Montag, 15. November 2010

IT AIN´T NO USE TO SIT AND WONDER WHY, BABE

Die Zukunft vergessen

von MOREL

Im Zug zurück in den Vorort träumt Don Draper ein wenig vor sich hin: Er werde doch mit Betty und den Kindern zu den Schwiegereltern fahren. Ein wenig Entspannung täte ihm sicherlich gut. Als er zu Hause ankommt, ist alles dunkel: Betty ist schon unterwegs zu ihren Eltern. Don sitzt alleine auf der Treppe, vor sich hin starrend, im Jahr 1960, während im Hintergrund eine Stimme zu hören ist, die erst in drei Jahren auf Schallplatte gepresst wird: „Well, it ain’t no use to sit and wonder why, babe“. So beginnt Don’t think twice, it’s all right von Bob Dylan. Dieser Einspruch der Zukunft gegen die Gegenwart prägt die Fernsehserie Mad Men (deren erste Staffel mit dieser Szene endet) und hebt sie weit über den vermeintlichen Retro-Chic hinaus, der ihre Rezeption teilweise prägt (so herrlich chauvinistisch die Sprüche und hier darf ja sogar noch geraucht werden usw.). Die Mad Men von der Werbeagentur sind schon obsolet, bevor sie den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht haben. Nostalgie ist eben nicht nur Sehnsucht nach der Vergangenheit, sondern der Wunsch, die Zukunft zu vergessen. Was wollte mir diese unverständlich murmelnde Stimme noch einmal sagen?

*

Genau zuhören kann man Dylan jetzt auf den im Oktober erschienenen Witmark-Demos. Witmark war ein Musikverlag, der mit Songrechten handelte. Normalerweise wurden diese Songs von professionellen Komponisten und Textern verfasst (der ausgezeichnete Film Grace of My Heart von Allison Anders erzählt von dieser Branche, die in New York im legendären Brill-Building zu Hause war). Dylan war eine Ausnahme als Sänger seiner eigenen Songs. So eigen nun aber auch wieder nicht. Bei vielen Songs bedient er sich bei von anderen Künstlern arrangierten Folksongs. Wie ein Schwamm saugt er auf, was ihn umgibt: Riffs vergessener Bluessänger, Kneipengespräche, Zeitungsschlagzeilen und hundert Jahre alte Legenden. Nichts ist neu und trotzdem klingt alles so, als sei es zum ersten Mal zu hören. Besonders in den Witmark-Demos, die Dylan allein im Studio aufnahm, damit sie dann anderen Sängern vorgespielt wurden. Auf Blowing in the wind hustet er. Andere Songs bricht er ab. Von der vermeintlich schlechten Stimme gibt es viele Varianten: bluesig-heiser, rotzig-aggressiv, verhalten-schüchtern. Einige Songs wurden von ihm nie wieder aufgenommen. Höhepunkte: das böse I’d hate to be you on that dreadful day, das traurige Tomorrow is a long time und Guess I’m doing fine, ein lakonischer Rückblick auf ein Leben, das noch gar nicht begonnen hat. Dylans Verhältnis zur Vergangenheit ist also alles andere als nostalgisch: die vergessenen Folk- und Bluessongs, die er sich anverwandelt, stehen quer zur formatierten Gesellschaft mit ihren in der Madison Avenue Don Drapers vorfabrizierten Lebensläufen. Sie öffnen eine Tür, durch die nicht nur die Geister der Vergangenheit in die Gegenwart eindringen.

*

Sechs Jahre später und einen Motorradunfall weiser versucht Dylan die Tür wieder zu schließen. Aber andere dringen nun nach: Nachahmer, Fälscher und Fans. Zwei dieser Fans sitzen an einem warmen Spätherbsttag im Washington Square Park im Greenwich Village, wo Dylans Karriere begann. Ein älteres Ehepaar schaut die beiden in ihren Hippie-Klamotten mit offenem Mund an. Sie, leicht amüsiert, schlägt vor, ein Foto zu machen. Er: „Ach komm, das sind doch nur Kids.“ Just Kids, so der Titel der Erinnerungen von Patti Smith an ihre Zeit mit Robert Mapplethorpe. Vielleicht ist es ihre Spritzen-Phobie, die intensivere Drogenerfahrungen verhinderte, aber Pattis Smith erinnert sich so genau an diese ersten Jahre in New York, dass man sie als Gegenbild zu Don Draper lesen kann: sie hat keine Vergangenheit, die der Rede wert wäre (Erinnerungen an eine Kindheit in Chicago, mit warmherzigen, verständnisvollen Eltern, die wenig Geld aber Verstand hatten); in der Gegenwart ist sie nichts (ein immer hungriges Mädchen, das in der Mittagspause Gedichte schreibt); die Zukunft aber gehört Kids wie ihr, davon ist sie überzeugt (ob als Poetin, Malerin oder Rockstar, irgendwas wird sich immer finden). Glücklich die Zeiten, in denen die Zukunft noch unbekannt ist. 


Mad Men: Season 1 € 17,95
Bob Dylan: The Witmark Demos, 1962- 1964, Edition de luxe  € 51,00
Bob Dylan: The Original Mono Recordings € 59,00
Patti Smith: Just Kids € 13,95

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen