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Donnerstag, 20. September 2012

Der Amazing zieht aus

Am Nachmittag, als ich nach Hause kam, habe ich noch geschimpft: Überdeutlich waren im Wohnzimmer die Spuren eines hastigen Aufbruchs hinterlassen worden, die Tesafilm-Rolle, die ich rausgelegt hatte und die Flugblätter, die er an den schwarzen Brettern der Universität aufhängen wollte, hatte er vergessen. "Verdammt", habe ich gerufen. "Das wird nie was mit der Zimmersuche." Dass es schwierig werden würde, eine bezahlbare Studentenbude zu finden, hatten wir geahnt. Dass es so schwierig sein würde, überraschte uns doch. Die unterschiedlichen Temperamente taten ein Übriges, um die Stimmung aufzuheizen. Der Amazing ist lässig und ich bin hysterisch. Wenn ein Problem auftaucht, werde ich hyperaktiv. "Du musst Aushänge machen. Und vor Ort sein. Morgens früh schon.", textete ich  ihn zu. Der Amazing lässt die Dinge auf sich zukommen. Am 1. Oktober beginnt seine Einführungswoche am neuen Studienort, am 15. das Semester. "Zur Not pendele ich eben.", sagte er. Ich war sauer. Hatte ich nicht immer gegen die "Heimschläfer" polemisiert? Ich wollte kein "Hotel Mama" für den Studenten werden. 

Gestern Abend rissen sie dann freudestrahlend die Tür auf, gerade als ich es mir unter einer warmen Decke gegen die Herbstkälte gemütlich gemacht hatte. "Wir haben eine Wohnung", wedelten sie mit dem Mietvertrag. Der Amazing zieht mit einem Freund in eine Drei-Zimmer-Wohnung. In eine l e e r e Drei-Zimmer-Wohnung. Ich werde schon wieder aktiv. Wo steckt denn der Ikea-Katalog. "Du musst..." "Wollt ihr..." "Habt ihr ausgemessen..." "Frage den Papa, wann er sich Urlaub nehmen kann..." "Ruf den Opa an, ob er Zeit hat, dir zu helfen..." Der Amazing grinste. Sein Freund auch. Die kennen mich schon. 

Ich freu mich für sie. Aber dann wurde mir ganz schlecht, plötzlich. Der Amazing zieht aus. Ich werde heulen, ist ja klar. "Mensch", sagte ich, als wir uns in der Küche noch mal zusammen setzten. "ich werd dich doch total vermissen." "So schnell wirst du mich nicht los.", antwortete der Amazing, und nahm mich in den Arm: "Am Wochenende komme ich nach Hause, oft. Und stell dir mal vor: Jedes Wochenende gibt´s dann ein Willkommens-Mahl." Ich sah, wie ihm schon das Wasser im Mund zusammen lief bei dem Gedanken.

Donnerstag, 10. Mai 2012

ARBEIT AM ICH (Nachtrag 11: 46 Uhr: In your face!)

My own brain is to me the most unaccountable of machinery - always buzzing, humming, soaring roaring diving, and then buried in mud. And why? What's this passion for?


Virginia Woolf



Die Kehle ist rau und rot wie ein blutiges Reibeisen. Wunden, an die sie glaubt, ohne sie zu sehen. Linkes Nasenloch und rechte Stirnhöhle füllt der Schleim. Kein Mangel an Empfehlungen für wunderwirkenden Hausmittel: Wadenwickel, Pellkartoffelpackung, Sanddornsaft und heiße Zitrone. Sie pfiffe drauf, wenn sie noch aus dem letzten Loch pfeifen könnte. Sie schleppt sich ins Bad. Aus seiner Vorhölle schreit der Mastermind: „Nix da. Ich bin dran.“ Sie zieht sich maulend zurück ins Schlafzimmer. Der Mastermind duscht. Sie sehnt sich nach einem Erkältungsbad. Sie hat das Laken durchgeschwitzt. Sie schnüffelt. Der Geruchsnerv ist dahin. Der Amazing steht um halb neun im Schlafanzug vor ihr. Mottotag. Heute: sleepy. Morgen: business. Montag: schrill. Dienstag: Kinderhelden (Amazing kommt als Pirat.), Mittwoch: 1. Schultag (Amazing hat sich eine Maulwurf-Schultüte im Internet bestellt.). Vielleicht gibt´s auch einen Abi-Streich. Hierzu muss eine Versicherungssumme hinterlegt und ein Formular in 3facher Ausfertigung ausgefüllt werden. Selbst Schulstreiche werden heutzutage erfasst und verwaltet. 

Damit dem Abschluss der glorreichen Schullaufbahn des Amazing nichts im Wege steht, hat sie sich gestern am späten Nachmittag ein dickes Make up über die rote Nase gelegt und mit ihm die Herrenausstatter von Bahnhof bis Hauptwache abgeklappert. Der Amazing sieht umwerfend aus im dunkelblauen taillierten Anzug. Hemden mit überlangen Armen sind allerdings nur in geringer Auswahl im allgemeinen Herrenausstatterangebot. Ton und Stil der ausstattenden Herren entlocken dem Amazing immer wieder ein Lächeln. Trotz Husten und Verbrauch von gefühlt 150 Papiertaschentüchern, Regengüssen, aber wegen lecker Tomatensuppe beziehungsweise Spaghetti Carbonara im Café Karin war das ein schöner Mutter-Sohn-Nachmittag. Zum Abschluss noch ein Besuch beim Künstler in der Weißfrauen Diakoniekirche. Die Skulptur wächst. Schon bis zur Empore. Der Künstler trifft verspätet und durchnässt ein. Mit dem Pressetext, den die Noch-Nicht-Rekonvaleszentin verfasst hat, ist er einverstanden. Bis Mittwoch nächster Woche muss die Stimme wieder da sein.

(Dann nennt sie sich auch wieder „Ich“.)








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11:46 Uhr Nachtrag: Die nicht gesundheitsförderliche Beinahe-Lektüre der ersten Seite der "Zeit"



Da geht mir mal wieder die Hutschnur hoch, läuft die Galle über, muss ich mich auskotzen, scheiß ich drauf und was dergleichen eklig-böse Bilder sonst noch herbeiphantasiert werden können, denn bevor ich aufbrechen muss, um meinen Lebensunterhalt, allerdings nicht im Schweiße meines Angesichts und in durchaus angemessener Höhe, zu verdienen, lese ich auf der ersten Seite der „ZEIT“ wider besseres Wissen in den Artikel des von mir ohnehin keineswegs geschätzten Irak-Krieg-Befürworters Josef Joffe hinein und lese also, wie seinesgleichen mal wieder Wein säuft, aber Wasser predigt (ein abgedroschenes Bild, auf das ich ausweiche, um strafrechtlich relevante Formulierungen zu vermeiden). Gefordert wird von Joffe et.al. wie gewöhnlich ein„schmerzhafter Wandel“, denn der Staat ist pleite und leider, leider kann er nicht länger „versorgen und verwöhnen“ und nicht noch mehr Leute „in der Stütze kampieren“ lassen. So geht´s nicht weiter. Raus mit den Armen und Kranken und Faulen und Hilflosen und Widerspenstigen ins kalte Freie, bald schon wird´s Sommer, trinkt aus den schmutzigen Flüssen, fresst Beeren und schafft endlich was! Schreiben, sprechen, predigen die Joffes der Welt, während sie in ihre Gürtelschnallen ein weiteres Loch stampfen lassen. Denn den Gürtel enger schnallen, müssen immer die anderen.



Wisst Ihr was, Leute? Der Staat ist pleite, weil ihr nicht genügend Steuern zahlt! Weil ihr an eure nichtsnutzige Verbraucherbrut vererbt, statt Erbschafssteuer abzudrücken, weil ihr in sagenhafte Abschreibungsprojekte investiert, statt in Bildung und Infrastruktur. So simpel ist das, stupid! Der Staat wäre gar nicht mehr pleite, ratzfatz, wenn einmalig auf alle Vermögen über, sagen wir mal, 100.000 € eine 10% Vermögenssteuer erhoben würde. Nur mal als Beispiel. Nur einmalig.



Da könnte er verwöhnen und pflegen wie nur was, stellt euch mal vor! Ach Joffes, da tätet ihr aber heulen. Denn das kann sich „der Staat“ wirklich nicht leisten, euch in die Tasche zu greifen. Da können „wir“ wählen, wen wir wollen. Und deshalb – IN YOUR FACE! – verschont uns wenigstens mit eurer Lamentiererei!


(Sonst könnte irgendwann doch was passieren, was dann gar nicht mehr nett wäre und gar nicht mehr metaphorisch und das wär doch schade, denn, selbstverständlich, wie die mitregierenden Grünen in Frankfurt sagen, wo alle Blockupy-Kundgebungen verboten wurden: Protest ja, Gewalt nein!)

Samstag, 25. August 2012

Ich muss mich dran gewöhnen...


„Was willst du? Er ist achtzehn.“, sagt der Mastermind. Vor einer halben Stunde hat es geklingelt und der Amazing ist von seinem Laptop aufgestanden und in den Flur gegangen. Vorher hat er noch schnell sein Mobile gegriffen. Mehr braucht er nicht. Wir stellen jetzt erst fest, dass er offenbar abgeholt wurde. Ich schimpfe: „Kann er nicht mal sagen, wenn er weg geht. Und ob er zum Essen kommt.“ Der Mastermind amüsiert sich: „In ein paar Wochen zieht er aus. Dann muss er´s dir auch nicht sagen.“ Das stimmt. (Der Amazing hat einen Studienplatz  In Gießen. Wenn Sie also ein Studentenzimmer oder eine 2-Zimmerwohnung  - gemeinsam mit einem Freund zu beziehen - dort wissen, dann melden Sie sich! Das wäre toll! melusinebarby@googlemail.com.)  Ich bin sauer. „Solange er mit uns wohnt, kann er auch mal Bescheid sagen, ob er mit uns isst oder nicht.“, sage ich. „Das ist doch kein Hotel.“ (Den Spruch klopfe ich dauernd!) Der Mastermind zuckt die Achseln. Ich rufe den Amazing auf seinem Mobile an: „Kannst du nicht mal....?“ Der Amazing vergisst zwar manchmal eine Ansage zu machen oder eine Aufgabe zu erledigen; im direkten Kontakt ist er aber immer ganz der Diplomat und nimmt mir den Wind aus den Segeln: „Ja. Tut mir leid. Mach ich nächstes Mal.“

Unsere Kinder sind keine Kinder mehr. Sie gehen aus. Nachts. Sie kommen mit einem blauen Auge von der Kirmes in der Provinz. („Wer war das? Ich ruf die Polizei.“ „Krieg dich ein, Mutter, halb so wild.“) Der Mastermind geht zum Bundesäppelwoifest und ändert dauernd die Ansagen: „Kannste mich so nach Mitternacht abholen?“ „Der M. kommt dann auch mit, der pennt hier. Geht das o.k.?“ „Bleibt der zum Frühstück?“ „Kann sein.“ Dann wird gechattet oder noch mal telefoniert. Planänderung. „Also ich fahr dann mal zu dem F. Vielleicht penn ich bei dem.“ „Und der M.?“ „Na, der auch, aber das geht dich doch nix an.“ Kurz vorm Abzug: „Leg mal dein Mobile neben dich. Könnt sein, dass sich noch was ändert. Damit du uns holen kannst. Nur für den Fall...“ Ich gehorche, maulend. Um halbelf kommt der Anruf: „Also wir übernachten beim T.“ „Wer ist der T.?“ „Kennste nicht. Das geht klar.“ „Bis morgen dann.“

Sie sind keine Kinder mehr. Ich mache mir Sorgen, manchmal. Besonders wenn sie in die Provinz fahren. Wie sich die Leute vom Land einbilden, dass man in der Stadt dauernd überfallen wird, so gehe ich davon aus, dass in der Provinz hinter jeder Ecke ein rechter Sack lauert und dauernd Besoffene Bierflaschen werfen. Manchmal klettere ich um drei Uhr nachts aus dem Bett und guck nach, ob sie sicher heimgekommen sind. „Was wolltest du denn heut Nacht“, fragt der Amazing dann am Morgen, „als du in mein Zimmer geguckt hast.?“„Dich sehen.“ Wie damals, als er grad geboren war und in seinem Kinderbettchen schnaufte. Er lächelt. Demnächst zieht er aus. Ich muss mich dran gewöhnen. 

Donnerstag, 19. September 2013

Tagebuchschnipsel: Auto.Perdu.Epik.Neubegehren.Nachruf.KeinTrost

Auto
Ich fahre nicht gern Auto. Gar nicht selbst und auch nicht gerne mit. Ich lebe in der Hoffnung, noch zu erleben, wie das Automobil durch andere, weniger individualistische und umweltverschmutzende Verkehrsmittel ersetzt wird, so dass eines Tages allenfalls noch ein paar Fetischisten mit ihren Oldtimern über verwunschen verwilderte Straßen und von Lupinen überwucherte Autobahnen tuckern, einander bei der Rast auf mühsam vom Unkraut zu befreienden, altertümlichen Parkplätzen wehmütig von alten Zeiten erzählend, als man "mit hundertfuffzig Sachen" von Dortmund nach Frankfurt brettern konnte, ganz allein in seinem Automobil, die Stereoboxen voll aufgedreht: "Highway to hell."

Perdu 
Mir wird nichts abgehen dann, außer jene gemütlichen Fahrten zu zweit mit dem Amazing, der, obwohl im Besitze einer Fahrerlaubnis, sich standhaft weigert, das Automobil zu lenken und lieber den gelassenen, amüsierten Beifahrer seiner Mutter gibt. Beisammen im sich mit höchstens 100 km/h fortbewegenden Blechkasten, einmal in unserer alltäglichen auseinander strebenden Automobilität eingeschränkt, kommen wir in jene Gespräche, zu denen sonst so oft die Zeit zu fehlen scheint. Der Amazing erzählt mir von amerikanischen Serien, die er im Stream (letzte Staffel von "Breaking Bad") guckt, davon dass jede/r  ("außer dir") zurzeit über GTA V spricht und wie der Wahnsinn der US-amerikanischen Rechten sich auf zahllosen Videos bei Youtube bestens dokumentiert. Ich erhalte auch eine kleine Einführung ins Sachenrecht und komme in den Genuss eines Kurzvortrags zu "Einigen grundsätzlichen Überlegungen  über die  Altersdiskriminierung der Jugend" durch das geltende Wahlrecht.  Das ist alles höchst interessant und lehrreich für mich. 

Epik
Der Amazing war als Kind und Jugendlicher ein Vielleser. Jetzt liest er kaum einmal mehr Belletristik. Gelegentlich versuche ich, ihm etwas zu empfehlen. Aber er winkt regelmäßig ab. Sein Bedürfnis nach Geschichten, nach komplexen und ambivalenten Erzählungen wird durch Serie wie "The Wire", "Breaking Bad", "Sopranos" und viele andere, deren Namen ich nicht mal kenne, gedeckt. Er kann über sie, ihre Machart, ihre unterschiedlichen Entwicklungsstadien, ihr gesellschaftspolitische Relevanz, die ihnen innewohnende Poesie und die sprachlichen Feinheiten der Dialoge so eloquent und differenziert sprechen, wie Literaturkritiker in den Feuilletons über literarische Werke. Ich weiß nicht, ob der Amazing repräsentativ für die potentielle junge (männliche?) Leserschaft ist. Aber ich selbst hatte beim Anschauen von "The Wire" den Verdacht, dass Serien auf diesem Niveau in vielerlei Hinsicht mehr erzählerisches Potential entfalten können, einen vielschichtigeren und ausdifferenzierteren Blick auf gesellschaftliche Phänomene, Sprechweisen, Phantasien und Phantasmen entwerfen, als jeder noch so backsteindicke Roman es könnte. Vielleicht wird deshalb "die Literatur der Zukunft" gar nicht mehr diesen Anspruch erheben, wird der "große Gesellschaftsroman" ganz aus der Mode kommen, weil das Bedürfnis nach Großerzählungen in anderen Medien für viele besser und auch anspruchsvoller erfüllt wird. Es wird weiterhin gelesen werden, aber weniger Menschen werden, vielleicht, belletristische Werke lesen und wenn dann solche, die weniger "erzählen", sondern...

Ich weiß es nicht. Morel äußert gelegentlich den Verdacht, dass die auffällige Geschlechterdifferenz im Umgang mit den Computerspielen und der Mediennutzung insgesamt sich langfristig zum Nachteil der Männer auswirken werde. Tatsächlich ist das Erscheinen von GTA V ein Gesprächsthema vor allem für Jungen und junge Männer und es sind auch vor allem sie, die einen erheblichen Teil ihrer Freizeit mit Computerspielen und dem Schauen von gestreamten US-Serien verbringen. Ob ihnen das mehr schadet oder nützt? Welche Fähigkeiten erwerben sie? Welche verlieren sie? Wie wirken sich diese interaktiven Mega-Erzählungen auf ihr Bewusstsein aus? Bleiben nicht doch die Mädchen zurück, die weiterhin mehr Lesen und sich am Fernsehprogramm orientieren? Die Wertung, dass Lesen "wertvoller" sei als Egoshooter spielen oder TV-Serien zu analysieren, orientiert sich an bildungsbürgerlichen Maßstäben, deren Gültigkeit ich bezweifele. Man muss nicht lesen, um sich "ein Bild von der Welt zu machen". Man kann. 

Nachruf
Sie lagen sicher alle schon lange in der Schublade, die Nachrufe auf Marcel Reich-Ranicki. "Ein Leben für die Literatur", las ich. Dem Amazing erschiene so ein Leben verunglückt. Mir auch. Für Marcel Reich-Ranicki war die Literatur lebensnotwendig, vielleicht war sie für ihn "das Leben". Daraus, aus dem Einzelfall (und auch nicht aus einer Vielzahl von solchen Einzelfällen) lässt sich jedoch nicht folgern, dass "die Literatur" für "die Gesellschaft" notwendig sei (Notwendig, immerhin, sind hier die Anführungsstriche, in beiden Fällen). 
Die Literatur, die für Marcel Reich-Ranicki bedeutsam war, war es für mich häufig nicht. Wenigstens in einem stimme ich jedoch mit ihm völlig überein: Was langweilt, ist Mist. Nur langweilte mich eben häufig was anderes als ihn (und umgekehrt). Sein Urteil (und aufs Urteilen kam es ihm als Kritiker ja vor allem an) war mir fast immer langweilig; es hatte keinerlei Autorität für mich. Ich habe seine Lobeshymnen auf literarische Werke selten zu Ende gelesen und seine Verrisse nie. 
Kein bisschen gelangweilt, allerdings, hat mich seine Autobiographie "Mein Leben". Wie er da die Suche des zwischen den Kulturen und Sprachen hin- und hergerissenen Jungen nach Identität beschreibt und das Glück, das der Jugendliche im deutschsprachigen Theater findet, wie er die Verbrechen und die Verbrecher, deren Opfer er und die Seinen im Warschauer Ghetto wurden, beim Namen nennt und auch den Nachkriegsdeutschen, die ihm einen Broterwerb und eine Position ermöglichten, ihn aber niemals ankommen ließen, nichts schenkt, das ist anrührend und beklemmend zu lesen; das konnte beispielhaft verdeutlichen, auf welchen Trümmern und wessen Knochen der Wohlstand der Westdeutschen gegründet wurde. 
Dennoch schloss er seinen Lebensbericht so: "Aber ich weiß sehr wohl, was ich mir dachte, als ich 1970 das Foto des knieenden deutschen Bundeskanzlers sah: Da dachte ich mir, dass meine Entscheidung, 1958 nach Deutschland zurückzukehren und mich in der Bundesrepublik niederzulassen, doch nicht falsch, doch richtig war. Fassbinders Stück, der Historikerstreit und die Walser-Rede, allesamt wichtige Symptome des Zeitgeists, haben daran nichts geändert."

Kein Trost.
Er ist alt geworden. Die Alten sollten gut gehen können. 

Freitag, 28. September 2012

I DO NOT DENY THE SUN... (Literarische Reisen nach Neuseeland)

In diesem Jahr ist Neuseeland Partnerland der Buchmesse. Mein Sohn Amazing hat einige Monate in Neuseeland gelebt, auf der Nordinsel, in einem Vorort von Auckland. Da war er 16 und ich lernte beim Abschiednehmen und in den Monaten ohne ihn, dass mein Leben sich ändern musste, die "Familienzeit" sich ihrem Ende zuneigte. In jenem Sommer fuhren wir, die "Restfamilie", in Urlaub an die Mecklenburgischen Seen und ich begegnete dem Stechlin, der Auslöser wurde für die Bloggerei, die es mir ermöglichte, wieder zu schreiben und mich mit Menschen in Verbindung brachte, die ich ohne sie nie kennengelernt hätte. 

Der Amazing nahm aus Neuseeland viele Erfahrungen mit, vor allem wohl die einer wesentlich liberaleren Gesellschaft, die Vielfalt nicht "erträgt", sondern bewusst bejaht. In der ersten Schulwoche berichtete er mir beim Skype-Telefonat: "Wir haben einen Schwulen in der Klasse und das ist ganz o.k. Man weiß es und es ist nix dabei. So was wäre daheim unmöglich." Dass alle anders sind und keiner "normal", war die wichtigste Erkenntnis, die der Neuseeland-Aufenthalt dem Amazing brachte. Dabei war er nicht unkritisch. In seiner Gastfamilie mit angelsächsischem Background nahm er durchaus rassistische Tendenzen gegenüber den Maori wahr; aber er stellte auch fest, dass in der Schule solche Haltungen nicht geduldet und aktiv bekämpft wurden. Ich weiß nicht, ob es einen kausalen Zusammenhang gibt. Der Freundeskreis des Amazing jedenfalls ist seit dem Neuseelandaufenthalt wesentlich "bunter" geworden. Viele seiner Freunde und Freundinnen haben einen asiatischen Hintergrund, die Eltern des  jungen Mannes, mit dem er in der kommenden Woche die erste eigene Wohnung beziehen wird, kommen aus Pakistan. 

Der Amazing ist kein großer Naturfreund (Wandern hält er bekanntlich für Folter). Der Schönheit und Unberührtheit der Landschaft auf der Südinsel konnte er sich jedoch nicht verschließen. In den Schulferien unternahm er damals  eine 14tägige Reise auf die Südinsel, bei der sich beinahe ein Ohr abriss (wovon ich auf Facebook durch ein gruseliges Foto erfuhr) und zum ersten (und letzten?) Mal Bungee sprang (wonach er mich mit einer SMS um halb sechs Uhr morgens - Zeitverschiebung -  aus dem Bett warf: "WOW! Bungee!"). 

Unwahrscheinlich, dass ich jemals nach Neuseeland komme. Doch ich reise "auf der Stelle" hin, indem ich neuseeländische Literatur lese. Eine der für mich beeindruckendsten und wichtigsten Autorinnen kommt aus Neuseeland. Ich habe ihrem Werk hier im Blog schon mehrmals Posts gewidmet: Janet Frame. Die Überschrift über dem ersten Post gilt nach wie vor: Entdecken Sie Janet Frame! Eine weitere Autorin, die ich sehr empfehlen kann, ist Keri Hulme. Und wie immer lohnt es sich natürlich, die Texte im Original zu lesen. 

Meine Empfehlungen zur Buchmesse:

Entdecken Sie Janet Frame (An Angel at my Table, Poems, Short Stories) 

For Creation is movement (Janet Frame: towards another summer)

Te Mutunga - Ranei te take. Das Ende ist der Anfang (Keri Hulme: Bone People)

Mittwoch, 1. Februar 2012

PC, PLEASE BITCHES !? (What a treasure of a kid)

Der Mastermind ist wieder da! Er ist ganz der Alte und trotzdem ein ganz anderer Typ. Nach wie vor steht der 1. FC Bayern München bei ihm ganz weit vorn (Was weiterhin und bis ans Ende ihrer Tage seiner Mutter ein Gefühl unverzeihlichen Versagens bereitet.). Sein Musikgeschmack hat sich erweitert. Nicht zum Besten, meint Morel. Denn der Mastermind steht jetzt auch auf Partymusik; er ist voll obercool und macht ziemlich sonderbare Gesten, bezeichnet sich aber weiterhin im Brustton der Überzeugung als „schüchtern“. Er strahlt über beide Ohren und verzieht böse das Gesicht; er lacht und jammert, schimpft und kuschelt, alles in einem; er ist sofort wieder ganz DA: Sweet home.

Der Mastermind hat auf seinem neuen Smartphone (Weihnachtssuperdupergemeinschaftsgeschenk von allen, die ihm was schenken wollten) einen Gesprächsfetzen gespeichert, den er als passenden Kommentar zu allerhand Ereignissen und Gegenständen abspielt: „GAAAAAY“, stöhnt eine männliche Stimme. Ganz schön viele Sachen sind „gay“: die neue Bettwäsche, der Vorschlag, wach zu bleiben, um den Jetlag auszutricksen, die Werbekarte vom Friseur, die eine „Pärchenrabatt“ anbietet, die Idee, den Koffer sofort auszupacken und und und... ich komme jetzt nicht mehr auf alles. Der Mastermind verwehrt sich aber gegen die Unterstellung, seine Performance sei „irgendwie“ schwulenfeindlich. Diese Behauptung selbst sei„GAAAY“.

Der Mastermind rappt, bevor er sich müde in die Federn schwingt, locker einen Songtext. Darin fällt das Wort „Nigga“. Sein liebender, älterer Bruder, der Amazing, findet das uncool und gar nicht „GAAAY“. „Alter“, sagt der Amazing. „Das geht jetzt echt nicht. Das N-Wort.“ „Ich zitiert das doch bloß.“, sagt der Mastermind. „So machen die sich selbst an. Kapierste  nicht?“ „Mann“, sagt der Amazing, „ du bist ein Weißer. Und ein Weißer sagt das N-Wort nicht. Weil´s dann rassistisch ist. Aber es is nicht rassistisch, wenn es ein Schwarzer sagt.“ „No, no, Alter“, sagt der Mastermind, „jetzt sei mal nicht so oberkorrekt. Es ist ein Rap. Da gehört das dazu.“ „Weiße machen kein Rap, das kommt nicht gut.“ „Du hörst doch selbst dauernd HipHop.“ „Genau“, sagt der Amazing. „Aber ich geb mich nicht als Schwarzer aus. Und benutze dann auch noch das N-Wort. Das gehtnicht. Mama, sag du´s ihm.“

Ich bin überfordert. Rap. Und so. Was geht, was geht nicht? Freiheit und ihre Grenzen. PC. Das N-Wort geht (irgendwie?) nicht. Von einem weißen Jungen. Privilegien-Pussys. Wir alle. (Und die Kerle streichen noch die patriachalische Dividende ein. Ganz unverfroren. GAAAAY geht eigentlich auch nicht, oder? Ich musste aber ein paar Mal lachen, als der Mastermind es abgespielt hat.) Beim Abendessen erfahre ich, dass der Song, den der Mastermind vorgetragen hat, von Eminem ist. „Weiße Jungs sind keine Rapper“, doziert der Amazing. „Das ist uncool  und wird meistens rassistisch. Außer bei Eminem. Der ist eben der Coolste.“ „Und weiß.“ Ich bin echt überfordert. 

Und glücklich. Der Mastermind ist wieder da. 

Samstag, 20. Oktober 2012

WAS FÜR EIN GLÜCK... (Über nostalgisches Kneipengucken, ein neues "intellektuelles Niveau" und intrinsische Motivation)

Was für ein Glück...wir saßen gestern Abend wieder einmal zu viert beim Abendessen. Der Mastermind und ich hatten zuvor den Amazing in seiner Studentenbude besucht, waren durch die Stadt gestreift, in der auch Morel und ich vor mehr als 20 Jahren studiert hatten. Ich zeigte den beiden einige der Häuser, in denen wir gewohnt und Kneipen, in denen wir gezecht hatten. 

Vorsichtig schlug ich beim Abendessen das Thema Silvester an; unsere irischen Freunde (ehemalige Nachbarn, mit deren Kindern Amazing und Mastermind oft gespielt hatten) würden sich über unseren Besuch freuen. Sie hatten angefragt, ob "die Jungs" Lust hätten, mit nach Irland zu kommen zum Jahreswechsel; E. und C. könnten sicher ein interessantes "Programm" für die beiden zusammenstellen. Viel Hoffnungen machte ich mir nicht, dass diese Einladung angenommen werden würde. Unterwegs mit den Eltern (schon im Sommer waren die beiden Generationen dieser Kleinfamilie ja getrennte Wege gegangen: die Brüder ´all inclusive´ in die Türkei; die Eltern kulturbeflissen nach Venetien) ... Aber die Idee, mit E. und C. durch die Dubliner Clubs zu ziehen, wirkte offenbar Wunder. Man ist geneigt. Schön. Ich freu mich. Und außerdem war ich noch nie in Dublin.

Die Themen beim Abendessen waren neu: Versammlungsfreiheit. Die juristische Auslegung des Begriffs "unter freiem Himmel" (Fallbeispiel: Montagsdemos am Fraport). Schranken-Schranken. "´Einführung in die Grundrechte´ ist spannend." Der Amazing hat jetzt ein "intellektuelles Niveau" ("Das wurde ja in der Schule regelmäßig unterboten".). Man unterhalte sich sachlich-fachlich, sogar beim Essen in der Mensa, wird behauptet. Das Feiern kommt auch nicht zu kurz. Schade sei es halt für die Heim-Schläfer_innen, die verlören leider, leider den Anschluss, gibt sich der Amazing mitleidig. "Selbst wenn man die mochte  im Einführungskurs, die sind halt abends nicht mehr dabei, wenn man sich näher kommt." Alles wie früher. Und doch anders. Man fährt jetzt mit dem Sammeltaxi von der Fete heim. Es gibt auch Wahlmöglichkeiten: Rechtsphilosophie oder - soziologie. Der Amazing zögert nicht: Soziologie soll der Schwerpunkt sein. Er hat auch schon einige halb ausgereifte Theorien zum Thema. Und außerdem erklärt er mir: "Du sollst Vater und Mutter ehren" sei eine Sitte, kein Recht. Jo!

Intrinsische Motivation. Das ist fast das erste Mal, dass ich sie bei ihm wahrnehme. (Die 12 Jahre Schule hat er schlicht ´absolviert´. So animiert war er zum letzten Mal, als er über seine Praktika oder den Aufenthalt in Neuseeland sprach.) 

Was für ein Glück.


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By the way: Als Lehrende und Lernende ist es schon lange meine Überzeugung, dass ich nichts lehren oder lernen kann, ohne dass diese Motivation da ist. Wo sie fehlt, kann durch Belohnungs- und Bestrafungsschemata - z.B. Benotung - ein bisschen Dressur gelingen. Das bleibt äußerlich. "Stoff", der dem Vergessen anheim fällt, Verhaltensweisen und Methoden, die bloß ganz kurzfristig die alten Muster ablösen. Motivation, die nachhaltiges Lehren und Lernen ermöglicht, kann entweder aus dem eigenen  Begehren der Lernenden  hervorgehen oder aus der Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem, die von dem Begehren geprägt ist, einander zu verstehen. Antje Schrupp hat in ihrem Blog gerade einen Text veröffentlicht, der - mit anderen Worten und in einem anderen Kontext -  einer ähnlichen Überzeugung Ausdruck verleiht. Damit Lehren und Lernen gelingen können, braucht es im Idealfall beides - das Begehren der Lernenden und der Lehrenden und die "Liebe" zueinander (oder, wenn dieses Wort zu stark ist, zumindest die wechselseitige Anerkennung). 

Manchmal scheint es keinen Weg zu geben. Ich soll zum Beispiel Menschen lehren, die sich selbst als radikale Salafisten bezeichnen. Auch erklärte Anti-Semiten hatte ich schon in meinen Kursen. Meine Erfahrung zeigt aber, dass keine Differenz "in der Sache", den Prozess des Lehrens und Lernens so nachhaltig beschädigt wie eine gestörte Beziehung. Solange es mir gelingt, auf der Beziehungsebene "den Kontakt zu halten", die Anerkennung nicht zu verweigern und nicht zu verlieren, können kleine Veränderungen stattfinden, Zweifel angestoßen werden, obwohl die Auseinandersetzung in der Sache "hart" ist. Wenn die Beziehung kaputt ist, ist jedes Gespräch dagegen sinnlos. Dann kann man voneinander nichts mehr lernen. 

Antje Schrupp hat vor längerer Zeit einmal einen Text über Anti-Feministen und Un-Feministen geschrieben, der mir viel zu denken gab. Was sie dort beschreibt, deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen hier im Blog und im ´Real Life´. Seit einigen Wochen habe ich die Kommentarfunktion, die vorher offen war, auf Moderation umgestellt. Seit ich mehr über feministische Themen blogge, habe ich öfter Kommentare gelöscht, die ganz offensichtlich beleidigend waren - mir oder anderen Kommentator_inn_en gegenüber. Es hat mich ein wenig "getröstet", einige Nicks dieser "Kommentatoren" bei hatr.org "wiederzufinden". Gerade weil es auf Beziehungen ankommt, damit Verstehen möglich wird und Veränderungen stattfinden können, ist es auch wichtig, die Kommunikation mit bestimmten Leuten abzubrechen.

Was sich gegenwärtig in der "feministischen Blogosphäre"(?) abspielt, finde ich traurig. Dem Misstrauen, den wechselseitigen Beschuldigungen und Missverständnissen ist aber nicht durch Auseinandersetzungen um "die Sache" (also eine Verständigung über den "richtigen" Feminismus oder den "richtigen" Anti-Rassismus oder sonstwas beizukommen, denn darüber wird man sich nicht abschließend einigen können - muss und soll es auch nicht!). Viel wichtiger wäre es, auf die Beziehungen zu schauen: Können wir einander noch gelten lassen, obwohl wir in uns so wichtigen Fragen anderer Meinung sind? Wollen wir einander noch verstehen? Oder wollen wir/will ich einfach "gewinnen"? Das letzte Wort haben? Was macht mich so zornig? Was verletzt mich so sehr? Wovor habe ich Angst? Vielleicht könnten dann einige wechselseitige Projektionen aufgelöst werden. Man würde sich nicht "einigen", ganz bestimmt nicht. Aber verstehen und von einander lernen können. Vielleicht. 

Sonntag, 20. Oktober 2013

DIE MACHT UND DAS KIND (noch einmal: Königliche Körper)


Um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert erhielt der Hofmaler Francisco Goya den Auftrag, die spanische Königsfamilie um Karl IV. zu malen. Goya hatte vorbereitend eine Reihe von Einzelporträts angefertigt, um sie schließlich zu einem großformatigen Gruppenbildnis zusammenzufügen. Unverkennbar orientiert er sich hierbei an Las Meninas von Velázquez, seinem berühmten Vorgänger als Hofmaler am spanischen Hof. Velázquez Beispiel folgend stellt er die Figuren in einem Raum des Palastes auf und sich selbst auf der linken Seite des Bildes vor seiner Staffelei dar.



Velázquez, wie Swetlana Alpers gezeigt hat, entwickelt in Las Meninas ein faszinierendes Spiel unterschiedlicher Ebenen der Repräsentation von Familie und Herrschaft, in dem die ausgeklügelten höfischen Machtstrukturen durch die Überschneidung der Blickachsen von Betrachtern und Dargestellten sichtbar werden. Velázquez kleine Infantin wird durch den elterlichen Blick aus dem Spiegel in den Blick der Betrachterin gerückt, dem sie unverwandt begegnet. Sie ist das königliche Kind, in dem und durch das die Einheit von Herrschaft und königlicher Familie sich herstellt, vor dessen selbstverständlicher Würde und Bedeutung die Hofdame kniet und die Betrachterin sich verneigt. Seitlich hinter ihr steht der Maler, der die Betrachterin in den Blick nimmt, als jene Instanz, vor der die Macht und die Familie inszeniert werden und durch deren Anerkennung zugleich die Ausnahmestellung der mächtigen Familie  konstituiert wird. Die Herrschaft der königlichen Familie wird in Stand gesetzt als selbstverständliches Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten. Die königlichen Körper sind Träger der Macht, ohne dadurch ihre „Besitzer“ im Stich zu lassen. Die Familie des Königs ist auch im Inneren des Palastes durch und durch königlich. Dass der Maler und die Betrachterin, die Hofdamen und das Königspaar sich der Mittel dieser Inszenierung bewusst werden, wird noch nicht zu deren Denunziation. Denn: Die königliche Familie hat kein „Privatleben“.

Velázquez: Las Meninas

Anders als sein Vorgänger versteckt sich Goya auf dem Gemälde beinahe hinter der dargestellten Königsfamilie, stellt sich hinter der prunkvollen Inszenierung im Wortsinn "in den Schatten". Von hier aus nimmt er Blickkontakt zur Betrachterin vor dem Bild auf, eine heimliche Übereinkunft zwischen Betrachterin und Maler, von der die königliche Familie ausgeschlossen bleibt. Goyas Gemälde erscheint auf den ersten Blick simpler, schlichter konstruiert als Velázquez´ komplexe Komposition. Die Familie steht aufgereiht vor der Wand, Goya hat sie kaum in die Tiefe gestaffelt. Nur der König selbst und sein Thronfolger treten ein wenig hervor, bilden auch durch die spiegelbildliche Körperhaltung einen Rahmen für die Königin und ihrer jüngsten Kinder. Die beiden Männer, die die dynastische Erbfolge verkörpern, werden von hinten durch die weniger bedeutenden Familienmitglieder geradezu gestützt, aufrecht gehalten: der Kronprinz durch seinen jüngeren Bruder, der König durch seinen Schwiegersohn, den Fürsten von Parma.

Die Enge der Situation, die Goya herstellt, lässt die königliche Familie in diesem Bild „wie an die Wand“ gedrückt erscheinen. Trotz des Prunkes, den ihre Kleidung ausstrahlt, beherrscht die Familie die Bildsituation nicht, sondern muss sich ihr gleichsam „stellen“, wird gestellt durch den Maler und die Betrachterin, zwischen denen sie wie eingeklemmt erscheint. Während die beiden männlichen Stützen der Dynastie sich links und rechts behaupten, weil sie durch die Verwandtschaft noch den Rücken gestärkt bekommen, steht die Königin Maria Luisa prachtvoll geschmückt mit ihren beiden jüngsten Kindern im Zentrum isoliert. Goya liefert die spanischen Bourbonen dem Blick einer Betrachterin aus, die in ihren prächtigen Königskostümen das Schlichte, das Hässliche, das Hochmütige, das Schüchterne, kurz: das Private der Figuren entdecken kann und soll.

Schon zu Lebzeiten Goyas ist darüber gerätselt worden, warum die Königin dieses sie beinahe entstellende Porträt akzeptiert hat. Doch Goyas Darstellung ist nicht karikierend und verletzend; er stellt die königlichen Körper lediglich so dar, wie sie sind: Kostümierte Menschen, die eine Rolle spielen, die Rolle der königlichen Familie. Diese Familie, zeigt das Bild,  steht (noch) zusammen und zerfällt zu gleich in drei Gruppen: die Gruppe um den Thronfolger, die Gruppe um den König, die Königin mit ihren Jüngsten.Die Familiensituation ist konfliktreich und problematisch. Das Private und das Politische kreuzen sich in diesen Körpern, kommen aber nicht mehr zur Deckung. Keine der Figuren nimmt die andere in den Blick. Sie schauen ostentativ an einander vorbei, einige auf die Betrachterin, andere über sie hinweg oder an ihr vorbei. Goyas Bild, indem es die königliche Familie als Privatfamilie zeigt, mit ihren familiären Ähnlichkeiten, ihren Störungen und Entstellungen, kündigt das Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten auf und verwandelt es zu einem Einverständnis zwischen Maler und Betrachterin. Es ist das neue Wissen darum, dass die Träger der königlichen Körper „auch nur Menschen“ sind.

In den frühen Nuller-Jahren dieses Jahrtausends saß ich wegen einer Arbeit über Goyas Gruppenbild der Königsfamilie am Esstisch, den Katalog aufgeschlagen vor mir. Amazing, mein älterer Sohn, damals etwa 8 oder 9 Jahre alt, trat hinzu und betrachtete die Abbildung im großen Bildband. Nach einer Weile beobachtete ich, wie er sich eigentümlich hinstellte, seine Haltung immer wieder korrigierte, bis er zufrieden war. Ich fragte ihn: „Was machst du?“ Er deutete auf den schönen, kleinen Prinzen in Rot auf dem Gemälde. „Ich probiere aus, wie der Junge dasteht.“  „Und?“ Der Amazing sagte: „Er hat Angst. Er will nicht so dastehen.“ Ich war erstaunt. Aber der Amazing zeigte mir, wie der Oberkörper des Jungen leicht nach hinten kippte und wie fest er die Beine in den Boden stieß. „Und seine Mutter?“ „Hält ihn fest.“ Ich verstand, was der Amazing sagen wollte. Das Festhalten der Mutter, der Königin, war beides: Stütze und Fessel.

Auch Goya, sah ich, hatte wie vor ihm Velázquez ein königliches Kind ins Zentrum des Interesses der Betrachterin gestellt. Zwar steht auf Goyas Gemälde in der Bildmitte die Königin, doch der Blick wird auf den kleinen Jungen in hellen Rot zwischen seinen Eltern gelenkt, der die Verbindung und die Trennung zwischen beiden anzeigt, ausgeschnitten gleichsam aus dem Familienzusammenhang zeichnet sich sein schönes Gesicht vor dem dunklen Hintergrund der Wand ab. Überbetont hat Goya auch den starken Arm der Königin, mit dem sie das Kind an der Hand hält. Wie Velázquez kleine Infantin schaut der Junge den Betrachter direkt an. Aber es ist nicht mehr der selbstbewusste Blick eines königlichen Kindes, das sich seiner Ausnahmestellung von Anfang an bewusst ist, unterstützt durch die Unterwerfung erwachsener Hofdamen unter seine auf der Verwandtschaft zu König und Königin beruhende Autorität. Goyas Knabe wird von seiner Mutter gehalten, die auch Königin ist und ihre Macht inmitten ihrer Familie demonstrieren will. Doch die Macht der königlichen Mutter allein kann dem Kind die Ausnahmestellung nicht mehr sichern, denn an der Mutter selbst wird das Auseinanderfallen von Rolle und Person sichtbar.

Das königliche Kind, der Amazing hat es am Körper gespürt, will sich nicht präsentieren lassen und nicht repräsentieren. Es erfährt, unbewusst, die Gefährdung, die das Auseinanderbrechen von Privatheit und Öffentlichkeit für die Macht der königlichen Familie bedeutet, am eigenen Körper. Nach diesem historischen Umbruch wird der königliche Körper nicht mehr seinem Träger gehören und zugleich dessen Machtstellung repräsentieren, sondern öffentliches Eigentum werden, Paparazzi-Gut. Der Träger des königlichen Körpers wird durch das schauende Publikum von seinem Körper enteignet werden.

An Goyas Bild lässt sich jene bis heute wirkende Veränderung von Präsentation und Repräsentation der Körper der Mächtigen ablesen, die durch die Trennung von Privatem und Öffentlichem im bürgerlichen Zeitalter hervorgerufen wurde. Das Private ist nun zwingend unpolitisch. Die Mächtigen müssen daher auf der Hut sein, nicht zuviel von sich zu präsentieren und die Repräsentanten werden ohnmächtig, wie die bloß noch repräsentativen Monarchen unserer Tage. Mit dieser Veränderung verlässt das Kind die Bühne der Macht. Wo die Macht gemeint ist, kann das Kind nicht mehr erscheinen. Das Kind wird zum bloßen Repräsentanten der Privatheit der Mächtigen: Bilder mit Kindern und Enkeln unterstützen nun nicht mehr den Machtanspruch der Mächtigen und drücken ihn aus, sondern sollen zeigen, dass auch die Mächtigen „menschlich“ sind.

Von unserer Gegenwart her betrachtet ist an diesem Wandel auch noch etwa Anderes interessant: Die Macht hat, indem sie sich nicht mehr mit und durch das Kind repräsentieren ließ, auch aufgehört, sich auf die nächste Generation zu beziehen. Die Repräsentation enthüllt das Dilemma einer Macht-Perspektive, die sich in keiner Zukunft erkennen kann. Die Macht zeigt sich in unserer Zeit im Gruppenbild der gerade aktuell Mächtigen. Morgen schon können andere an dieser Stelle stehen, auf dem Gipfel der 20 oder 8, der EU oder des transatlantischen Bündnisses. DieTräger der Macht sind im Bild austauschbar geworden. Dass das Private nicht mehr politisch ist und sein darf, hat die Macht zugleich von der Verpflichtung auf die Zukunft und der Bindung an die Vergangenheit abgeschnitten. In den Bildern kann dieser Verlust sichtbar werden.

(Es gibt aus diesem Dilemma keinen anderen Ausweg als die Einsicht darein, dass Macht und Politik nicht dasselbe sind.)


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Dienstag, 19. Juli 2011

Reisejournal Rom (11): MORBID. MONDÄN. MODISCH. MUNDEND.

Keine Kirchen heute. Genug von den Seligen und Heiligen, den leuchtenden Kränzen, den gefalteten Händen, den verzückten Gliedern im Martyrium für den Höchsten. Davon also, stelle ich fest, kann ich genug kriegen. Marmor, ein Stein den ich liebe, mehr noch seit wir vor mehr als zwanzig Jahren mit einem halsbrecherischen Busfahrer hinauf in die Steinbrüche von Carrara fuhren und sahen, wie die Blöcke geschlagen werden, - ich mag ihn gerade nicht mehr sehen. Überall hat der barocke Katholizismus sich rein- und aufgedrängt, selbst die phantastische Architektur des Pantheons verleidete er mir durch die stets ähnliche (oder scheint mir das nur so?) Ausgestaltung zur christlichen Weihestätte.

Nur eine Kirche sahen wir trotzdem auch heute, von der (Santa Maria – was sonst? - della Concezione) aber nur die Gruft und diese wiederum nur für drei Minuten. Dann war Toresschluss zur Mittagspause. Das reichte auch. Am Eingang zur Kapuzinergruft am Ende der Via Veneto wartete die Touristenschlange. Drinnen gibt’s Heavy Metal: echte menschliche Knochen und Schädel von viertausend Kapuzinern, zu phantastischen Formen gestaltet, schmücken die Wände und Böden von fünf Kapellen: Ranken, Blüten, mancher Knochenhaufen ist auch wieder zur menschlichen Gestalt  zusammengebaut, mt einem bräunlichen Sack überworfen und liegt da mahnend: „Wir sind, was ihr sein werdet. Ihr seid, was wir waren.“ Oder so. Oder umgekehrt. Zum allerersten Mal bin ich mit Freund Peterich, dessen skurrilen Elogen auf den Barock, Bernini, die Päpste und die Heiligkeit im Reiseführer über Italien. Bd. 2 Morel einiges abgewinnt, einig: „eine grausige Sehenswürdigkeit, auf die man verzichten sollte.“ Rasch wieder draußen gingen wir weiter die Via Veneto hinauf, die – wie ein Straßenschild verkündete – Fellini in ein Theater des Films verwandelte. Ein wenig, ein ganz klein wenig, kann man sich das noch vorstellen: wie Sophia Loren in einem unglaublich schicken und unwahrscheinlich unbequemen Kostüm hier entlang trippelte, wie Anita Ekberg an einem Campari nippte oder Ingrid Bergmann ihre Pelzjacke überstreifte. Aber man braucht viel Imaginationskraft dazu. Allzu viel für mich heute. Ich werfe lieber einen Blick vorbei an dem Wachmann ins Innere des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung (Ministero dello sviluppo economico), das Außen klassizistisch ist und innen einem Kirchenraum gleicht mit bunten Glasbilderfenster, die – doch er ließ mich nur kurz schauen – Heilige abzubilden scheinen. Die Rückkehr der Maria Juno Moneta???

Später betrachteten wir im Palazzo Massimo alle Terme  direkt am Bahnhof antike Skulpturen und stellten fest, dass für mindestens zwei der Büsten Amazing und Mastermind Model gestanden hatten. Außerdem überraschte, dass auch Oktavian schon die Hoodie-Mode kannte und schätzte. Stand ihm gut, jedenfalls. Das war angenehm ruhig und kühl da drinnen. Wir stellten wieder einmal fest, dass das Christentum völlig zu Unrecht für sich reklamiert, es habe das Individuum entdeckt. Wir sahen jedenfalls hinreichend viele ganz einzigartige Männer und Frauen in Stein porträtiert, von denen man sich bei einigen unmittelbar vorstellen konnte, wie sie in Fleisch und Blut schmallippig oder breitmäulig zu schwatzen beginnen würden, säße man bei einem Bier mit ihnen zusammen oder träfe sie auf dem Wochenmarkt.

Am Nachmittag ging ich mit Amazing ein wenig Shoppen beziehungsweise Schaufenster-Cruisen, eine Unterhaltungsweise, der Morel und Mastermind eher nichts abgewinnen können. Für Amazing erstanden wir in einem Secondhand-Laden ein elegantes Armani-Shirt für 20 €. Das Kleid von Missoni, das mir gefiel, kostete aber trotz 50%-Abschlag vom Originalpreis immer noch 350 € und war damit unerschwinglich. Dafür entschädigte das Eis im Palazzo Freddo. Hier trifft sich im Verkaufssaal der ältesten Eisfabrik Roms (seit 1880) die Nachbarschaft, Eis-Gourmets und Touristen, um das leckere Eis zu verschlingen. Ich ernähre mich in Italien ja grundsätzlich wesentlich von Speiseeis. Während ich Mittags in der Hitze die fruchtigen Sorten bevorzuge (Zitrone, Melone, Erdbeer, Kirsch), dürfen es am frühen oder späteren Abend auch mal Zuppa inglese, Schokolade, Stracciatella oder Caramel sein. Riesenportionen – mit und ohne Sahne. Amazing hatte Aranca rosso (Blutorange). Hmmm. Das probiere ich auch noch. 

Donnerstag, 25. August 2011

THE AMAZING MASTERMIND (Der ultimative Superheld)

Seine ungeheuren Geisteskräfte werden nur durch seinen überwältigenden Charme getoppt. Wenn dieser Superheld um die Ecke biegt, erledigt er mit einem Augenzwinkern und einem schiefen Grinsen das Böse im Nu. Er ist groß, schön, klug und charmant. Keiner der bekannten Super-Helden ist ihm gewachsen.

Superman zum Beispiel, wie jede weiß, ist ein mieser Liebhaber. Nur sein Gegner Lex Lutor kann ihn an Langweile noch überbieten. Da hat Spider Man schon mehr zu bieten. Er ist zumindest witzig, gelegentlich, sein Erzrivale Green Goblin bietet eine interessante Studie in Schizophrenie. In Batman schließlich findet das Verlangen nach düsterer Romantik Befriedigung. Er ist verstört, reich, außen hart und innen weich, kurz Every-girls/womans-Liebling, Brooding Mr. Darcy lässt grüßen. Seine moderne Version als Bruce Wayne ist ein wenig kaputter, trauriger und dunkler.

Ich lerne dazu: Spider Man gehört zum Marvel-Imperium, während Batman und Superman aus dem DC-Stall stammen. The Amazing Mastermind weiß alles. Er entwickelt faszinierende Thesen über die gesellschaftliche Funktion der Superhelden-Mythen und ihre notwendige Weiterentwicklung nach dem Ende des Kalten Krieges. Es gibt Erste-, Zweite und Dritte Klasse-Superhelden. WonderWoman, erfahre ich zu meiner Freude, gehört auf jeden Fall zur ersten Klasse. Viele der Superheld:inn:en lassen sich unmittelbar mit der NASA und ihrem Fundraising verbinden. Die phantastischen Vier (nicht die Band!) verdanken ihre Existenz kosmischer Strahlung. Sie sind eine kleine Familie: Mr. Phantastic, seine Frau Die Unsichtbare, deren Bruder Die menschliche Flamme und der unvermeidliche häßliche, aber nette Freund Das Ding. „Immerhin hat der ´ne Freundin.“ „Schon, aber die ist blind.“ „Echt?“ Das Ding ist ein Ziegelstein-Klotz, das alles umeinander hauen kann (oder so ähnlich?). „Kein Mensch will wissen wie...Aber Das Ding hat Kinder.“ Man verzieht angeekelt das Gesicht. Ich zucke die Achseln. Ich kann mir Das Ding nicht vorstellen und seine Fortpflanzungstechniken erst recht nicht.

Amazing Mastermind ist geteilter Meinung über Captain America (Marvel). „Schon ganz gut, wie sie das hingekriegt haben, schließlich war der ja nach dem 2. Weltkrieg als Nazi-Jäger out.“ „Als Typ ist er nur bedingt interessant; es fehlt ihm ein Doppelleben.“ „Ja, Doppelleben ist wichtig.“ „Sie haben ihm einen zeitgemäßen Nazi-Gegner gebastelt, find´ ich ok.“  „Und er ist weniger nationalistisch als bisher. Gut so.“  Die handwerkliche Arbeit am neuen Captain America wird respektiert, Begeisterung weckt er nicht. Vergleiche zu Iron Man kommen in Spiel. Von Iron Mans Initiation ins Superhelden-Dasein wird ausführlich erzählt: ein Waffenhändler in den Händen von fundamentalistischen Terrorbanden, die Schuld am Opfertod eines Freundes, eine technische Super-Rüstung, fertig ist der Kerl. „Iron Man ist eigentlich so ein ganz normaler ´Warum denn nicht´-Typ.“ Aha.

„Ich bin der mit dem Blitz“, sage ich, damit ich auch endlich mal was zur Unterhaltung beitragen kann. „Was?“ „Bei dem Facebook-Fragespiel: Welcher Superheld bist du?“ „Ach so. Mit dem Blitz?“ „Das muss The Flash sein.“ „Ja, stimmt.“, rufe ich, „Der war´s“. Ich erfahre, dass The Flash schnell ist, aber sonst nix. Ich bin eine drittklassige Superheldin. War ja klar. Ich hatte auch nichts anderes erwartet. „Die meisten Superhelden-Comics haben keine richtige story line. Im Grunde wird so was erst bei ´Watchmen´ entwickelt.“ „Ja, das befriedigt dann aber ganz andere Bedürfnisse...“ The Amazing Mastermind fachsimpelt. Ich kann nur bedingt folgen. Auch weil meine Beine so kurz sind und  ich meine Superkräfte als The Flash hier in aller Öffentlichkeit nicht  zeigen will. Ich führe nämlich ein Doppelleben.


Montag, 10. Dezember 2012

Wenn einem soviel Gutes widerfährt,....(Glücksmomente)

"Ich freu mich so", erzählte ich am Arbeitsplatz, "mein Sohn ist gestern Abend heimgekommen?" "War der im Krieg?", entfuhr es einem. Nein, er war nur zwei Wochen nicht mehr daheim. Zuerst hatte Amazing sich für Freitag angesagt, am Donnerstagmittag kam dann die SMS: "Komme doch schon heute Abend nach der AG." Er hat jetzt seit gut zwei Monaten sein eigenes Zimmer in einer WG. Noch kommt er ziemlich häufig nach Hause. Ich weiß, dass sich das ändern wird, je mehr der Studienort zu seinem Lebensmittelpunkt wird. Wir chatten ab und an über Facebook. Wir bilden neue Rituale aus. Sonntagmittag bringe ich ihn zum Zug, wenn er über das Wochenende hier war. Wir laufen zusammen die 20 Minuten zum Bahnhof und unterhalten uns dabei über dies und das. Es ist noch kein ganz festes Ritual, noch fragt er nach dem Mittagessen am Sonntag: "Bringste mich wieder zum Zug?" Das freut mich. Denn ich vermisse im Alltag sehr die Gespräche mit meinem "Großen".

Der Mastermind freut sich auch, wenn sein Bruder kommt. Sofort wird es laut und sie lachen zusammen und rufen sich Sachen zu, die wahrscheinlich mit Basketball und der NBA oder so zu tun haben, mit Spielern, Vereinen und Transfers, von denen ich nichts weiß. Aber ich freue mich, wenn ich sie so zusammen sehe und höre. Der Mastermind ist momentan tief in die Wirtschaftstheorie eingestiegen und analysiert angebots- und nachfrageorientierte Strategien zur Euro-Rettung. "Ich bin ja mehr so der Keynsianer", sagt er, "aber damit vertrete ich in meinem Kurs eine Minderheitenposition." Er lächelt dabei zuversichtlich. Diese Situation scheint ihm zu behagen. Er stellt sich eine Zukunft als Nate Silver des Fußballs vor und plant eine bahnbrechende Arbeit über die Meisterschaftschancen der europäischen Vereine und der Nationalmannschaften, die das komplette historische Datenmaterial berücksichtigt. 

Im Gegensatz zu seinem Bruder (der aber zu diesem Autor seine beste Deutsch-Arbeit ever schrieb) findet er Kafka "ganz gut", dagegen ist der "Prinz von Homburg einfach nur grausam". "Aber wir ham ´ne tolle Vorstellung gegeben bei der szenischen Interpretation, so als Reiter mit Super-Hufgeklapper und ich war ein Spitzen-Homburg. Der Lehrer hat gesagt, dass ich die Verwirrung prima rüber gebracht habe." "Warte nur", sagte der Amazing, "das Schlimmste kommt noch: ´In seiner frühen Kindheit ein Garten´. Das war dermaßen öde." Der Mastermind triumphierte: "Das haben ´se von der Liste gestrichen bei uns. Wir haben ´Das Parfüm´. " Der Amazing zuckte die Achseln. "Kenn ich nicht." 

Im ´richtigen´ Leben, wo man sich über das ganze Falsche, wegen dem es eigentlich auch kein ´richtiges´ Leben gibt (und so weiter), echauffiert und es analysiert (und so weiter) und reflektiert (und so weiter), kann ich Vorträge halten über diese Lektüreliste zur Zentralabiturprüfung in Hessen, die einen kleinsten gemeinsamen Nenner der Kanon-Vorstellungen von leseunlustigen Gymnasiallehrer_innen darstellt. Alles bedeutsam, alles männliche Autoren (ehrlich!), das meiste langweilig und alles beliebig. (Die ganze Idee des Kanons halte ich für falsch, wie auch das Geschwätz über ´Relevanz´, das noch nie was anderes war als Inszenierung von Macht.) 

Aber weil das hier mein einziges richtiges Leben ist und es mir gefällt, lausche ich glücklich dem Geplänkel meiner Söhne und freue mich an ihren unverfälschten und unehrerbietigen Eindrücken von der großen und bedeutsamen Kanon-Literatur: "Der ´Faust´", sagte der Mastermind, "ist nicht schlecht. Außer dem ganzen Scheiß mit der Religion natürlich." "War das nicht zentral da drin?", fragte der Amazing. "Egal", er winkte ab. "Kommen wir mal zu was Wichtigerem. Wird´s dieses Jahr ein Bratwurstessen vor Weihnachten bei Oma und Opa geben?" "Warum nicht?", fragte ich. "Na, weil se doch umgezogen sind. Und die guten Bratwürste, war´n die nicht immer von diesem Hobby-Metzger aus A.?" "Schon bestellt.", sagte ich. "Das Bratwurstessen findet statt, auch in der neuen Wohnung." Sie seufzten erleichtert. 

Glück ist Luxus. Ich habe viel Glück gehabt. Es wäre schäbig, unter diesen Bedingungen nicht glücklich zu sein. (Außer natürlich wegen dem grundsätzlich ´Falschen´, na klar!) Wer, wenn nicht wir? Ich beschäftige mich mit Aristoteles, dem alten Sklaventreiber und Frauenverächter (ganz falsches Leben!) in letzter Zeit. Was bedeutet Tugend? Was braucht ein Mensch, um glücklich zu sein? Und wie viel davon liegt in seiner eigenen Verantwortung? Ich lese vor allem  Martha Nussbaum (wieder; dazu vielleicht später einmal mehr.). ("Liberalismus ist eh Scheiße.", las ich dagegen kürzlich  in einem radikalfeministischen Blog. Das habe ich nicht verstanden, scheint aber in diesen Kreisen Konsens zu sein.) 

Was ist Glück? Als ich Samstagnachmittag vor dem Eintracht-Spiel meine Eltern besuchte, saßen sie zusammen beim Kartenspiel. Meine Mutter machte mir auf und winkte mich hastig rein: "Schnell, ich muss zurück an den Tisch. Ich hab nur noch eine Karte. Ich gewinne. Dein Vater legt mich sonst rein." Mein Vater grinste schelmisch, als er das hörte. Vielleicht hatte er die Zeit wirklich genutzt, um einen Joker zu stibitzen. Er klopfte auf das Weihnachtsplätzchenpaket, das meine Mutter verschnürt hatte. "Kannste von Glück sagen, dass de noch rechtzeitig kommst. Sonst hätt´ ich die gegessen." "Nix da", ich drücke das Paket fest vor meine Brust. "Meine." So machen wir es jedes Jahr. Rituale. Wir haben welche. Sie verändern sich. Ein wenig. Dieses Jahr wird das große Bratwurstessen in der neuen Wohnung meiner Eltern in Frankfurt stattfinden.

Was ist Glück? Der Morel und ich sind begeistert vom letzten Spiel unserer Eintracht vor der Winterpause gewesen. "Sensationell", rief der Morel ins Stadionrund. Und wir sangen: "Nur die SGE! Nur die SGE!"  Was täte ich, wenn ich einen Partner hätte, der kein Eintracht-Fan ist? Es wäre möglich, aber es fühlt sich spontan wie ein Unglück an. 

Was ist Glück? Der Morel kochte zur Feier des ersten Advents Hasenkeulen in einer fantasmagorischen Soße für uns vier, die klassische Kleinfamilie mal wieder am Tisch vereint. Sie war reichlich bemessen, so dass wir zu viert, nachdem die Kartoffeln als Soßenträger alle aufgebraucht waren, rasch noch in der Küche geschnittene Brotscheiben in den Bräter tunken. 

Wer Glück hat, sollte sich bemühen, auch glücklich zu sein. Alles andere wär´ dumm.

Montag, 18. März 2024

DORNBUSCH. Ein Frankfurt-Krimi von Jan und Jutta Pivecka

Der Amazing und ich schrieben zusammen einen Frankfurt-Krimi.

Langjährige Leserinnen und Leser erinnern sich: "Amazing" ist mein älterer Sohn. (Siehe auch, in freilich notwendig verfremdeter Form unter "Artgerechte Männerhaltung". Sein jüngerer Bruder ist in diesem Blog als "Mastermind" bekannt.). Dieses Blog, wie auch das Schwester-Blog "MelusinefeaturingArmgard", entstand, nicht ganz zufällig, als der Amazing für ein halbes Jahr ans andere Ende der Welt ging, nach Neuseeland. Und die verlassene Mutter begann, sich "in diesem Internet" zu tummeln, Social Media zu nutzen und eben: zu bloggen. Wonach sich das verselbstständigte und alles, alles, alles fiktionalisiert wurde. Es gab ein Leben als Bloggerin Melusine und ein anderes, mit Spiegelungen, Verzerrungen und Fantastereien. 

Aus dem Bloggen heraus entstand der Blog-Roman "Punk Pygmalion", der 2014 bei etk-Books veröffentlicht wurde. Und viele Begegnungen, Bekanntschaften, ja Freundschaften, die aus der digitalen Welt herüberschwappten in die analoge, dort eine andere Gestalt annahmen und sich teilweise auch vollständig von dieser lösten. 

Prioritäten verschieben sich; das Älterwerden  (damit verbunden: körperliche Einschränkungen und seelische Verwundungen) führt zu Energieverlusten; Zeiträume, um aufzutanken werden länger, auch die beruflichen Belastungen werden anders empfunden, schmerzhafter und sinnloser, die Kommunikation in "diesem Internet" zusehends hässlicher, die kleine, feine Blogger-Welt zusehends leerer, stiller. So auch hier, bei den Gleisbauarbeiten. 

Die Hoffnungen, dass eine neue Form von Öffentlichkeit entstehen möge, zerschlugen sich, zumindest für mich, ja, in vielerlei Hinsicht verwandelten sie sich in einen Alptraum. Dass eine ihre fiktive Welt braucht und in ihr lebt, das hat sich nicht geändert, wie sich das aber ausdrücken soll, wo "alternative Wahrheiten" Furore machen und Demokratien ins Wanken bringen, das ist noch nicht heraus. Sie, die das schreibt, liest also (wieder) Popper. 

Der ***Amazing*** und ***ich*** schrieben einen Krimi. Ganz klassisch. Ganz schlicht. "Realistisch" fast, ohne jede Fantastik. Eine faszinierende Erfahrung: Gemeinsam schreiben. Hätte ich gar nicht für möglich gehalten, wie das  - und wie gut - gehen kann. Stritten uns auch über Formulierungen und Charaktere, Plot-Wendungen und mehr. Jetzt ist er fertig. Und wir planen Fortsetzungen. Die Frankfurter Stadtviertel hindurch. 






DORNBUSCH

Unser Ermittler-Team aus der missmutigen Kerstin Semmelroth, einer Mittfünfzigerin, und dem ehrgeizigen Finn Martins, der Anfang 30 ist, muss sich am ersten gemeinsamen Arbeitstag zusammenraufen, um den Mord an der Rentnerin Gertrude Pander zu klären, die in ihrer Parterre-Wohnung im Frankfurter Stadtteil Dornbusch erschlagen worden ist. Sie finden heraus, dass nur ein Mitglied der Hausgemeinschaft den Mord begangen haben kann. Treppauf, treppab lernen sie die Mietparteien kennen: ein homosexuelles Paar aus dem Bildungsbürgertum, einen rechtsradikalen, verwahrlosten Incel, nette WG-Bewohner, einen Zahnarzt, der Schmerzmittel nimmt, den Sohn des Opfers, der ehemals eine große Hoffnung der Frankfurter Eintracht war, einen hektischen Agility Manager, eine Altergenossin der Semmelroth, die von Beruf geschieden ist und den schweigsamen Alper Özdemir, der alles im Haus mitbekommt. 

Was soll ich sagen? Unsere Ermittler lösen den Fall in Rekordzeit, weil Semmelroth verbissen und gemein ist und Martins sich geduldig an ihre Fersen heftet. 


Ab heute über all im Buchhandel und als E-Book.

Dornbusch

Der erste Fall für Semmelroth und Martins. Ein Frankfurt-Krimi

Paperback

234 Seiten

ISBN-13: 9783758325946

https://buchshop.bod.de/dornbusch-jan-pivecka-9783758325946

https://www.amazon.de/dp/B0CY9HL6TK/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=1WYGTA0LUS1I8&dib=eyJ2IjoiMSJ9.fVoYcLjx2sI4guObPTFqBcjBSfWw7mr01fMOte2bcrHaMIUqgZ_zRwHwO6jMQxy1.Bxu4YcGmbGXywTp4HQglrI9HYV2RKRlMLEwY-J6US40&dib_tag=se&keywords=pivecka&qid=1710752357&sprefix=pivecka%2Caps%2C93&sr=8-1







Montag, 10. September 2012

DUMME HIRNE: "Geht wandern!"

Im Land der Dichter und Denker breitet sich wieder mal die GERMAN ANGST aus. Diesmal ist es das böse Internet. "Eltern, nehmt den Kindern die Handys, Konsolen und Laptops weg. Lasst sie mit der Feder schreiben. Lehrt Kalligraphie. Glaubt an meine schönen Bilder vom Gehirn in bunten Farben und schrillen Tönen. Seht wie´s hier leuchtet und blinkt, wenn´s klickt und klackt. Ich aber sage Euch: Wer sich mit Bildern bildet, wird verblöden. Lest weiter nur Gedrucktes, ihr lieben Kinderlein. Wer zuckt, kriegt einen Tennis-Daumen. Besser färbt ihn mit Druckerschwärze ein. Die klügsten Köpfe verstecken sich ungesehen hinter ganz dicken Büchern." So und ähnlich tönt es aus den Talkshows, wo ein verkniffen und aufgeregt wirkender Herr spitz und spitzer die Eltern warnt und missionarisch drängt, die lieben Kleinen vorm neuen Teufelszeug zu schützen. Das bildungsbürgerliche Milieu, seit je von nichts mehr überzeugt, als dass der Bildungs- und Lebensweg sich durch gezielte Stimulationen, Motivationen und zur Not Dressur (Mozart-Beschallung für den geschwollenen Mutter-Leib, frühkindliches Chinesisch, Ballett für kleine Mädchen, Rugby für kleine Jungs, Nachhilfe spätestens ab Klasse 5) bestens planen lässt, hört begeistert zu und verschafft dem spitzzüngigen Herrn einen Bestseller-Erfolg. 

Der Amazing sagt beim Abendessen zum Mastermind: "Haste gesehen, wie geil die kleinen Cousins auf die Smartphone-Spiele sind?" "Richtig süchtig." Der Mastermind schüttelt weise sein Haupt. "Also, später mal, wenn ich welche habe, dann gehe ich mit denen wandern." Der Amazing ist erschüttert. "Nee. Das ist Folter." "Das ist Tradition", sagt der Mastermind. "Wir mussten das doch auch." "Und als wir so alt waren wie der E. und G., weißte noch, da durften wir nur eine Stunde am Tag Fernsehen gucken." "Und von wegen: Computer-Spiele. Das durften wir gar nicht." "Die Konsole durftest du dir erst mit 16 holen." Der Amazing schaut vorwurfsvoll zu den Eltern rüber, die ihre Köpfe tief über die Teller beugen. Wir haben versagt. Auf der ganzen Linie. Vielleicht. Wir glauben nicht daran, dass wir wissen, was kommt und was "man" können muss. Wir glauben auch nicht, dass wir unsere Kinder "machen". Wir sind gespannt, was kommt. Vielleicht hilft Wandern. Vielleicht nicht. "Heute Abend kommen der S. und der T. zum zocken in den Keller.", informiert uns der Amazing. "Wird spät."