Samstag, 30. Oktober 2010

FATALISMUS IST KEINE HALTUNG

„Frauen gebären, von vielen Vätern, viele Kinder in diesem Roman – und ebenso viele sterben wieder oder kommen tot oder als Fehlgeburten auf die Welt. Die Mütter trauern (und die Väter ein bisschen) – und dann geht das Leben weiter. Schicksale werden klaglos getragen. Man findet sich ab, akzeptiert. Haltung!“

So beschreibt in DieDschungel NO (hier:), was in „Die Kinder der Finsternis“  von Wolf von Niebelschütz geschieht. Ich kenne den Roman nicht, deshalb mag ich auch nicht dort kommentieren, wo es um das literarische Werk geht.

Aber „Haltung“, die den Kindstod als Schicksal „klaglos trägt“ – die Formulierung löst spontan in mir Wut und Schmerz aus. Ein Blick auf eine archaische Welt, der sich vom Herren-Standpunkt aus (damit meine ich jetzt nicht NO, der das nur – durchaus distanziert – beschreibt) ein Bild macht, das falscher nicht sein könnte. So viele Kinder kann eine Frau nicht gebären, dass sie deren Tod fatalistisch ertrüge, als wären es „Würfe“. Wahr ist: Es gab und gibt eine Kultur, in der Frauen zu Tode geschwängert werden von ihren Gatten. Ich komme aus einer solchen. In diesem protestantischen Milieu haben im 19. Jahrhundert die Pfarrer und andere ihre Frauen regelrecht als Gebärmaschinen „verbraucht“. Mein Ur-Großvater war so einer. 21 Kinder (legitime, vielleicht noch mehr) hat er gezeugt mit drei Frauen. Seine älteste Tochter Grete, fast 20 Jahre älter als ihr Bruder, mein Großvater, führte später die Familie mit eisernen Regiment. Ich habe in schwarzen Lackschühchen am Sonntag noch vor ihr gezittert. Die strikte Sexualmoral, die sie vertrat,--- erst später habe ich begriffen, dass die auch dem Schmerz entsprang, den sie gefühlt haben muss, als ihr Mutter, zwei Stiefmütter und Schwestern im Kindbett starben. Was Männer Frauen schwängernd taten, das konnte aus dieser Erfahrung mit Lust nichts zu tun haben, sondern war mörderisch. Es starben ihr noch als Säuglinge auch mehrere Geschwister und Halbgeschwister. Doch nichts spricht dafür, dass sie diese Tode stoisch hinnahm als unabänderliches Schicksal. 

Nur einem Herrenblick hätte ihre Verhärmtheit, ihr verschlossener Stolz, ihre versteifte Ehrpusseligkeit als Fatalismus erscheinen können. Dahinter steckte vielmehr die Entschlossenheit zu kämpfen, um jedes Kind, für das sie sich verantwortlich fühlte, um jede Frau, der sie Schwester, Tante, Mutter war, verbissen vielleicht, manchmal hoffnungslos, aber mit vollem Einsatz. Mein Vater, ein Zugereister, der die Machtstrukturen in dieser alten Bauernfamilie nie ganz begriff, hat heute noch Tränen in den Augen, wenn er erzählt, wie die fast 70jährige Grete mit wehenden Röcken (sie trug bis zu ihrem Tode die bodenlangen Kleider auf, die sie noch vor dem 1. Weltkrieg genäht hatte) durchs Dorf rannte, als sie erfuhr, dass die Tochter, die meine Mutter zwei Wochen zuvor geboren hatte, im Sterben lag. Sie wollte es nicht hinnehmen. Sie sorgte dafür, dass der Onkel einen alten Ami-Schlitten aus dem zur Garage umgewidmeten Stall fuhr, ein Auto, das sonst nur angeschaut und kaum je gefahren wurde, um das Kind in die Kreisstadt ins Krankenhaus zu fahren. Ich verdanke ihr mein Leben. Und Haltung.

14 Kommentare:

  1. ein bewegendes statement. und eine sehr nachvollziehbare haltung. "Kindstod als Schicksal „klaglos trägt“"- kann ich gar nicht nachvollziehen. allein schon deshalb, weil ich jede form von abschied wie ein kleines sterben empfinde.
    vielleicht ist eher damit gemeint, dass nach aussen hin bei manchen personen wenig bis gar keine worte (nie/mehr?) fallen, wenn abschiede sich haeufen. nicht jeder traegt das innere auf der zunge. manche schliessen das ganz fest in sich ein. der umgang mit schicksal und leid ist ja sehr individuell.

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  2. Gerade darum geht es: Dass es ein grausames Missverstehen aus Herrschaftsperspektive ist zu glauben, dass die, die ihren Schmerz nicht ausdrücken (d.h. in Worten oder Gesten zeigen) können, vielleicht gerade weil er sich wiederholt, diesen nicht mehr fühlen und gleichgültig wären. Ich bin zwischen solchen Menschen aufgewachsen, die alles tief in sich verschlossen. Sie litten stumm. Aber schwer. Das Wort "Schwermut", das vom medizinischen Begriff "Depression" abgelöst wurde, drückt das so viel besser aus. Auch viele Volkslieder singen davon (die leider bei uns nur zu oft mit der unsäglichen Volksmusik in einen Topf geworfen werden).

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  3. liebe melusine,

    lieber würde ich das thema mit ihnen ja mal bei einem kampfbier besprechen. das wäre sicherlich sinnvoller. aber ihre abermaligen genderschimpf-geschichten gehen mir schon (irgendwie) auf den geist, pardon. ich müsste das ja weder lesen noch kommentieren und auch ich bin durchaus ab und an rückwärtsgewandt. weil ich interesse daran habe, zu verstehen, am verstehen. aber nochmals aber: dieses mütter-gebähr dingens geht mir 1. entweder auf den geist (imfall sie gar nicht versuchen, daran etwas zu ändern wahrnehmungstechnisch und sich in ihrer unsäglichen gebährrolle wohlfühlen, an der - physiologisch, 'leider' und im positiven, aus männersicht - nichts zu ändern ist). oder 2., sie mögen doch bitte all jene männer/mithin väter (!) auch einmal wahrnehmen während ihrer furien, welche die rollen seit geraumen jahrzehnten, jahren und emanzipatorischen stundennull ganz andersartig wahrnehmen, ohne ebendiesen sogleich wiederum galant von hinten die geadelte MAMAkeule über die rübe (den kopf, das HERZ, den verstand usf.) zu ziehen.

    ich kenne einen haufen männer, die lust auf gefühle, kinder, liebe, sex, derben sex und eintracht haben, die jedoch niemals lust auf Macht hatten.

    ich bin mir sicher, die kennen sie auch. und ich bin mir ganz sicher, sie sind nicht in den frühen achtzigern stehengeblieben.

    allerdings habe ich natürlich auch keine ahnung, was sie alles erlebt haben. ich denke vorsichtig, darum nur kann's gehen.

    subjektiv, herzlich,
    schneck

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  4. Lieber Schneck08, so ganz klar ist mir nicht, worüber Sie sich hier aufregen. Im Text oben geht es gar nicht um (heutige) Männer, sondern es geht darum, wie von oben (aus Herrschaftsperspektive, das könnten Männer oder Frauen sein) auf das Leid von Armen geschaut wird. Und dass dann deren Erstarren als Fatalismus wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung kenne ich in der Tat. Die gibt es heute auch noch: Gerne stehen gut verdienende Wirtschaftsbosse mit Sektgläsern rum und sprechen darüber, dass die Ärmeren, mal den "Gürtel enger schnallen" müssen. Diese Haltung bekämpfe ich.
    Außerdem geht´s oben noch um ein bestimmtes Milieu (das protestantische), das ich auch gut kenne, in dem (das ist ein historischer Fakt!) Frauen zu Tode geschwängert wurden. Auch das haben die Betroffenen nicht fatalistisch hingenommen. Das wollte ich erzählen. Hätten Sie aufmerksam gelesen, wären Ihnen aufgefallen, dass die Geschichte von einem liebevollen Vater erzählt wird. Ich kenne viele gefühlvolle, liebevolle und herzliche Männer. Ich lebe mit denen. Auf dieser Seite veröffentlichen zwei Männer.

    Zur "Mama-Keule": Zu dem Thema habe ich, wenn ich es richtig sehe, aus zwei Gründen geschrieben: zum "Gebärmythos" in der Kunst, da beziehe ich mich immer auf Zitate, literarische Motive und Mythen, die ich nicht erfunden habe. Und in den Texten zum "Zugverkehr". Die rechtfertige ich nicht. Die sind irrational und sollen es sein.

    Die Formulierung "unsägliche gebährolle" finde ich abscheulich.

    Herzlichen Gruß

    M.

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  5. Dann scheine ich ja nächtens alles falsch verstanden zu haben.

    Schönen Sonntag!
    Ihr Schneck

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  6. Richtig ist (und vielleicht nervt Sie das - weiterhin???): Mich interessiert die Geschlechterdifferenz (das Gender-Thema, wenn Sie so wollen), aber nicht, um auf Männer einzudreschen (nur manchmal, weil ich halt auch zur Gewalt neige :-), ganz unweiblich!), sondern weil ich die Differenz verstehen und erhalten will. Ich will zwar Gleichberechtigung, aber keine Gleichheit. Das Thema hat auch mit Macht zu tun, selbstverständlich, aber keineswegs so simpel, dass Männer Macht haben und Frauen in Ohnmacht fallen. Auch die Schwäche kann ja machtvoll eingesetzt werden, zum Beispiel zur Erpressung. Ich verstehe mich als Differenz-Feministin, wenn Ihnen das was sagt. Da wiederum grenze ich mich gegen die Biologistinnen ab. Was mich interessiert ist Kultur, nicht die Hormone.

    Habe ich Sie jetzt wieder erfolgreich genervt? Tschuldigung.

    Auch Ihnen einen schönen Sonntag. Hier strahlt die Sonne. Und die Platanen schütteln ihr Laub ab. Drei Säcke sind schon voll.

    Melusine

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  7. Zum Ausgleich:
    Thomas Hetche: "Die Liebe der Väter".
    Von dieser Grete dürfen sie gar nicht aufhören zu erzählen!

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  8. Lieber Bücherblogger,
    ich weiß nicht, ob ich Hettches Buch lesen möchte (gegenwärtig kann ich es auch gar nicht, weil ich gerade Bräunigs Rummelplatz lese). Vielleicht ist es große Literatur. Aber der Titel ärgert mich. Der bestimmte Artikel. Und der Plural. Denn nach allem, was ich lese, geht es um das Versagen eines Vaters. Nicht alle Väter versagen in ihrer Liebe. Und ganz entgegen der Vermutung von Herrn Schneck bin ich eine, die gerade den Vater im Mann schätzt und ehrt, aus gutem Grund, denn ich kenne viele "gute" Väter. Nicht zuletzt den eigenen und den Vater meiner Kinder. Deshalb finde ich es anmaßend, ein solches Buch "D i e Liebe der Väter" zu nennen.

    Über Grete könnte ich vielleicht mehr erzählen, aber ich müsste eine andere Form dafür finden.

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  9. Liebe Melusine,

    eben lese ich „Fatalismus ist eine Haltung“. Sie haben da einen ergreifenden Text formuliert. Das ist wahr und echt und erschütternd, ich mag da gar nicht recht mit Literatur und Romanfiguren kommen, das ist alles so wenig wichtig dagegen.

    Sie haben recht, meine Formulierung ist sehr verknappt und daher trügerisch (das Archetypische bei Niebelschütz war eben nur e i n zu diskutierender Aspekt unter vielen in diesem Buch - und nicht mein wichtigster). Ich hole etwas weiter aus:

    Das S t e r b e n der Kinder bezog sich auch (sehr) auf die schon erwachsenen Sprösslinge, die im Zuge der Zeit – der Roman deckt ungefähr eine Zeitspanne von 60 Jahren und 3 – 4 Generationen ab - z.B. als Heerführer eingesetzt werden und in Kriegen fallen oder schlicht von Gegenspielern ermordet werden. Auch (erwachsene) Frauen übrigens (also z.B. werden Töchter des Markgrafen erdolcht oder Enkelinnen von Barral mit Pfeilen erschossen). Die Romanfiguren – ich finde keine bessere Formulierung im Moment – akzeptieren (notgedrungen). Aber die „Haltung“ der Romanfiguren zeigt sich auch bei anderen Schicksalsschlägen:

    Wenn Ehen zerbrechen, oder wenn Liebende wegen äußerer Umstände nicht heiraten können, oder Angehörige bei Unfällen oder Zweikämpgen umkommen, oder einer seinen Arm im Kampf verliert, oder Wasser eine Ebene überschwemmt. Die Figuren leiden durchaus – aber sie gehen weiter.

    Und eben auch beim „Kindstod“, ja. Auch der wird – von den Romanfiguren - nicht klaglos in dem Sinne hingenommen, dass nicht getrauert wird. Aber schon in dem Sinne, dass man daran nicht selber zugrunde geht, weil auch der Kindstod irgendwie zum Leben dazu gehört – jdf. in diesen wilden, ländlichen Gegenden dieses Romans, in der „Mauretanischen Mark“. Und aus der Perspektive der unaufgeklärten Mittelalter-Menschen in jener rauen Gegend, wie ANH zu Recht einwendet, wenn sich der Leser (ich also) an der Darstellung der Brutalität in dem Roman stört.

    Trotzdem irritiert der Roman insofern, das stimmt schon. Irgendwie habe ich Ihre schrecklichen Formulierungen von „Würfen“ und „als Gebärmaschinen verbraucht“ mitgedacht, als ich manche Passagen las. Auch wenn – das muss man (zur Ehrenrettung von Niebelschütz – wenn denn das bei Schriftstellern erforderlich ist) sagen – ein solches Bild vom Autor selber für keine Romanfigur gezeichnet wird. Für mich schwang das aber ein bisschen mit, daher vielleicht auch manchmal meine Irritation, meine Distanz.

    Ob das, was Sie so eindringlich beschreiben von Ihrer Familie, mit „Herrenblick“ richtig charakterisiert ist, vermag ich im Moment nicht zu sagen. Auch nicht, ob Niebelschütz wirklich „Ihren“ Herrenblick im Auge hatte. Fest steht mir, Ihre Schilderungen, liebe Melusine, hat für mich ähnliche Wucht und Kraft (darf man hier, wo es um die Wirklichkeit geht, sagen:
    P o e t i s c h e Kraft?) wie der Niebelschütz-Text.

    Herzlich

    NO

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  10. Lieber NO,

    Danke für diesen Kommentar, der sehr schön ist, aber auch etwas unverdient, glaube ich. Denn in einem hatte Schneck08 recht: Ich habe das in einem Furor geschrieben und vielleicht hätte ich manches anders formuliert, wenn ich länger nachgedacht hätte. Auch ich weiß nicht, ob der Ausdruck "Herrenblick" trifft. Was ich meine, ist eine Perspektive "von oben", die ein Leiden, das sich äußerlich nicht zeigt oder unmittelbar zu zeigen scheint, für nicht vorhanden oder allenfalls schwach annimmt.

    Sie schreiben jetzt über den Roman: "Die Figuren leiden durchaus – aber sie gehen weiter." Das verstehe ich. In dieses "Reiß-dich-zusammen" und "Es-muss-weitergehen" bin ich hinein geboren. Als Kind habe ich mit stummen Schaudern am Tisch gesessen und den Alten zugehört, wenn sich sich von den schrecklichsten Geschwüren erzählten, von Bein-Amputationen oder einem Erfrorenen, den einer gefunden hatte, und sie erzählten das ganz ohne Kommentar, am Ende nickten sie und drückten ihre Zigarren aus und sagten: "So gitt´s." Reihum. "So gitt´s" und manchmal fügte einer noch ein "So gitt´s halt." hinzu. Es klang, als fänden sie sich ab. Große Gefühle muss man sich leisten können, scheint es. Aber das ist eben nicht wahr: Das Leid geht nicht spurlos vorüber, auch nicht an denen, die sich das Leiden nicht leisten können. Etwas verhärtet sich oder wird weich geklopft.

    Tante Grete, die also, die durchs Dorf rannte mit wehenden Röcken, habe ich als Kind gefürchtet. Ich hasste die Sonntage, an denen wir vor ihr grade stehen mussten: Schleifchen im Haar, Lackschühchen glänzend. Und als Jugendliche habe ich (da war sie schon längst tot, aber der fromme Geist, den ihr Leid gestählt hatte, noch da) rebelliert gegen die Lust- und Freudfeindlichkeit dieser verbitterten Frömmigkeit, die überall nur das Böse und das Laster witterte. Ich musste alt werden, um zu verstehen (oder zu glauben, dass ich es verstehe), was sie erlitten hatte, um so zu werden.

    Ich habe Niebelschütz nicht gelesen. Er muss ein sehr guter Autor sein, sonst könnte sein Roman jemanden wie Sie nicht so bewegen. Vielleicht ist es aber doch ein bisschen so, dass die Erzählperspektive eine "von oben" ist (oder von "weiter vorn") hinunter oder zurück in grausame Zeiten und wilde Gegenden, wo Gewalt als Alltag hingenommen werde.

    Mein Großonkel Heine saß oft mit in der Runde, wenn die Männer Zigarre rauchten und vom Grauen erzählten und sagten: So gitt´s. Aber da war etwas in ihm, das konnte irgendwann nicht mehr weiter machen. Da hat er sich erhängt. Aber hätten Sie ihn vorher gesehen, den wuchtigen Mann, der sich bei der Arbeit zwei Finger abgeklemmt hatte, dann hätten Sie und jeder gesagt: Haltung.

    Herzlich

    Melusine

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  11. Liebe Melusine,

    vielleicht ist dieser 'Furor', den Sie gerade erwähnen, ja genau derjenige, den ich kurzfristig nächtens an den Tag legte, neulich. Der Furor gegen jene Altvorderen sowie die Angst, im Laufe des eigenen Erlebens die Seele sich ebenso abzuschleifen sowie die Angst davor, die so wertvollen Nuancen zu verlieren. Die Tatsache, dass Sie mir allzuviele Reizworte geliefert haben, ist (auch) meinem subjektiven Erleben der letzten drei Jahre geschuldet. Ich schrieb daher ja auch: "subjektiv"...

    Mehr kann ich dazu im Speziellen nicht sagen, da ich sämtliche erwähnten Bücher nicht kenne. Aber ich kenne viele Geschichten, auch noch aus erstem Munde, vom Lande, aus der großen Stadt, vom Kriege, die mit den Erkenntnissen der vermeintlich heutigen Zeit nichts mehr zu tun zu haben scheinen, so könnte man meinen.

    Heute Abend erst las die alte Dame (84) aus ihrem Aufsatzheft aus noch ostpreussischen Tagen vor, während der Kirschkern (10) und ich mit Buntstiften herumhantierten. Solche Momente empfinde ich als sehr wertvoll, wertvoller geht's eigentlich kaum.

    Insofern auch weiterhin herzlich,
    Schneck

    PS: Vielleicht sollte ich doch mehr, und öfters, Bücher lesen?

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  12. Lieber Schneck,

    das Buch von Niebelschütz habe ich selbst ja nicht gelesen.

    Diese alten Geschichten, von denen man meint, sie hätten nichts mehr mit uns zu tun, sind uns, davon bin ich fest überzeugt, in Körper und Geist eingeschrieben. Norbert Elias´ Buch "Über die Deutschen" hat mir mehr darüber erklärt, wie der Faschismus in diesem Land möglich wurde, als viele andere Studien.

    Ich habe hier im Blog vor einiger Zeit ein Buch besprochen, das mich sehr beeindruckte: "Unsereiner. Kriegsundführerkinder." von Heike Schmitz. Es erzählt die Geschichte "unserer" Eltern, der im oder kurz vor dem Krieg Geborenen. Es ist kein leicht zu lesendes Buch; die Sprache, dieser Sprüche klopfende Sog, ist sperrig. Aber ich habe in diesen Sprüchen viel eigene Kindheitserfahrung wieder gefunden.

    Es geht nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum zu verstehen. Das hilft nicht dazu, sich zu völlig "zu befreien." Aber es kann Spielräume eröffnen. Das ist viel.

    http://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2010/08/unsereiner-kriegsundfuhrerkindeskinder.html

    Herzliche Grüße
    Melusine

    PS. Aber: Man wird kein besserer Menschen, wenn man Bücher liest. Davon bin ich überzeugt. Das ist einer der Gründe, warum ich den "Vorleser" von Bernhard Schlink, der die gegenteilige These nahelegt, so wenig leiden mag.

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  13. Den Fatalismus als Haltung vermute ich schon - allerdings an anderer Stelle: in der "Herrensicht" nämlich. Als ich Ihren Beitrag las, liebe Melusine, erfasste mich eine schneidende Trauer. Mütter, die ihre Kinder vergehen sehen müssen, empfinden einen anderen Schmerz, als Väter. Viele Mütter vergingen selbst an den Folgen der Geburt. (zu Tode geschwängert, schrieben Sie - zu Tode geholfen, sage ich)

    Es waren Männer, die Frauen bei der Geburtshilfe ahnungslos vergifteten. Ärzte. Ehrenwerte Mitglieder der gesellschaftlichen Elite. Als einer von ihnen, Semmelweis, auf die Ursachen hinwies, wollte ihm kaum jemand zuhören, ja, er wurde sogar angefeindet. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das ist auch eine Haltung. Bevor das Beteiligtsein der geburtshelfenden Ärzte an vielen Sterbefällen allgemein anerkannt werden konnte, musste abwehrend von schicksalshaften Krankheitsverläufen gesprochen werden. Da kann man(n) nichts machen, "so gitt's halt". Von Herrschaften gesprochen. Das nenn' ich robusten Fatalismus. Aber es gab auch jene Ärzte damals, die Semmelweis verstanden und mit ihrer schlagartig begriffenen "Schuld" nicht anders umzugehen wussten, als sich das Leben zu nehmen. Es muss aber auch ebenso ausdrücklich gesagt werden, dass diese fatalistische Haltung entgegen besseres Wissen nur etwa eine Ärztegeneration überdauerte. Und genau das macht mir Mut. Gegen den "Semmelweis-Reflex" anzukämpfen, ihn auszusitzen, zu überdauern: das ist möglich.

    Auf anderer Ebene sind es heute die materiell (und in der langfristigen Folge auch seelisch) Bedürftigen, denen eine fatalistische Haltung abverlangt wird, nicht wahr? Von wem? Von den Herrschenden. Das veraltete "gesunde Volksempfinden" (im aktuellem Sprachgebrauch: die Leistungsträgermeinung) wird dahingehend instrumentalisiert, um die für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Verantwortlichen vor deren Gewissensbissen zu bewahren. Fatalismus als Haltung existiert. Er wird aus dem "Herrenblick" auch als angemessene Haltung den Abhängigen abverlangt.

    Was Sie über Ihren Großonkel Heine schrieben, geht mir in diesem Zusammenhang ganz besonders unter die Haut. Denn der verordnete Fatalismus fordert, keine Verursach(er)ungen zu suchen, sondern allen Quell erlittener Unbill in sich selbst zu glauben. So wird gewährleistet, dass sich niemand mit dem Leid des anderen ursächlich in Verbindung bringen muss. Ich verstehe Ihren Furor sehr gut.

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  14. Lieber Hans,

    auch ich habe an Semmelweis´ und den anfänglichen Widerstand gegen seine Erkenntnisse gedacht. Sie haben Recht: Es gibt auch Hoffnung. Der Tod im Kindsbett gehört weitgehend der Vergangenheit an.

    Ich glaube allerdings, dass der "Herrenblick" den Abhängigen und Armen die fatalistische Haltung nicht bewusst abverlangt. Es ist viel eher so, glaube ich beobachtet zu haben, dass dieser häufig als Familientradition anerzogene Blick mit fast milder Verachtung auf "die da unten" blickt, die eben "so sind". Das lässt sich dann durchaus mit etwas altruistischem Einsatz bei den - sagen wir - Rotariern vereinbaren.

    Als ich mein Studium aufnahm, setzte ich mich zu Anfang immer in die letzte Reihe. Man las Thomas Manns "Buddenbrooks" (ein großartiger Roman, by the way). Die Stelle wie Thomas mit den Arbeitern der Firma spricht. Und ich dachte: "So reden die mit u n s." Aber ich hätte das nie gesagt. Das "Wir", dem ich mich (noch) zugehörig fühlte, hatte ich ja gerade, indem ich Kunst und Literatur studierte, auch "verraten".

    Der Furor ist vielleicht verständlich. Aber er hilft nicht. Man kommt nicht weiter, indem man Schuldfragen stellt. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. Man muss Blickweisen ändern, Perspektiven ermöglichen und Bewegung inszenieren. Ich habe in einem anderen Kommentar geschrieben, dass ich nicht glaube, dass jemand durch Literatur zu einem besseren Menschen werden kann. Aber vielleicht zu einem, der mehr Verschiedenes versteht. Und vielleicht kann mehr Verständnis letztlich auch die Welt "besser" machen. Das kann man hoffen.

    Herzlich
    Melusine

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