewegung. Als es zu spät ist, will sie die Tochter doch noch schützen, indem sie eine Adoption durch ein spanisches Ehepaar arrangiert. Als Ausländerin hätte Cordelia nicht deportiert werden können. Tochter und Mutter werden von der Gestapo zum Verhör zitiert. Das Mädchen soll eine Erklärung unterschreiben: „Das Dokument erwies sich als eine Erklärung im Namen des Mädchens, der zufolge sie die doppelte Staatsbürgerschaft akzeptierte und auf diese Weise die deutsche neben der spanischen behielt und gleichzeitig freiwillig der Anwendung des deutschen Gesetzes inklusive der Rassengesetze, auf ihre Person zustimmte. Dies beinhaltete auch das Tragen des Judensterns und einen eventuellen künftigen Abtransport in den Osten. Die Tochter blickte unsicher zu ihrer Mutter hinüber und begegnete einer weißen Maske, in der ein viel zu roter Mund wie eine Wunde leuchtete. Von der Mutter konnte sie sich in diesem Moment keine Unterstützung erwarten, verstand das Mädchen…“.  Die Tochter unterschreibt schließlich, als der Beamte damit droht, ansonsten die Mutter wegen der arrangierten Adoption zu belangen.


Als die Überlebende von Auschwitz in Schweden in Sicherheit ist, dauert es mehr als ein Jahr, bis sie Kontakt zur Mutter aufnimmt. Edvardson verzichtet in ihrem autobiographischen Roman darauf, den Verrat der Mutter zu verurteilen. Es genügt eine einzige Passage, um Langgässers Hybris auch nach dem Ende des Krieges zu bezeugen: „Jahr für Jahr versteckte die junge Frau ihren wilden Zorn, er füllte sie aus, er erstickte sie fast, aber sie lernten sich nie kennen, die Frau und ihr Zorn. Er war zu überwältigend, als dass sie es gewagt hätte, ihm entgegenzutreten, er hätte sie gesprengt und wäre zu einem blitzenden Messer geworden für den Stoß ins Herz der Mutter. Den Muttermord wagte sie nicht. Er hätte auch Cordelia vernichtet, die Auserwählte, die Auserkorene, die ihren Treueschwur hielt. Die Mutter schrieb einem Brief an ihre Tochter in Schweden. Sie arbeite an einem neuen Roman, schrieb sie, darin komme eine junge Frau vor, die in Auschwitz gewesen sei, eine Überlebende. Es sei wichtig, dass die Details in der Erinnerung der jungen Frau stimmten, denn dann sei sie, die Mutter, in der Lage, sie nachzudichten. Ob die Tochter ihr schreiben und von ihrem Alltag in Auschwitz erzählen könne.“ Langgässers Roman wurde tatsächlich geschrieben, lesenswert ist das nicht, weil unangemessen in jedem Wort und Satz. 


Edvardson Darstellung bleibt nicht dabei stehen, Worte für das Leid, den Schmerz, die Verzweiflung zu finden, sondern vor allem auch für das Überleben. Dem Buch der Mutter bescheinigt sie,„vom Feuer“ zu sprechen, aber über „die Asche“ zu schweigen. Dass die Überlebenden nicht einfach weiterleben können unter den anderen, auch davon erzählt Cordelia Edvardson in diesem schmalen Band, der in der Print-Ausgabe nicht einmal 150 Seiten hat. In Schweden kann die Protagonistin keine Wurzeln schlagen. Für eine Überlebende war es ein gutes Land gewesen. Es war da gewesen und hatte seine Kühle und seine Ruhe angeboten, aber es hatte sich nie aufgedrängt, hatte das Schweigen der Überlebenden nie herausgefordert, nichts verlangt…In so viel Unschuld konnte sie nur schwer atmen und verstand, dass sie aufbrechen musste.“ 


Der dritte und letzte Teil des Romans trägt den Titel „Am Israel Chai“. Er spielt in Israel, wohin auch die Autorin Cordelia Edvardson als Journalistin zog. „In diesem Land sind wir besessen vom Tod, hat einmal jemand gesagt. Das stimmt, dachte sie, die Denkmäler und Monumente zu Ehren unserer toten Helden und Märtyrer sind über das ganze Land verstreut, und in der Landschaft, im Tal von Avalon, auf dem Berg Gilboa und in der Wüste Juda, sind unsere Aufstände, unsere Siege und Niederlagen gegenwärtig. Doch sind wir auch davon besessen, Überlebende zu sein, verkohltes Holz, das aus dem Feuer gezogen wurde, Augen, die ständig tränen vom beißenden Rauch. Wird sind Jäger und Gejagte, erbarmungslos hetzen wir uns aus unserem Bau. ´Hepp, hepp, Jude, spring.´ Wir springen, deshalb leben wir. Wir holen uns selbst ein und zerreißen uns, deshalb leben wir. Wir spüren, wie der Boden unter unseren Füßen nachgibt, und treten noch einen Schritt auf den Abgrund zu, deshalb leben wir.“


Am Israel Chai.


Cordelia Edvardson Buch ist zur rechten Zeit wieder aufgelegt wurden. Es sollte Pflichtlektüre in deutschen Schulen sein. „Nie wieder“ kann nur heißen, solidarisch an der Seite Israels zu stehen. Jetzt!



Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer,  Hanser Verlag


Der Zentralrat der Juden in Deutschland ruft zu Spenden zur Unterstützung der Israel Defence Force auf: https://www.zentralratderjuden.de/aktuelle-meldung/artikel/news/unterstuetzung-israelischer-soldaten/

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